Rosa Luxemburg


Ermattung oder Kampf?


II

Im engsten Zusammenhang mit dieser Auffassung vom Massenstreik, als einer nach dem Taktstock des Generalstabs kommandierten Aktion, steht auch die peinliche Unterscheidung, die Genosse Kautsky in bezug auf die diversen Spielarten, Demonstrationsstreik, Zwangsstreik, ökonomischer Streik, politischer Streik, durchführt. Genosse Kautsky fordert, daß man sie streng auseinanderhalte, denn bei ungenügender Klarheit der Propaganda könnten die Massen uns falsch verstehen und anstatt des von uns beabsichtigten Demonstrationsstreiks unversehens einen unangebrachten „Zwangsstreik“ ausführen, die Vermengung aber ökonomischer Forderungen und sogar einer Bewegung für den Achtstundentag mit der Wahlrechtsbewegung könne diese letztere nur schädigen.

Nun mögen solche strengen Rubrizierungen und Schematisierungen des Massenstreiks nach Arten und Unterarten auf dem Papier gut bestehen und auch für den gewöhnlichen parlamentarischen Alltag ausreichen. Sobald jedoch große Massenaktionen und politische Sturmzeiten beginnen, werden diese Rubriken vom Leben selbst durcheinandergeworfen. Dies war zum Beispiel in höchstem Masse in Rußland der Fall, wo Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks unaufhörlich abwechselten und wo die unaufhörliche Wechselwirkung der ökonomischen und der politischen Aktion gerade das Charakteristische des russischen Revolutionskampfes und die Quelle seiner inneren Kraft ausmachte. Genosse Kautsky lehnt freilich das Beispiel Rußlands ab, weil „in Rußland damals die Revolution herrschte“. [1] Da die russischen Vorgänge unter die Rubrik „Revolution“ gehören, sollen die Lehren der russischen Kämpfe für andere Länder keine Geltung haben. Aber je mehr wir auch in Deutschland Zeiten stürmischer Auseinandersetzungen des Proletariats mit der herrschenden Reaktion entgegengehen, um so mehr gelten auch die Erscheinungen der Revolutionären Situation für unsere Verhältnisse.

Doch brauchen wir nicht einmal nach Rußland zu blicken, um das Unzutreffende jenes leblosen Schemas einzusehen. Genau dasselbe zeigt uns nämlich auch die Geschichte des Wahlrechtskampfes in Belgien, wo weder Krieg noch Revolution stattfanden. Genosse Kautsky meint, „das Leben ist ... bisher so pedantisch gewesen“ [2], den ökonomischen und den politischen Kampf streng auseinanderzuhalten, wenigstens „in den Wahlrechtskämpfen Westeuropas wären bisher das ökonomische und das politische Moment streng geschieden“ [3] gewesen. Genosse Kautsky befindet sich im Irrtum.

Die belgische Wahlrechtsbewegung nahm ihren Anfang im Jahre 1886, und zwar von einem ganzen Sturm wirtschaftlicher Kämpfe. Zuerst war es ein elementarer Streik der Bergarbeiter, der das Signal zur Erhebung gab. Dem Bergarbeiterstreik folgten fast in allen Städten und Branchen andere Streiks, in denen Lohnforderungen im Vordergrund standen. Aus diesen rein gewerkschaftlichen Kämpfen war in Belgien die Massenbewegung für das allgemeine Wahlrecht geboren. Den Lohnforderungen wurde bald überall die Forderung des allgemeinen Wahlrechts zugesellt und unter Benutzung der großen Erregung des wirtschaftlichen Kampfes konnte die junge belgische Sozialdemokratie am 15. August 1886 ihre erste Massendemonstration für das allgemeine Wahlrecht in Brüssel veranstalten. Dasselbe wiederholte sich auch später. Der große politische Massenstreik des Jahres 1891, der die Wahlrechtsvorlage der Regierung erzwungen hatte, ist im Zusammenhang mit dem Kampfe um den Achtstundentag, nämlich unter dem unmittelbaren Anstoß der Maifeier, entstanden und war das Produkt einer Reihe gewerkschaftlicher Aktionen. Es war wieder ein großer Lohnkampf der Bergarbeiter, dem Streiks in den Eisen- und Stahlwerken, sodann Streiks der Tischler, Zimmerer, Hafenarbeiter und anderer folgten. Aus diesen Branchenstreiks bildete sich unter der kühnen und festen Leitung der damaligen belgischen Parteiführer der erste Wahlrechtsmassenstreik, der auch den ersten Sieg errungen hat. Nachdem dieser politische Massenstreik angesichts der Konzession der Regierung beendet war, setzten die Bergarbeiter in Charleroi ihren Streik noch fort, um eine Verkürzung der Arbeitszeit und Lohnerhöhung zu erringen. Das ganze Jahr 1892 hindurch dauerte in der belgischen Industrie eine latente Krise, die eine große Erregung unter der Arbeiterschaft, mehrere Streiks zur Abwehr von Lohnreduktionen und Ende des Jahres eine umfangreiche Arbeitslosigkeit erzeugte. Am 8. November 1892, dem Tage der Kammereröffnung, organisierte die Partei in Brüssel in sämtlichen Fabriken einen Demonstrationsmassenstreik Im Dezember aber desselben Jahres nahm sich die belgische Sozialdemokratie der Sache der Arbeitslosen an und veranstaltete einige grandiose Demonstrationen der Arbeitslosen. So wurde in beständiger Wechselwirkung der Demonstrations- und der „Zwangsstreiks“, der wirtschaftlichen und der politischen Aktion der folgende große Wahlrechtsmassenstreik und der entscheidende Kampf im Jahre 1893 [4]vorbereitet. Wenn Genosse Kautsky jetzt seltsamerweise auch diesen Sieg zu verkleinern sucht, indem er darauf hinweist, daß ja „Belgien bis heute noch nicht das gleiche Wahlrecht“ [5] besitzt, so wäre diese allgemein bekannte Tatsache nur gegen den ein Argument, wer den politischen Massenstreik als ein wunderwirkendes Allheilmittel zur Erringung aller Siege mit einem Schlage, etwa nach anarchistischem Rezept, anpreisen würde. Vorläufig handelt es sich aber um die Tatsache, daß der Massenstreik jedenfalls ein vorzügliches Mittel war, dem belgischen Proletariat überhaupt den Zutritt zum Parlament und gleich bei den ersten Wahlen die Eroberung eines Fünftels aller Mandate zu ermöglichen, und daß bei dieser Wahlrechtsbewegung wirtschaftliche Kämpfe die hervorragendste Rolle gespielt, den Ausgangspunkt und die Basis des politischen Massenstreiks gebildet haben.

