Rosa Luxemburg


Brennende Zeitfragen


III
Stockholm

Wenn die erste Vorbedingung für die Wiedererstehung des internationalen Sozialismus die Abrechnung in allen Ländern mit der Politik des 4. August und die Rückkehr zum aktiven Klassenkampf ist, so ist die Stockholmer Konferenz mit ihrem Drum und Dran das sicherste Mittel, dies zu verhindern. Die Abkehr vom Regierungssozialismus hat zur Voraussetzung einen gründlichen und durchgreifenden Prozeß der Selbstkritik, der Klärung und der Abgrenzung der wirklichen sozialistischen Elemente von der unter sozialistischem Deckmantel betriebenen bürgerlichen Politik. Dieser Prozeß, der bereits in allen Ländern eingesetzt und gewisse Fortschritte gemacht hat, der aber noch im großen und ganzen erst in den Anfängen begriffen ist, wird nun durch die Stockholmer „Beratungen“ wieder völlig unterbunden. Hier finden sich unter einer gemeinsamen Parole des Friedens und in gemeinsamer Arbeit an dessen Vorbereitung die heterogensten Elemente und Tendenzen zusammen. Sozialimperialisten der Scheidemannschen Richtung und Opposition der Haase-Ledebourschen Observanz, Kriegshetzer und Anhänger des schrankenlosen U-Boot-Krieges [5] von der deutschen Generalkommission der Gewerkschaften und Vertreter des russischen Arbeiter- und Soldatenrats, sozialistische Minister in bürgerlichen und imperialistischen Regierungen à la Stauning und Albert Thomas und sozialistische Minister im Revolutionsausschuß, Minderheitssozialisten der Ententeländer und Mehrheitssozialisten der Mittelmächte, Spekulationen der deutschen Regierung und lavageborene Losungen der russischen Revolution begegnen sich hier in einem großen Kuddelmuddel, in einer heillosen Verwirrung, wo jede Klärung und Scheidung hoffnungslos in dem Humbug der „Friedensvorbereitung“ untergeht. Was durch dieses Durcheinander in Wirklichkeit vorbereitet wird, ist nicht der Friede, sondern die gegenseitige Aussöhnung zwischen den „neutralen“ und „kriegführenden“ Sozialisten, die gegenseitige Absolution und allgemeine Amnestie für begangene Sünden und die Wiederherstellung der früheren Internationale als eines Toleranzhauses für sozialistischen Verrat. Die Opposition der Haase-Kautskyschen Richtung, die hier wie stets die dauernden grundsätzlichen Interessen des Sozialismus der just vor der Nase liegenden Opportunitätsrücksicht zu opfern bereit ist, jagt jetzt blindlings dem faszinierenden Phantom des „Friedens“ nach und ist ihm zuliebe bereit, „an jeder Konferenz teilzunehmen“, mit dem Teufel und dem Beelzebub gemeinsam „Frieden“ zu machen, versteht sich wohl, unter wortreichen „Verwahrungen“ und „Vorbehalten“ gegen den Regierungssozialismus, die aufs Haar soviel Bedeutung haben wie die berühmten „Vorbehalte“ prinzipiellen Charakters bei gleichzeitiger Abstimmung für das Budget oder die Kriegskredite. Die Tatsache an sich, daß Regierungssozialisten aller Länder, d. h. Leute, die in Wirklichkeit den Krieg machen, zur gemeinsamen „Friedensaktion“ zugelassen werden, verwandelt diese ganze Aktion in eine würdige Fortsetzung der in der Kriegspolitik des 4. August seit drei Jahren betriebenen Prostitution des Sozialismus. Das unmittelbare Ergebnis des Stockholmer Humbugs aber ist eine neue verhängnisvolle Irreführung der Massen, die, statt daß sie immer wieder die eigene revolutionäre Aktion in allen Ländern als den einzigen wirklichen Friedensfaktor begreifen lernen, umgekehrt mit Hoffen und Harren auf das Geschwätz ihrer sogenannten Führer in Stockholm, auf die „Denkschriften“, „Verhandlungen“ und „Verständigungen“ von ein paar Dutzend Wichtigtuern abgespeist werden, die nichts in Wirklichkeit vertreten als das heulende Elend ihres politischen Bankerotts in den eigenen Ländern. So werden die Arbeitermassen Europas wieder einmal von dem Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit und von der eigenen Initiative abgelenkt und in Passivität eingelullt.

