Rosa Luxemburg


Die Theorie und die Praxis


IV [1*]

Im Lichte der Konsequenzen, die sich aus der neuesten Theorie des Genossen Kautsky ergeben, kommt erst deutlich zutage, wie sehr diese Theorie von Grund aus verfehlt ist. Die in der Geschichte der modernen Klassenkämpfe beispiellose Massenstreikaktion des russischen Proletariats aus der sozialen Rückständigkeit Rußlands ableiten heißt mit anderen Worten die hervorragende Bedeutung, die führende Rolle des städtischen großindustriellen Proletariats in der russischen Revolution durch die „Rückständigkeit“ Rußlands erklären, heißt also die Dinge direkt auf den Kopf stellen. Es war nicht die ökonomische Zurückgebliebenhejt sondern gerade die hohe Entwicklung des Kapitalismus, der modernen Industrie und des Verkehrs in Rußland, was jene grandiose Massenstreikaktion ermöglicht und bedingt hat. Nur weil das städtische Industrieproletariat in Rußland bereits so zahlreich, in großen Zentren zusammengefaßt, von dem Klassenbewußtsein so stark ergriffen, nur weil der echt moderne kapitalistische Gegensatz so weit gediehen war, konnte der Kampf um die politische Freiheit in entschlossener Weise nur von diesem Proletariat geführt, als solcher aber kein reiner Verfassungskampf nach liberalem Rezept, sondern ein echter moderner Klassenkampf in seiner ganzen Breite und Tiefe werden, in dem sowohl um ökonomische wie um politische Interessen der Arbeiter gestritten wurde, gegen das Kapital wie gegen den Zarismus, um den Achtstundentag wie um die demokratische Verfassung. Und nur weil die kapitalistische Industrie und die mit ihr verbundenen modernen Verkehrsmittel bereits zur Existenzbedingung des wirtschaftlichen Lebens des Staates geworden, konnten die Massenstreiks des Proletariats in Rußland eine so erschütternde, ausschlaggebende Wirkung erzielen, daß die Revolution mit ihnen ihre Siege feierte und mit ihnen unterlag und verstummte.

Ich finde momentan keine genauere Formulierung derjenigen Momente, auf die es hier ankommt, als die ich schon einmal in meiner Schrift über den Massenstreik aus dem Jahre 1906 gegeben:

Wir haben gesehen – schrieb ich dort –, daß der Massenstreik in Rußland nicht ein künstliches Produkt einer absichtlichen Taktik der Sozialdemokratie, sondern eine natürliche geschichtliche Erscheinung auf dem Boden der jetzigen Revolution darstellt. Welches sind nun die Momente, die in Rußland diese neue Erscheinungsform der Revolution hervorgebracht haben?

