Wladimir Iljitsch Lenin

 

Staat und Revolution

 

IV. Kapitel
Fortsetzung
Ergänzende Erläuterungen von Engels

Marx hat zur Beurteilung der Erfahrungen der Kommune das Grundlegende beigetragen. Engels kam wiederholt auf dasselbe Thema zurück, wobei er die Analyse und die Schlußfolgerungen von Marx erläuterte und mitunter mit einer solchen Kraft und Anschaulichkeit andere Seiten der Frage beleuchtete, daß man auf diese Erläuterungen besonders eingehen muß.

 

1. Zur Wohnungsfrage

In seiner Abhandlung über die Wohnungsfrage (1872) verwertet Engels bereits die Erfahrungen der Kommune und kommt einige Male auf die Aufgaben der Revolution in bezug auf den Staat zu sprechen. Es ist interessant, daß an einem konkreten Thema anschaulich aufgezeigt werden: einerseits die Züge, worin der proletarische und der jetzige Staat einander ähnlich sind, Züge, die in beiden Fällen erlauben, vom Staat zu sprechen, und anderseits die Unterscheidungsmerkmale oder der Übergang zur Aufhebung des Staates.

„Wie ist nun die Wohnungsfrage zu lösen? In der heutigen Gesellschaft gerade wie eine jede andere gesellschaftliche Frage gelöst wird: durch die allmähliche ökonomische Ausgleichung von Nachfrage und Angebot, eine Lösung, die die Frage selbst immer wieder von neuem erzeugt, also keine Lösung ist. Wie eine soziale Revolution diese Frage lösen würde, hängt nicht nur von den jedesmaligen Umständen ab, sondern auch zusammen mit viel weitergehenden Fragen, unter denen die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land eine der wesentlichsten ist. Da wir keine utopischen Systeme für die Einrichtung der künftigen Gesellschaft zu machen haben, wäre es mehr als müßig, hierauf einzugehn. Soviel aber ist sicher, daß schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung derselben jeder wirklichen ‚Wohnungsnot‘ sofort abzuhelfen. Dies kann natürlich nur durch Expropriation der heutigen Besitzer, resp. durch Bequartierung ihrer Häuser mit obdachlosen oder in ihren bisherigen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern geschehn, und sobald das Proletariat die politische Macht erobert hat, wird eine solche, durch das öffentliche Wohl gebotene Maßregel ebenso leicht ausführbar sein, wie andere Expropriationen und Einquartierungen durch den heutigen Staat.“ (S.22 der deutschen Ausgabe von 1877.) [20]

Hier wird nicht die Veränderung der Form der Staatsmacht behandelt, sondern nur der Inhalt ihrer Tätigkeit. Expropriationen und Einquartierungen erfolgen auch auf Verfügung des jetzigen Staates. Formell betrachtet, wird auch der proletarische Staat Einquartierungen und Expropriationen von Häusern „verfügen“. Es ist aber klar, daß der alte Vollzugsapparat, die mit der Bourgeoisie verbundene Beamtenschaft, zur Durchführung der Verfügungen des proletarischen Staates einfach untauglich wäre.

„Übrigens muß konstatiert werden, daß die ‚faktische Besitzergreifung‘ sämtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznahme der gesamten Industrie von seiten des arbeitenden Volkes, das gerade Gegenteil ist von der proudhonistischen ‚Ablösung‘. Bei der letzteren wird der einzelne Arbeiter Eigentümer der Wohnung, des Bauernhofs, des Arbeitsinstruments; bei der ersteren bleibt das ‚arbeitende Volk‘ Gesamteigentümer der Häuser, Fabriken und Arbeitsinstrumente, und wird deren Nießbrauch, wenigstens während einer Übergangszeit, schwerlich ohne Entschädigung der Kosten an einzelne oder Gesellschaften überlassen. Gerade wie die Abschaffung des Grundeigentums nicht die Abschaffung der Grundrente ist, sondern ihre Übertragung, wenn auch in modifizierter Weise, an die Gesellschaft. Die faktische Besitznahme sämtlicher Arbeitsinstrumente durch das arbeitende Volk schließt also die Beibehaltung des Mietverhältnisses keineswegs aus.“ (S.68.)