Doch damit nicht genug. Inhaltlich hat sich die Stockholmer Friedensfarce – und hier liegt ihr Schwerpunkt – zu einer freiwilligen Vorarbeit für den künftigen Diplomatenkongreß der Regierungen gestaltet. Sozialistische Friedensarbeit wird hier in Unterhandlungen über die künftige Staatenkarte Europas, über die Frage der Annexionen, Kriegsentschädigungen usw. bestehen. Statt die Aufgaben des Klassenkampfes, die Mittel und Wege zur Herbeiführung des Friedens durch eigene Aktion des Proletariats zu erörtern, statt ein Programm für die Gestaltung der sozialen und politischen Verhältnisse durch das revolutionäre Proletariat im Sinne des Sozialismus zu schaffen, wird hier von Vertretern des Proletariats Handlangerarbeit für die Bourgeoisie geleistet werden. Sozialisten schicken sich hier an, im Schweiße des Angesichts die Verständigung zwischen kapitalistischen Regierungen vorzubereiten, in voller Blindheit für die Tatsache, daß jeder „Verständigungsfriede“ der heutigen Regierungen ein Friede und eine Verständigung gegen das Proletariat und auf seine Kosten, ein Handel sein muß, bei dem seine Haut zu Markte getragen wird.

Was bei der Stockholmer Mache äußerlich den Schein einer sozialistischen Politik hervorrufen hilft und deshalb zur Irreführung der Massen am meisten beiträgt, ist die vom russischen Arbeiter- und Soldatenrat aufgebrachte Formel: Friede ohne Annexionen und Entschädigungen auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Nationen.

Bei dem russischen Proletariat liegt das Schwergewicht natürlich nicht in dieser Formel, sondern in der Tatsache, daß es der Bourgeoisie seines Landes überhaupt seine eigene Friedenspolitik aufgezwungen hat. In Rußland ist die vollzogene Revolution und die Machtstellung der sozialistischen Arbeiterschaft, die hinter jener Friedensformel steht, der wirkliche Friedensfaktor.

Was die Zauberformel an sich betrifft, die im übrigen Europa von den Sozialisten mit Jubel aufgegriffen worden ist, so hat sie mit sozialistischer Politik nicht das geringste zu tun. Sie ist die Formel eines negativen Ergebnisses des Weltkrieges, einer fehlgeschlagenen, unentschiedenen Kraftprobe des Imperialismus, sie ist die Formel der für später aufgeschobenen Entscheidung, der Erholungspause der Militärmächte bis zum nächsten Tanz. Diese Formel entspricht auch tatsächlich in erster Linie der heutigen Lage und den Bedürfnissen des deutschen Imperialismus, der bereits eingesehen hat, daß er diesmal seine Weltherrschaftspläne nicht wird durchsetzen können, und nur darauf bedacht ist, sich so bald als möglich aus der Patsche zu ziehen. Die Ententeregierungen, die noch auf entscheidenden militärischen Erfolg hoffen, wollen von dieser Formel einstweilen nichts wissen. Bei der tatsächlichen Unlösbarkeit des blutigen Streites auf militärischem Wege entspricht jedoch die Formel „Keine Annexionen, keine Entschädigungen“ objektiv den Interessen der herrschenden Klassen aller Länder und führt in ihrem positiven Inhalt zur Wiederherstellung des Status quo. Was bedeutet aber die Rückkehr zum Zustand vor dem Kriege? Es ist die Wiederherstellung der Machtverhältnisse vor Ausbruch des Weltkrieges, also Wiederherstellung der alten Staatsgrenzen, d. h. der alten Annexionen, der früheren Kolonialbesitzungen, der früheren Hegemonie der großen Militärstaaten, ihrer früheren ökonomischen Herrschaft über die „Interessensphären“, kurz, die Wiederherstellung der ganzen durch eine lange Kette früherer Kriege und der jüngsten imperialistischen Entwicklung geschaffenen Zustände. Und dieser Status quo schließt zusammen mit alten Staatengrenzen und alten Machtverhältnissen nach außen selbstverständlich die alten Machtverhältnisse im Innern: die bürgerliche Klassenherrschaft, den kapitalistischen Staat und den Imperialismus als allbeherrschende Macht, als allgemeine Grundlage ein.

Dies ist der positive Inhalt der bezaubernden negativen Formel. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier sozialistische Parteien auf ihre Fahne eine Friedensformel als die ihrige schreiben, die nichts anderes bedeutet als die einfache Konservierung und Neubefestigung der kapitalistischen Klassenherrschaft, als die Schaffung eines Modus vivendi für den außer Rand und Band geratenen Imperialismus, diese Selbstverständlichkeit ist bezeichnend für die himmelschreiende Verwirrung der Begriffe, die seit Ausbruch des Krieges in sozialistischen Kreisen aller Länder Platz gegriffen hat. In Wirklichkeit ist die Stockholmer „Friedensvorbereitung“ unter der Losung „Keine Annexionen, keine Entschädigungen“ eine direkte Fortsetzung der Politik des 4. August, d. h. der Abdankung des Proletariats als eine Klasse mit eigener Politik und Aktion, Fortsetzung der Handlangerdienste an die herrschenden Klassen und an den Imperialismus.