Die russische Revolution hat zur nächsten Aufgabe die Beseitigung des Absolutismus und die Herstellung eines modernen bürgerlich-parlamentarischen Rechtsstaates. Formal ist es genau dieselbe Aufgabe, die in Deutschland der Märzrevolution, in Frankreich der großen Revolution am Ausgang des 18. Jahrhunderts bevorstand. Allein die Verhältnisse, das geschichtliche Milieu, in dem diese formal analogen Revolutionen stattfanden, sind grundverschieden von den heutigen Rußlands. Das Entscheidende ist der Umstand, daß zwischen jenen bürgerlichen Revolutionen des Westens und der heutigen bürgerlichen Revolution im Osten der ganze Zyklus der kapitalistischen Entwicklung abgelaufen ist. Und zwar hatte diese Entwicklung nicht bloß die westeuropäischen Länder, sondern auch das absolutistische Rußland ergriffen. Die Großindustrie mit allen ihren Konsequenzen, der modernen Klassenscheidung, den schroffen sozialen Kontrasten, dem modernen Großstadtleben und dem modernen Proletariat, ist in Rußland die herrschende, d. h. in der sozialen Entwicklung ausschlaggebende Produktionsform geworden. Daraus hat sich aber die merkwürdige, widerspruchsvolle geschichtliche Situation ergeben, daß die nach ihren formalen Aufgaben bürgerliche Revolution in erster Reihe von einem modernen, klassenbewußten Proletariat ausgeführt wird und in einem internationalen Milieu, das im Zeichen des Verfalls der bürgerlichen Demokratie steht. Nicht die Bourgeoisie ist jetzt das führende, revolutionäre Element, wie in den früheren Revolutionen des Westens, während die proletarische Masse, aufgelöst im Kleinbürgertum, der Bourgeoisie Heerbanndienste leistet, sondern umgekehrt, das klassenbewußte Proletariat ist das führende und treibende Element, während die groß- bürgerlichen Schichten teils direkt konterrevolutionär, teils schwächlich- liberal und nur das ländliche Kleinbürgertum nebst der städtischen kleinbürgerlichen Intelligenz entschieden oppositionell, ja revolutionär gesinnt sind. Das russische Proletariat aber, das dermaßen zurführenden Rolle in der bürgerlichen Revolution bestimmt ist, tritt, selbst frei von allen Illusionen der bürgerlichen Demokratie, dafür mit einem stark entwickelten Bewußtseib der eigenen spezifischen Klasseninteressen bei einem scharf zugespitzten Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit in den Kampf. Dieses widerspruchsvolle Verhältnis findet seinen Ausdruck in der Tatsache, daß in dieser formal bürgerlichen Revolution der Gegensatz der bürgerlichen Gesellschaft zum Absolutismus von dem Gegensatz des Proletariats zur bürgerlichen Gesellschaft beherrscht wird, daß der Kampf des Proletariats sich mit gleicher Kraft gleichzeitig gegen den Absolutismus und gegen die kapitalistische Ausbeutung richtet, daß das Programm der revolutionären Kämpfe mit gleichem Nachdruck auf die politische Freiheit und auf die Eroberung des Achtstundentages sowie einer menschenwürdigen materiellen Existenz für das Proletariat gerichtet ist. Dieser zwiespältige Charakter der russischen Revolution äußert sich in jener innigen Verbindung und Wechselwirkung des ökonomischen mit dem politischen Kampf, die wir an der Hand der Vorgänge in Rußland kennengelernt haben und die ihren entsprechenden Ausdruck eben im Massenstreik findet ...

So erweist sich der Massenstreik also nicht als ein spezifisch russisches, aus dem Absolutismus entsprungenes Produkt, sondern als eine allgemeine Form des proletarischen Klassenkampf es, die sich aus dem gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Entwicklung und der Klassenverbältnisse ergibt. Die drei bürgerlichen Revolutionen: die Große Französische, die deutsche Märzrevolution und die jetzige russische, bilden von diesem Standpunkt eine Kette der fortlaufenden Entwicklung, in der sich das Glück und Ende des kapitalistischen Jahrhunderts spiegelt... Die heutige Revolution realisiert somit in der besonderen Angelegenheit des absolutistischen Rußland zugleich die allgemeinen Resultate der internationalen kapitalistischen Entwicklung und erscheint weniger ein letzter Nachläufer der alten bürgerlichen als ein Vorläufer der neuen Serie der proletarischen Revolutionen des Westens. Das zurückgebliebenste Land weist, gerade weil es sich mit seiner bürgerlichen Revolution so unverzeihlich verspätet hat, Wege und Methoden des weiteren Klassenkampf es dem Proletariat Deutschlands und der vorgescbrittensten kapitalistischen Länder. [2]

Aus derselben historischen Perspektive betrachtete früher auch Genosse Kautsky die russische Revolution. Im Dezember 1906 schrieb er in vollkommener Übereinstimmung mit meiner Auffassung:

Wir dürften der russischen Revolution und den Aufgaben, die sie uns stellt, am ehesten dann gerecht werden, wenn wir sie weder als bürgerliche Revolution im herkömmlichen Sinne noch auch als sozialistische betrachten, sondern als einen ganz eigenartigen Prozeß, der sich an der Grenzscheide zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaft vollzieht, die Auflösung der einen fördert, die Bildung der anderen vorbereitet und auf jeden Fall die ganze Menschheit der kapitalistischen Zivilisation um ein gewaltiges Stück in ihrem Entwicklungsgang vorwärts bringt. [2*]