Die in diesen Darstellungen angeschnittene Frage, nämlich die Frage nach den ökonomischen Grundlagen des Absterbens des Staates, wollen wir im nächsten Kapitel behandeln. Engels drückt sich äußerst vorsichtig aus, wenn er sagt, daß der proletarische Staat „schwerlich“ die Wohnungen ohne Entgelt verteilen werde, „wenigstens während einer Übergangszeit“. Das Überlassen von Wohnungen, die dem ganzen Volk gehören, an einzelne Familien gegen Entgelt setzt auch die Erhebung dieses Mietgeldes, eine gewisse Kontrolle und diese oder jene Normierung bei der Verteilung der Wohnungen voraus. Alles das erfordert eine gewisse Staatsform, erfordert aber keineswegs einen besonderen militärischen und bürokratischen Apparat mit beamteten Personen in besonders bevorzugter Stellung. Der Übergang zu einer Ordnung der Dinge jedoch, bei der es möglich sein wird, die Wohnungen kostenlos zu überlassen, ist mit dem völligen „Absterben“ des Staates verknüpft.

Wo Engels darauf zu sprechen kommt, daß die Blanquisten nach der Kommune, beeinflußt durch deren Erfahrungen, prinzipiell die Stellung des Marxismus bezogen, formuliert er beiläufig diese Stellung folgendermaßen:

„... Notwendigkeit der politischen Aktion des Proletariats und seiner Diktatur als Übergang zur Abschaffung der Klassen und, mit ihnen, des Staats ...“ (S.55.)

Liebhaber von Wortklaubereien oder bürgerliche „Marxistenfresser“ mögen wohl einen Widerspruch finden zwischen diesem Bekenntnis zur „Abschaffung des Staats“ und der Ablehnung einer Formel wie der anarchistischen in dem früher zitierten Passus aus dem Anti-Dühring. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Opportunisten auch Engels zum „Anarchisten“ stempelten – wird es doch bei den Sozialchauvinisten jetzt immer mehr Sitte, die Internationalisten des Anarchismus zu bezichtigen.

Daß mit der Abschaffung der Klassen auch die Abschaffung des Staates erfolgen wird, das hat der Marxismus stets gelehrt. Die allgemein bekannte Stelle über das „Absterben des Staates“ im Anti-Dühring macht den Anarchisten nicht einfach zum Vorwurf, daß sie für die Abschaffung des Staates eintreten, sondern daß sie predigen, man könne den Staat „von heute auf morgen“ abschaffen.

Da die gegenwärtig herrschende „sozialdemokratische“ Doktrin das Verhältnis des Marxismus zum Anarchismus in der Frage der Abschaffung des Staates vollkommen entstellt, wird es besonders nützlich sein, an eine Polemik von Marx und Engels gegen die Anarchisten zu erinnern.

 

 

2. Polemik gegen die Anarchisten

Diese Polemik fällt in das Jahr 1873. Marx und Engels schrieben für einen italienischen sozialistischen Almanach Artikel gegen die Proudhonisten, die „Autonomisten“ oder „Antiautoritären“, aber erst im Jahre 1913 erschienen diese Artikel in deutscher Übersetzung in der Neuen Zeit. [21]

„Wenn der politische Kampf der Arbeiterklasse“, schrieb Marx, über die Anarchisten und ihre Ablehnung der Politik spottend, „revolutionäre Form annimmt, wenn die Arbeiter an Stelle der Diktatur der Bourgeoisie ihre revolutionäre Diktatur setzen, dann begehen sie das schreckliche Verbrechen der Prinzipienbeleidigung, denn um ihre kläglichen profanen Tagesbedürfnisse zu befriedigen, um den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, geben sie dem Staat eine revolutionäre und vorübergehende Form, statt die Waffen niederzulegen und den Staat abzuschaffen.“ (Neue Zeit, 32. Jahrgang, 1913/14, Bd.I, S.40.)