Freilich, diese Losung ist von den Russen in einen sehr radikal und sozialistisch klingenden Grundsatz eingewickelt: Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Hierin soll angeblich das Neue, das Demokratische in der wiederherzustellenden Ordnung der Dinge bestehen. Allein es genügt, die einfache Frage nach der praktischen Durchführbarkeit dieses Grundsatzes zu stellen, um ihn als hohle Phrase zu entlarven. Wie und für wen soll denn die Selbstbestimmung der Nationen jetzt beim Friedensschluß verwirklicht werden? Nur für die Völker der gegenwärtig militärisch besetzten Gebiete? Das hieße ja den ganzen früheren unter der Herrschaft des Kapitalismus begangenen Länderraub, seine ganze Schacher- und Kolonialpolitik heiligsprechen, deren Opfer vom Grundsatz der Selbstbestimmung ausschließen! Oder sollen nunmehr sämtliche unterdrückte, annektierte Nationen und Länder der Erde in allen Staaten über die von ihnen erwünschten Schicksale befragt und zur Abstimmungsurne geführt werden? Wer solches von den heutigen Regierungen erwartet oder ihnen solches zumutet, müßte erst auf seine geistige Zurechnungsfähigkeit untersucht werden – abgesehen davon, daß die ganze Idee der „Abstimmungen“ von Nationen über die Frage ihrer Staatszugehörigkeit an sich ein Hirngespinst ist, das mit Klassengegensätzen und tausend anderen realen Tatsachen gar nicht rechnet.

Mit dem Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen wird hier von Sozialisten ebenso grober Unfug getrieben, wie ihn die kapitalistischen Regierungen mit der „Befreiung der Nationen“ und mit der „Landesverteidigung“ treiben. Sowenig wie ein imperialistischer Krieg Landesverteidigung oder Befreiung der Nationen ist, genausowenig läßt sich das Selbstbestimmungsrecht der Nationen im Rahmen und unter der Herrschaft kapitalistischer Staaten verwirklichen. Die einzige reale Voraussetzung für die Selbstbestimmung der Nationen ist die sozialistische Revolution, d. h. die politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung der arbeitenden Klassen als der eigentlichen Masse in jeder Nation. Solange hingegen kapitalistische Klassenherrschaft besteht – und der Kern der Friedensformel „Keine Annexionen, keine Entschädigungen“ geht ja gerade von der Unerschütterlichkeit dieser Klassenherrschaft aus –, bleibt die Selbstbestimmung der Nationen eine plumpe Mystifikation, die gerade gut genug ist, um die proletarischen Massen aller Nationen irrezuführen.

In der Tat begegnen sich im Nebel dieser Phrase die Ententeregierungen, die ja „kleine Nationen“ zu beschützen vorgeben und nur um ihrer willen das Völkermorden fortsetzen, Präsident Wilson, der ausschließlich für die Rechte der Nationen die Vereinigten Staaten im Auftrage seiner Kapitalmagnaten in den Krieg gestürzt hat, Miljukow, der liberale Schwärmer und Poet des russischen Imperialismus, Kautsky, der Ersatztheoretiker der Haaseschen Ersatzopposition, Scheidemann, der gewesene Laufbursche Bethmann Hollwegs und sämtliche schlechte Musikanten des Sozialismus in den neutralen Ländern.

Gewiß, auch der russische Arbeiter- und Soldatenrat, auch die russischen sozialistischen Parteien! Allein, wenn je, so gilt hier der Satz: Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe. Das russische Proletariat hat seine Schuldigkeit getan und tut sie weiter, es hat seine Friedenspolitik in die Tat umgesetzt, indem es Revolution gemacht hat, und ist dabei, im eigenen Hause das Heft in die Hände zu nehmen. Mehr kann es für den Frieden nicht tun, denn nun haben die Proletariermassen anderer Länder das Wort. Solange diese sich nicht rühren, vielmehr unter dem Kommando des Imperialismus unerschütterlich weiter hungern, morden und sich morden lassen, bleibt dem russischen Proletariat eben nichts anderes übrig, als sich im Zirkel unlösbarer Widersprüche zu drehen und sich an Strohhalme einer sozialistisch schillernden Phraseologie zu klammern. Der wirklichen sozialistischen Friedenspolitik entspricht der erste Aufruf des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrats An die Völker der ganzen Welt vom 27. März. [6] Die jetzige Friedensformel ist nur die Konzession der russischen Arbeiterklasse an die traurige Tatsache, daß jener Aufruf bislang eine Stimme in der Wüste geblieben ist.

Anmerkungen

5. Deutschland eröffnete am 1. Februar den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, durch den alle Schiffe in einem festgelegten Seegebiet um England und Frankreich durch warnungslose Torpedierung bedroht wurden.

6. Der Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat hatte in einem Aufruf am 27. März 1917 die Völker der ganzen Welt aufgefordert, die Entscheidung über Krieg und Frieden in die eigenen Hände zu nehmen und gemeinsame Aktionen für den Frieden durchzuführen. Das deutsche Proletariat wurde insbesondere aufgefordert, das Joch des Absolutismus abzuschütteln und sich nicht mehr für den Krieg mißbrauchen zu lassen.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012