Faßt man aber so die wirklichen sozialen und historischen Bedingungen, die der Massenstreikaktion, der spezifischen neuen Kampfform der russischen Revolution, zugrunde liegen – und eine andere Auffassung ist nicht gut möglich, wenn man sich nicht den tatsächlichen Verlauf dieser Aktion frei aus der Luft zusammenphantasiert, wie Genosse Kautsky dies jetzt mit seinen „amorphen, primitiven Streiks“ tut – dann wird es klar, daß die Massenstreiks als Form der revolutionären Kämpfe des Proletariats für Westeuropa noch mehr in Betracht kommen als in Rußland, in dem Maße, wie der Kapitalismus in Deutschland zum Beispiel viel höher entwickelt ist.

Gerade alle die Bedingungen, die Genosse Kautsky gegen den politischen Massenstreik ins Feld führt, sind ebenso viele Momente, die die Massenstreikaktion in Deutschland noch viel unvermeidlicher, umfangreicher und gewaltiger machen müssen.

Die trotzige Macht der Unternehmerverbände, auf die sich Genosse Kautsky jetzt beruft und die „ihresgleichen sucht“, sowie der Kadavergehorsam, in dem die enorme Kategorie der Staatsarbeiter in Deutschland gehalten wird, sind es ja gerade, die eine ruhige, ersprießliche Gewerkschaftsaktion für das Gros des Proletariats in Deutschland immer schwieriger machen, immer gewaltigere Kraftproben, Explosionen auf wirtschaftlichem Gebiet provozieren, deren elementarer Charakter wie Massenumfang je länger, je mehr politische Bedeutung annehmen.

Gerade die politische Isolierung des Proletariats in Deutschland, auf die sich Genosse Kautsky beruft, gerade die Tatsache, daß die gesamte Bourgeoisie bis ins Kleinbürgertum hinein wie eine Mauer hinter der Regierung steht, bringt es mit sich, daß jeder große politische Kampf gegen die Regierung sich zugleich zum Kampfe gegen die Bourgeoisie, gegen die Ausbeutung gestaltet. Und dieselben Umstände bürgen uns dafür, daß jede energische revolutionäre Massenaktion in Deutschland nicht die parlamentarischen Formen des Liberalismus oder die ehemaligen Kampfformen des revolutionären Kleinbürgertums, die der kurzen Barrikadenschlacht, sondern die klassische proletarische Form, die des Massenstreiks, annehmen wird.

Und endlich gerade weil wir in Deutschland „ein halbes Jahrhundert sozialistischer Aufklärung und politischer Freiheit“ hinter uns haben, muß die Aktion des Proletariats, sobald die Situation so weit reif ist, daß die Massen auf dem Plan erscheinen, aus Anlaß jedes politischen Kampfes alle veralteten Rechnungen mit der privaten und staatlichen Ausbeutung aufrollen und dem politischen einen wirtschaftlichen Massenkampf zugesellen. Denn, schrieb Genosse Kautsky im Jahre 1907,

wir haben auch nicht den mindesten Grund, anzunehmen, daß der Grad der Ausbeutung des deutschen Proletariats ein geringerer sei als in Rußland. Im Gegenteil, wir haben gesehen, daß mit dem Fortschreiten des Kapitalismus die Ausbeutung des Proletariats steigt. Ist der deutsche Arbeiter vielfach noch besser gestellt als der russische, so ist dafür die Produktivität seiner Arbeit auch eine viel größere und sind seine Bedürfnisse entsprechend der allgemeinen Lebenshaltung der Nation viel höhere, so daß der deutsche Arbeiter das kapitalistische Joch vielleicht noch schmerzlicher empfindet als der russische. [3*]