Also ausschließlich gegen diese „Abschaffung“ des Staates wandte sich Marx bei seiner Widerlegung der Anarchisten! Durchaus nicht dagegen, daß der Staat mit dem Verschwinden der Klassen verschwinden oder mit der Abschaffung der Klassen abgeschafft werden wird, sondern dagegen, daß die Arbeiter auf die Anwendung von Waffen, auf die organisierte Gewalt, das heißt auf den Staat, verzichten sollen, der dem Ziel zu dienen hat: „den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen“.

Marx betont absichtlich – um einer Entstellung des wahren Sinnes seines Kampfes gegen den Anarchismus vorzubeugen – die „revolutionäre und vorübergehende Form des Staates, den das Proletariat braucht. Das Proletariat braucht den Staat nur zeitweilig. In der Frage der Abschaffung des Staates als Ziel gehen wir mit den Anarchisten keineswegs auseinander. Wir behaupten, daß zur Erreichung dieses Ziels ein zeitweiliges Ausnutzen der Organe, Mittel und Methoden der Staatsgewalt gegen die Ausbeuter notwendig ist, ebenso wie zur Aufhebung der Klassen die vorübergehende Diktatur der unterdrückten Klasse notwendig ist. Marx greift gegen die Anarchisten zur schärfsten und klarsten Fragestellung: Sollen die Arbeiter „die Waffen niederlegen“, wenn sie das Joch der Kapitalisten abwerfen, oder sollen sie diese Waffen gegen die Kapitalisten ausnutzen, um deren Widerstand zu brechen? Aber die systematische Ausnutzung der Waffen durch eine Klasse gegen eine andere Klasse, was ist das denn anderes als eine „vorübergehende Form“ des Staates?

Jeder Sozialdemokrat möge sich fragen, ob er in seiner Polemik gegen die Anarchisten die Frage des Staates so gestellt hat, ob die überwältigende Mehrheit der offiziellen sozialistischen Parteien der II. Internationale diese Frage so gestellt hat?

Engels entwickelt dieselben Gedanken noch viel ausführlicher und gemeinverständlicher. Zunächst verspottet er die Konfusion in den Köpfen der Proudhonisten, die sich als „Antiautoritäre“ bezeichneten, d.h. jegliche Autorität, jegliche Unterordnung, jegliche Regierungsgewalt ablehnten. Man nehme eine Fabrik, eine Eisenbahn, ein Schiff auf hoher See, sagt Engels, ist es denn nicht klar, daß ohne eine gewisse Unterordnung, also ohne eine gewisse Autorität oder Macht ein Funktionieren keines dieser komplizierten technischen Betriebe, die auf der Verwendung von Maschinen und dem planmäßigen Zusammenarbeiten vieler Personen beruhen, möglich wäre?

„Wenn ich diese Argumente den rabiatesten Antiautoritären entgegenstelle, können sie mir nur die folgende Antwort geben: Ah! Das ist wahr, es handelt sich aber hier nicht um die Autorität, die wir den Delegierten verleihen, sondern um einen Auftrag. Diese Leute glauben, daß sie eine Sache ändern können, wenn sie ihren Namen ändern.“

Nachdem Engels so gezeigt hat, daß Autorität und Autonomie relative Begriffe sind, daß sich ihr Geltungsbereich mit den verschiedenen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung ändert, daß es ein Widersinn ist, sie für etwas Absolutes zu halten, und nachdem er hinzugefügt hat, daß der Geltungsbereich der Maschinen und der Großproduktion sich immer mehr erweitert, geht er von den allgemeinen Betrachtungen über Autorität zur Frage des Staates über.