Aber auch unsere eigenen bisherigen Erfahrungen widersprechen der Annahme des Genossen Kautsky. Wir haben in diesem Augenblick den großen Kampf im Baugewerbe. [6] Nach dem obigen Schema müßten wir diesen wirtschaftlichen Kampf von unserer Wahlrechtsbewegung streng scheiden, und am liebsten hätte ja dieser Kampf als schädlich im Interesse der Wahlrechtsbewegung womöglich vermieden werden sollen. In Wirklichkeit läßt sich jene Scheidung gar nicht durchführen, und sie wäre so ziemlich das Törichteste, was wir beginnen könnten. Im Gegenteil kommt man naturgemäß in jeder Wahlrechtsversammlung auf die Aussperrung im Baugewerbe zu sprechen, die Ausgesperrten bilden in jeder Versammlung und Demonstration einen Teil unseres Publikums, und unter dem Eindruck der Brutalität des Kapitals im Baugewerbe weckt jedes Wort der Kritik an den bestehenden Zuständen ein lebhafteres Echo in den Massen. Mit einem Worte: die Kraftprobe im Baugewerbe trägt dazu bei, die Kampfstimmung für das Wahlrecht zu erhöhen, und umgekehrt kommt die allgemeine Sympathie, die allgemeine Erregung der Massen im Wahlrechtskampf den Bauarbeitern zugute.

Desgleichen haben wir uns eigentlich schon gegen das Schema versündigt, indem wir den Wahlrechtskampf mit der Maifeier, also mit dem Kampfe um den Achtstundentag verknüpft haben, indem wir die Maifeier direkt zu einer Wahlrechtsdemonstration gestaltet haben. Allein jedermann versteht, daß diese Verknüpfung ein einfaches Gebot der sozialdemokratischen Taktik war, und daß gerade durch die Verbindung mit den Mailosungen des internationalen Sozialismus unser preußischer Wahlrechtskampf seinen richtigen Rahmen als proletarischer Klassenkampf erhalten hat.

Hier liegt eben der Schwerpunkt der Frage. Wollen wir unsere preußische Wahlrechtsbewegung im Sinne des bürgerlichen Liberalismus und in Bundesgenossenschaft mit ihm als einen nur politischen Verfassungskampf führen, dann ist allerdings eine strenge Scheidung dieser Bewegung von allen ökonomischen Kämpfen mit dem Kapital am Platze. Dann ist aber auch der streng politische Massenstreik von vornherein als eine halbe Maßregel zum Fiasko verurteilt, wie dies die Schicksale des belgischen Massenstreiks im Jahre 1902 [7] dartun, die dem Genossen Kautsky vielleicht erklären können, warum „andererseits Belgien bis heute noch nicht das gleiche Wahlrecht besitzt“. Wollen wir hingegen den Wahlrechtskampf im Sinne rein proletarischer Taktik, das heißt als eine Teilerscheinung unseres allgemeinen sozialistischen Klassenkampfes führen, wollen wir ihn durch eine umfassende Kritik der allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Klassenverhältnisse begründen und auf die eigene Macht und Klassenaktion des Proletariats allein stützen, dann ist es klar, daß eine „strenge Scheidung“ von wirtschaftlichen Interessen und Kämpfen des Proletariats zweckwidrig, ja unmöglich erscheint. Es hieße dann die Kraft und den Schwung der Wahlrechtsbewegung künstlich lähmen, ihren Inhalt ärmer machen, wollten wir nicht alles in ihr aufnehmen, sie nicht von allem tragen lassen, was die Lebensinteressen der Arbeitermassen berührt, was in den Herzen dieser Massen lebt.