Genosse Kautsky, der jetzt so farbenprächtig ausmalt, wie der deutsche Arbeiter mit „Vereinen, Versammlungen, Wahlen aller Art vollauf beschäftigt“ ist, hat in diesem Moment die ganzen enormen Sklavenscharen der preußisch-deutschen Staatsarbeiter, der Eisenbahner, der Postangestellten sowie der Landarbeiter vergessen, die leider in sehr geringem Maße das Vergnügen haben, von „Vereinen, Versammlungen und Wahlen aller Art“ beschäftigt zu sein, dieweil ihnen das Koalitionsrecht rechtlich oder faktisch fehlt. Er hat vergessen, daß diese enormen Kategorien politisch wie wirtschaftlich mitten in der königlich preußischen Freiheit in echt „russischen“ Zuständen leben, daß also gerade diese Kategorien – von Bergarbeitern gar nicht zu reden – bei einer politischen Erschütterung unmöglich den Kadavergehorsam bewahren und nicht auch ihre Sonderrechnungen in Form von riesigen Massenstreiks präsentieren.

Doch blicken wir auf „Westeuropa“. Genosse Kautsky, der dies alles bestreitet, müßte sich noch mit einer anderen Opponentin als ich auseinandersetzen, mit der Wirklichkeit. Was sehen wir nämlich hier, wenn wir nur die wichtigsten Massenstreiks der letzten zehn Jahre hervorheben?

Die großen belgischen Massenstreiks, die das allgemeine Wahlrecht errungen haben, stehen noch isoliert in den neunziger Jahren als kühnes Experiment da. Seitdem aber, welche Fülle und Mannigfaltigkeit!

Im Jahre 1900 der Massenstreik der Bergarbeiter in Pennsylvania, der nach dem Zeugnis der amerikanischen Genossen mehr für die Ausbreitung der sozialistischen Ideen getan hat als zehn Jahre Agitation, 1900 gleichfalls Massenstreik der Bergarbeiter in Österreich, 1902 Massenstreik der Bergarbeiter in Frankreich, 1902 Generalstreik in der gesamten Produktion in Barcelona zur Unterstützung der kämpfenden Metallarbeiter, 1902 Demonstrationsmassenstreik in Schweden für das allgemeine, gleiche Wahlrecht, 1902 Massenstreik in Belgien für das allgemeine, gleiche Wahlrecht, 1902 Massenstreik der Landarbeiter in ganz Ostgalizien (über 200.000) zum Schutze des Koalitionsrechtes, 1903 im Januar und April zwei Massenstreiks der Eisenbahner in Holland, 1904 Massenstreik der Eisenbahner in Ungarn, 1904 Demonstrationsmassenstreik in Italien als Protest gegen die Metzeleien in Sardinien, im Januar 1905 Massenstreik der Bergarbeiter im Ruhrrevier, im Oktober 1905 Demonstrationsmassenstreik in Prag und Umgegend (100.000 Arbeiter) für das gleiche, allgemeine Wahlrecht zum böhmischen Landtag, im Oktober 1905 Demonstrationsmassenstreik in Lemberg für das allgemeine, gleiche Wahlrecht zum galizischen Landtag, im November 1905 Demonstrationsmassenstreik in ganz Österreich für das allgemeine, gleiche Wahlrecht zum Reichsrat, 1905 Massenstreik der Landarbeiter in Italien, 1905 Massenstreik der Eisenbahner in Italien, 1906 Demonstrationsmassenstreik in Triest für das allgemeine, gleiche Wahlrecht zum Landtag, der die Reform auch siegreich erzwungen hat, 1906 Massenstreik der Hüttenarbeiter in Witkowitz (Mähren) zur Unterstützung von 400 wegen der Maifeier entlassenen Vertrauensmännern, siegreich beendet, 1909 Massenstreik in Schweden zur Verteidigung des Koalitionsrechtes, 1909 Massenstreik der Postangestellten in Frankreich, im Oktober 1909 Demonstrationsstreik sämtlicher Arbeiter in Trient und Rovereto als Protest gegen politische Verfolgungen der Sozialdemokratie, 1910 Massenstreik in Philadelphia zur Unterstützung der Trambahnangestellten im Kampfe um das Koalitionsrecht und in diesem Augenblick Vorbereitungen zum Massenstreik der Eisenbahner in Frankreich.