„Hätten sich die Autonomisten“, schreibt er, „begnügt, zu sagen, daß die soziale Organisation der Zukunft die Autorität nur in den Grenzen zulassen wird, die durch die Produktionsverhältnisse unvermeidlich gezogen werden, dann hätte man sich mit ihnen verständigen können; sie sind aber blind für alle Tatsachen, welche die Autorität notwendig machen, und kämpfen leidenschaftlich gegen das Wort.

Warum beschränken sich die Antiautoritären nicht darauf, gegen die politische Autorität, gegen den Staat zu schreien? Alle Sozialisten sind darin einverstanden, daß der Staat und mit ihm die politische Autorität infolge der künftigen sozialen Revolution verschwinden werden; das heißt, daß die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln werden, die die sozialen Interessen überwachen. Die Antiautoritären aber fordern, daß der politische Staat mit einem Schlage abgeschafft werde, noch früher, als die sozialen Verhältnisse abgeschafft sind, die ihn erzeugt haben. Sie fordern, daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sein soll.

Haben sie einmal eine Revolution gesehen, diese Herren? Eine Revolution ist gewiß die autoritärste Sache, die es gibt, ein Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung seinen Willen dem anderen Teil durch Flinten, Bajonette und Kanonen, alles das sehr autoritäre Mittel, aufzwingt; und die Partei, die gesiegt hat, muß ihre Herrschaft durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen, behaupten. Und hätte sich die Pariser Kommune nicht der Autorität eines bewaffneten Volkes gegen die Bourgeoisie bedient, hätte sie sich länger als einen Tag behauptet? Können wir sie nicht umgekehrt tadeln, daß sie sich zuwenig dieser Autorität bedient habe? Also: entweder – oder: Entweder die Antiautoritären wissen selbst nicht, was sie sagen, und in diesem Falle schaffen sie nur Konfusion, oder sie wissen es, und in diesem Falle verraten sie die Sache des Proletariats. In beiden Fällen dienen sie nur der Reaktion.“ (S.39.)

In dieser Betrachtung sind Fragen berührt, die im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie beim Absterben des Staates betrachtet werden müssen (diesem Thema ist das nachfolgende Kapitel gewidmet). Das sind: die Frage der Umwandlung der öffentlichen Funktionen aus politischen in einfache administrative und die Frage des „politischen Staates“. Dieser letzte Ausdruck, der besonders geeignet ist, Mißverständnisse hervorzurufen, deutet auf den Prozeß des Absterbens des Staates hin: Den absterbenden Staat kann man auf einer gewissen Stufe seines Absterbens als unpolitischen Staat bezeichnen.

Am bemerkenswertesten ist in dieser Engelsschen Betrachtung wiederum die gegen die Anarchisten gebrauchte Fragestellung. Die Sozialdemokraten, die Schüler von Engels sein wollen, haben sich seit 1873 millionenmal mit den Anarchisten herumgestritten, aber eben nicht so, wie Marxisten streiten können und sollen. Die anarchistische Vorstellung von der Abschaffung des Staates ist konfus und unrevolutionär – so stellte Engels die Frage. Die Anarchisten wollen gerade die Revolution in ihrem Entstehen und in ihrer Entwicklung, in ihren spezifischen Aufgaben hinsichtlich der Gewalt, der Autorität, der Macht und des Staates nicht sehen.