Genosse Kautsky redet hier gerade jener pedantisch-engherzigen Auffassung der Wahlrechtsbewegung das Wort, die uns ohnehin bereits geschadet hat. Als wir im Jahre 1908 [8] und 1909 [9] den ersten Demonstrationssturm in der preußischen Wahlrechtsbewegung erlebten, bekam die Arbeiterschaft eben die Schrecken der wirtschaftlichen Krise zu kosten. Eine grauenhafte Arbeitslosigkeit herrschte in Berlin und äußerte sich in erregten Arbeitslosenversammlungen und Demonstrationen. Anstatt nun diese Arbeitslosenbewegung mit in den Strudel des Wahlrechtskampfes zu lenken, anstatt den Ruf nach Arbeit und Brot mit dem Rufe nach gleichem Wahlrecht zu verbinden, wurde umgekehrt die Sache der Arbeitslosen von der Sache des Wahlrechtes auf das strengste geschieden, und der Vorwärts gab sich alle Mühe, die Arbeitslosen von den Rockschößen der Wahlrechtsbewegung öffentlich abzuschütteln. Nach dem Schema des Genossen Kautsky war dies ein weises Stück „Ermattungsstrategie“, nach meiner Auffassung war es ein Verstoß gegen die elementarste Pflicht einer wirklichen proletarischen Taktik und mit ein Mittel, die damalige Demonstrationsbewegung bald zum Stillstand zu bringen.

Indem Genosse Kautsky jetzt wieder die strenge Trennung der Wahlrechtsbewegung von den großen wirtschaftlichen Massenkämpfen befürwortet, stützt er theoretisch gerade jenen Geist in der Partei, aus dem heraus sich die Neigung unserer führenden Parteikreise erklärt, am liebsten Demonstrationen nur mit Organisierten zu veranstalten, jenen Geist, der die ganze Wahlrechtsbewegung als ein unter strengem Kommando der oberen Instanzen nach genauem Plane und Vorschrift ausgeführtes Manöver auffaßt, statt in ihr eine große historische Massenbewegung, ein Stück des großen Klassenkampfes zu sehen, der aus allem seine Nahrung schöpft, was den heutigen Gegensatz zwischen dem Proletariat und dem herrschenden Klassenstaat ausmacht.

Mit einem Worte, Genosse Kautsky stützt theoretisch just die Vorurteile und Beschränktheiten in der Auffassung unserer leitenden Kreise, die ohnehin jeder größeren und kühneren politischen Massenaktion in Deutschland im Wege stehen, und die zu überwinden das dringende Interesse der jetzigen Wahlrechtsbewegung gebietet.

Anmerkungen

1. Karl Kautsky, Was Nun?, in Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, 2. Bd., S. 35.

2. ebenda.

3. ebenda.

4. Im April 1893 war es in Belgien zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung zu einem politischen Generalstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen, an dem sich etwa 250.000 Arbeiter beteiligten. Als Ergebnis dieses Streiks mußte das belgische Wahlrecht wesentlich erweitert werden.

5. Karl Kautsky, Was Nun?, in Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, 2. Bd., S. 37.

6. Am 15. April 1910 hatten etwa 160.000 Bauarbeiter den Kampf gegen eine Massenaussperrung im Baugewerbe begonnen, um ihre Forderungen nach Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung, nach örtlichen Tarifverträgen und Agitationsfreiheit durchzusetzen. Der Streik dauerte in einigen Großstädten bis Anfang Juli.

7. Am 14. April 1902 hatte in Belgien ein Massenstreik begonnen, an dem sich über 300.000 Arbeiter beteiligten. Er wurde am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei abgebrochen. obwohl die Forderung nach Änderung des Wahlrechts und die damit verbundene Verfassungsänderung am 18. april von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

8. Im Januar 1908 fanden in Berlin zahlreiche Arbeitslosenversammlungen und Demonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht statt, bei denen die Polizei brutal gegen die Demonstranten vorging.

9. Von Januar bis März und gegen Ende des Jahres 1909 hatten in vielen deutschen Städten Zehntausende gegen das undemokratische preußische Dreiklassenwahlrecht demonstriert und das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle Personen über 20 Jahre gefordert.


Zuletzt aktualisiert am 13.1.2012