So sieht die „Unmöglichkeit“ der Massenstreiks, insbesondere der Demonstrationsmassenstreiks, in „Westeuropa“ aus, die Genosse Kautsky so schön schwarz auf weiß nachgewiesen hat. Genosse Kautsky hat theoretisch wie auf flacher Hand die Unmöglichkeit der Vermengung politischer und ökonomischer Streiks, die Unmöglichkeit allgemeiner imposanter Demonstrationsmassenstreiks, die Unmöglichkeit der Massenstreiks als einer Periode wiederholter Einzelkämpfe erwiesen, und er hat vergessen, daß wir seit zehn Jahren in einer Periode von ökonomischen, politischen, Kampf- und Demonstrationsmassenstreiks leben, einer Periode, die sich mit auffallender Übereinstimmung fast auf alle „westeuropäischen Länder“ sowie auf die Vereinigten Staaten erstreckt, auf kapitalistisch zurückgebliebenste wie Spanien und auf die fortgeschrittensten wie Nordamerika, auf Länder mit schwächster Gewerkschaftsbewegung wie Frankreich und auf solche mit strammen sozialdemokratischen Gewerkschaften wie Österreich, auf das agrarische Galizien und auf das hochindustrielle Böhmen, auf halbfeudale Staaten wie die habsburgische Monarchie, auf Republiken wie Frankreich und auf absolutistische Staaten wie Rußland. Neben den aufgezählten steht nämlich noch die grandiose Massenstreikaktion Rußlands 1902 bis 1906, die gezeigt hat, wie die Bedeutung und der Umfang des Massenstreiks erst zusammen mit der revolutionären Situation und der politischen Aktion des Proletariats wachsen.

Denn während wir über den politischen Streik diskutieren und nach seiner theoretischen Formulierung und Begründung suchen, entbrennt spontan, durch Selbstentzündung der Massen, ein gewaltiger politischer Massenstreik nach dem anderen – oder wird jeder Massenstreik zu einer politischen Aktion, gipfelt jede große politische Kraftprobe in einem Massenstreik, sei es bei den Bergarbeitern, sei es unter den Proletariern Rußlands, den Landarbeitern und Eisenbahnern Italiens usw. [4*]

Demnach scheint es beinahe, als wenn Genosse Kautsky durch seine neueste Theorie von der Unmöglichkeit einer Periode politischer Massenstreiks in Deutschland nicht einen Gegensatz zwischen Rußland und Westeuropa, sondern vielmehr einen Gegensatz zwischen Deutschland und der übrigen Welt, eingeschlossen Westeuropa wie Rußland, nachgewiesen hätte. Preußen müßte in der Tat eine Ausnahme unter allen kapitalistischen Ländern sein, wenn das wahr wäre, was Genosse Kautsky über die Unmöglichkeit selbst kurzer allgemeiner Demonstrationsmassenstreiks in Preußen ausführt. Es soll „gar nicht daran zu denken“ sein, „daß bei uns in einem Demonstrationsstreik gegen die Regierung Stadtbahnen, Straßenbahnen, Gaswerke zum Stillstand kommen“, daß wir in Deutschland einen Demonstrationsstreik erleben, der „das ganze Straßenbild ändert und dadurch auf die gesamte bürgerliche Welt wie auch auf die indifferentesten Schichten des Proletariats den tiefsten Eindruck macht“. [3] Dann müßte aber in Deutschland undenkbar sein, was in Galizien, in Böhmen, in Italien, in Ungarn, in Triest, Trient, in Spanien, in Schweden sich als möglich erwiesen hat. In allen diesen Ländern und Städten haben glänzende Demonstrationsstreiks stattgefunden, die „das Straßenbild“ gänzlich veränderten. In Böhmen herrschte am 20. November 1905 eine absolut allgemeine Arbeitsruhe, die sich selbst auf die Landwirtschaft erstreckte, was man in Rußland noch nicht erlebt hat. In Italien haben im September 1904 die Landarbeiter, die Trambahnen, Elektrizitäts- und Gaswerke gefeiert, sogar die gesamte Tagespresse hatte ihr Erscheinen einstellen müssen. „Es ist wohl der vollständigste Generalstreik gewesen“, schrieb die Neue Zeit, „den die Geschichte kennt: man hatte drei volle Tage die Stadt Genua ohne Licht und Brot und Fleisch gelassen, man hatte das ganze wirtschaftliche Leben unterbunden.“ [5*] In Schweden waren in der Hauptstadt Stockholm sowohl 1902 wie 1909 in der ersten Woche sämtliche Verkehrsmittel – Straßenbahnen, Droschken, Rollfuhren, kommunale Arbeiten – stillgelegt. In Barcelona ruhte 1902 das gesamte wirtschaftliche Leben mehrere Tage.