Die bei den heutigen Sozialdemokraten übliche Kritik am Anarchismus läuft auf die reinste kleinbürgerliche Plattheit hinaus: „Wir erkennen den Staat an, die Anarchisten nicht!“ Natürlich muß eine solche Plattheit auf einigermaßen denkende und revolutionäre Arbeiter abstoßend wirken. Engels sagt etwas anderes: Er betont, daß alle Sozialisten das Verschwinden des Staates als Folge der sozialistischen Revolution anerkennen. Er stellt dann konkret die Frage der Revolution, eben jene Frage, die die Sozialdemokraten aus Opportunismus zu umgehen pflegen, deren „Bearbeitung“ sie sozusagen ausschließlich den Anarchisten überlassen. Und mit dieser Frage packt Engels den Stier bei den Hörnern: Hätte sich die Kommune nicht mehr der revolutionären Macht des Staates, d.h. des bewaffneten, als herrschende Klasse organisierten Proletariats, bedienen sollen? Die herrschende offizielle Sozialdemokratie pflegt die Frage nach den konkreten Aufgaben des Proletariats in der Revolution entweder einfach mit Philisterspötteleien oder bestenfalls mit der ausweichenden sophistischen Redewendung abzutun: „Das werden wir dann sehen.“ Und die Anarchisten durften mit Recht von dieser Sozialdemokratie behaupten, daß sie ihre Aufgabe preisgebe, die Arbeiter im revolutionären Geist zu erziehen. Engels nutzt die Erfahrungen der letzten proletarischen Revolution zur ganz konkreten Erforschung dessen aus, was das Proletariat sowohl in bezug auf die Banken als auch in bezug auf den Staat zu tun hat und wie das zu tun ist.

 

 

3. Ein Brief an Bebel

Eine der bemerkenswertesten, wenn nicht die bemerkenswerteste Betrachtung in den Werken von Marx und Engels über den Staat ist folgende Stelle in einem Brief von Engels an Bebel vom 18./28. März 1875. Dieser Brief ist, nebenbei bemerkt, unseres Wissens zum ersten Male von Bebel im Zweiten Teil seiner Memoiren (Aus meinem Leben) veröffentlicht worden, der 1911, also 36 Jahre nach Niederschrift und Absendung des Briefes, erschienen ist.

Engels kritisierte in seinem Brief an Bebel denselben Entwurf des Gothaer Programms, an dem auch Marx in seinem berühmten Brief an Bracke Kritik übte. Speziell zur Frage des Staates schrieb Engels folgendes:

„Der freie Volksstaat ist in den freien Staat verwandelt. Grammatikalisch genommen ist ein freier Staat ein solcher, wo der Staat frei gegenüber seinen Bürgern ist, also ein Staat mit despotischer Regierung. Man sollte das ganze Gerede vom Staat fallenlassen, besonders seit der Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war. Der ‚Volksstaat‘ ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruß in die Zähne geworfen worden, obwohl schon die Schrift Marx’ gegen Proudhon und nachher das Kommunistische Manifest direkt sagen, daß mit Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Staat sich von selbst auflöst und verschwindet. Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, von freiem Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen. Wir würden daher vorschlagen, überall statt Staat ‚Gemeinwesen‘ zu setzen, ein gutes altes deutsches Wort, das das französische ‚Kommune‘ sehr gut vertreten kann.“ (S.321/322 des deutschen Originals.) [22]

Man muß im Auge behalten, daß dieser Brief sich auf das Parteiprogramm bezieht, das Marx in einem nur wenige Wochen später geschriebenen Brief (vom 5. Mai 1875) kritisierte, und daß Engels damals mit Marx zusammen in London lebte. Wenn also Engels im letzten Satz „wir“ sagt, so empfiehlt er zweifellos in seinem und in Marx’ Namen dem Führer der deutschen Arbeiterpartei, das Wort „Staat“ aus dem Programm zu streichen und es durch das Wort „Gemeinwesen“ zu ersetzen.

Welches Geheul über „Anarchismus“ würden die Häuptlinge des jetzigen, für die Opportunisten gebrauchsfertig zurechtgemachten „Marxismus“ erheben, wenn man ihnen eine solche Korrektur am Programm vorschlagen wollte!

Mögen sie heulen. Dafür wird sie die Bourgeoisie loben.