Wir bekämen so schließlich in dem Preußen-Deutschland mit seiner „stärksten Regierung der Gegenwart“ und seinen besonderen deutschen Verhältnissen“, die allerlei Unmöglichkeiten der proletarischen Kampf- weise erklären sollen, die in der ganzen übrigen Welt möglich sind, ein unerwartetes Gegenstück zu jenen besonderen „bayerischen“ und „süddeutschen“ Verhältnissen, die Genosse Kautsky seinerzeit mit uns anderen so weidlich auslachte. Namentlich aber machen sich diese deutschen „Unmöglichkeiten“ schön angesichts der Tatsache, daß wir ja gerade in Deutschland die stärkste Partei, die stärksten Gewerkschaften, die beste Organisation, die größte Disziplin, das aufgeklärteste Proletariat und den größten Einfluß des Marxismus haben. Wir kämen ja auf diese Weise tatsächlich zu dem eigentümlichen Resultat, daß, je stärker die Sozialdemokratie, um so ohnmächtiger die Arbeiterklasse ist. Ich meine aber, sagen, daß in Deutschland heute Massenstreiks und Demonstrationsstreiks unmöglich sind, die in verschiedenen anderen Ländern möglich waren, heißt dem deutschen Proletariat ein Armutszeugnis ausstellen, das es noch durch nichts verdient hat.

Fußnoten von Rosa Luxemburg
und der Neuen Zeit

1.* Der ebenso unmotivierte wie scharfe Angriff der Redaktion der Neuen Zeit in der letzten Nummer [siehe Verzeichnisseite, Fußnote 1*] und ihre Behauptung, daß mein Artikel „im gegenwärtigen Moment der Sache des Proletariats nur schaden könne“, zwingen mich zur folgenden Erwiderung:

1. Ich weise mit aller Entschiedenheit die Behauptung der Redaktion zurück, als handle es sich in der vorliegenden Diskussion um „meine Angelegenheit“, die mir „so ungeheuer wichtig“ erscheine. Die Frage des preußischen Wahlrechtskampfes und der in ihm anzuwendenden Taktik ist nicht „meine“ Angelegenheit. sondern die der sozialdemokratischen Bewegung Deutschlands.

2. Die Wahlrechtsfrage steht auf der Tagesordnung des Parteitages in Magdeburg. ist auch nach dem Vorfall in Baden von der Tagesordnung nicht abgesetzt worden. Es besteht deshalb für die Parteipresse. in erster Linie für das theoretische Diskussionsorgan der Partei. die einfache Pflicht, die Debatten des Parteitages durch allseitige Klärung der Frage vorzubereiten.

3. Die Anklage, ich entfache „Streit im eigenen Lager des Marxismus“, ist unbegründet. Der Marxismus ist nicht eine Clique, die es nötig hätte, ernste sachliche Meinungsdifferenzen vor der Welt zu vertuschen. Er ist eine große geistige Bewegung. die wir nicht mit uns paar Leuten identifizieren dürfen, eine Weltanschauung, die im offenen freien Ideenkampf groß geworden Ist und nur in ihm sich vor Verknöcherung zu bewahren vermag.

4. Die Erklärung der Redaktion, mein Artikel stelle „sich die Aufgabe, den Parteivorstand. den Vorwärts, überhaupt jene Elemente zu diskreditieren“, läuft auf die Behauptung hinaus, daß, wer die leitenden Parteiorgane und die von ihnen befolgte Politik kritisiert, dabei nur die Absicht haben könne, sie zu „diskreditieren“. Das ist wörtlich dasselbe Argument, womit bis jetzt die Gewerkschaftsführer jede Kritik an der Politik der Gewerkschaften. insbesondere auch die Kritik des Redakteurs der Neuen Zeit, abzuwehren suchten. Die Redaktion eines theoretischen Diskussionsorgans der Partei sollte die allerletzte sein, die zu klejnlichen Verdächtigungen der Kritiker innerhalb der Partei greift, auch wenn sie sich zufällig selbst unter den Kritisierten befindet.

5. Die mir von der Redaktion aus Rücksicht auf die badische Budgetabstimmung zugemutete Abbrechung der Diskussion über den preußischen Wahlrechtskampf bedeutete, daß wir die Fragen des Kampfes gegen die bürgerlichen Gegner auf unbestimmte Zeit zurückstellen, um uns ausschließlich für den Kampf in den eigenen Reihen zu sammeln. Da die Vorstöße von opportunistischer Seite seit einem Dutzend von Jahren gar nicht aufhören, so hieße es die Partei einfach unter Belagerungszustand durch den Opportunismus erklären, wollte man alle ernsten Debatten über die Taktik, alle Probleme der Weiterentwicklung der sozialdemokratischen Kampfweise jedesmal an den Nagel hängen, wenn es unseren Revisionisten beliebt, einen neuen Streich zu spielen. Ein so aufgeregtes Getue widerspricht auch den eigenen Worten der Redaktion an einer anderen Stelle. Die badische Angelegenheit muß mit Energie und Konsequenz erledigt werden. „Allein“, lesen wir im Leitartikel des Genossen Mehring in derselben Nummer der Neuen Zeit, „die Partei wird sich ihre frohe Kampfstimmung nicht durch diese Episode trüben lassen. Soweit sich bisher die Partei presse darüber geäußert hat, ist es mit derselben überlegenen Ruhe geschehen, womit Engels die Krähwinkeleien des ‚Kanton Badisch‘ zu betrachten pflegte.“ [1] Ich wünsche der Redaktion der Neuen Zeit etwas von dieser „frohen Kanipfstimmung“ und dieser „überlegenen Ruhe“. – Rosa Luxemburg

Mit jener „überlegenen Ruhe“, die Genossin Luxemburg von uns fordert, drucken wir neben den dreißig Seiten ihres Artikels auch noch diese Erklärung ab und überlassen ruhig unseren Lesern das Urteil darüber, ob eine Polemik von der Art der vorliegenden im jetzigen Moment am Platze ist und ob das heftige Sträuben der Genossin Luxemburg gegen jede Zurückschiebung ihrer Antwort um einige wenige Wochen nicht eine Überschätzung der Wichtigkeit ihrer eigenen Ausführungen bedeutet. – Die Red.

2*. K. Kautsky, Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution, in: Neue Zeit, XXV, 1, S. 333.

3*. K. Kautsky, Die Soziale Revolution, 1, 2. Aufl., S. 60.

4*. K. Kautsky, Die Lehren des Bergarbeiterstreiks, in: Neue Zeit, XXIII. S. 781.

5*. Oda Olberg, Der italienische Generalstreik, in: Neue Zeit, XXIII, 1, S. 19.



Anmerkungen

1. Franz Mehring: Kanton Badisch, in: Die Neue Zeit (Stuttgart), 28. Jg. 1909/10. Zweiter Band, S. 562.

2. R. Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaft, in R. Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 146–148 u. 149/150. Hervorhebungen nur hier.

3. K. Kautsky, Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 370.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012