Wir aber werden unser Werk weiter tun. Bei der Überprüfung unseres Parteiprogramms muß der Ratschlag von Engels und Marx unbedingt berücksichtigt werden, um der Wahrheit näher zu kommen, um den Marxismus wiederherzustellen und ihn von Entstellungen zu säubern, um den Kampf der Arbeiterklasse für ihre Befreiung sicherer zu lenken. Unter den Bolschewiki werden sich gewiß keine Gegner des Ratschlags von Engels und Marx finden. Die Schwierigkeit dürfte wohl nur im Terminus liegen. Im Deutschen gibt es zwei Wörter: „Gemeinde“ und „Gemeinwesen“, von denen Engels dasjenige wählte, das nicht die einzelne Gemeinde, sondern die Gesamtheit, das System der Gemeinden, bedeutet. Im Russischen gibt es kein entsprechendes Wort, und man wird sich vielleicht für das französische Wort „Kommune“ entscheiden müssen, obgleich auch das seine Nachteile hat.

„Die Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war“ – das ist eine theoretisch höchst wichtige Behauptung von Engels. Nach dem oben Dargelegten ist diese Behauptung durchaus begreiflich. Die Kommune hörte auf, ein Staat zu sein, insofern sie nicht die Mehrheit der Bevölkerung, sondern eine Minderheit (die Ausbeuter) niederzuhalten hatte; die bürgerliche Staatsmaschine wurde von ihr zerschlagen; an der Stelle einer besonderen Repressionsgewalt trat die Bevölkerung selbst auf den Plan. Alles das sind Abweichungen vom Staat im eigentlichen Sinne. Und hätte sich die Kommune behauptet, so wären in ihr die Spuren des Staates von selbst „abgestorben“, sie hätten seine Institutionen nicht „abzuschaffen“ brauchen, diese hätten in dem Maße aufgehört zu funktionieren, wie sie nichts mehr zu tun gehabt hätten.

„Der ‚Volksstaat‘ ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruß in die Zähne geworfen worden“, sagt Engels und meint in erster Linie Bakunin und dessen Ausfälle gegen die deutschen Sozialdemokraten. Engels erkennt diese Ausfälle insoweit für berechtigt an, als der „Volksstaat“ ein ebensolcher Unsinn und ein ebensolches Abweichen vom Sozialismus ist wie auch der „freie Volksstaat“. Engels ist bemüht, den Kampf der deutschen Sozialdemokraten gegen die Anarchisten zu korrigieren, diesem Kampf die prinzipiell richtige Linie zu geben, ihn von den opportunistischen Vorurteilen in bezug auf den „Staat“ zu reinigen. Aber leider! Der Brief von Engels hat 36 Jahre lang in einer Schreibtischschublade gelegen. Wir werden weiter unten sehen, daß auch nach der Veröffentlichung dieses Briefes Kautsky im wesentlichen die gleichen Fehler hartnäckig wiederholt, vor denen Engels warnte.

Bebel antwortet Engels mit einem Brief vom 21. September 1875, in dem er unter anderem schrieb, daß er mit Engels’ Urteil über die Programmvorlage „vollkommen übereinstimme“ und daß er Liebknecht Nachgiebigkeit vorgeworfen habe (Bebel, Aus meinem Leben, Zweiter Teil, S.334). Nimmt man jedoch Bebels Broschüre Unsere Ziele zur Hand, so findet man in ihr vollkommen falsche Betrachtungen über den Staat:

„Der Staat soll also aus einem auf Klassenherrschaft beruhenden Staat in einen Volksstaat verwandelt werden.“ (Unsere Ziele, deutsche Ausgabe von 1886, S.14.)

So zu lesen in der neunten (neunten!) Auflage der Bebelschen Broschüre! Kein Wunder, daß die so hartnäckig wiederholten opportunistischen Betrachtungen über den Staat der deutschen Sozialdemokratie in Fleisch und Blut übergingen, besonders da man die revolutionären Erläuterungen von Engels vor der Welt geheimhielt und da die ganzen Lebensverhältnisse für lange Zeit von der Revolution „entwöhnten“.

 

 

4. Kritik des Entwurfs des Erfurter Programms

Die Kritik des Entwurfs des Erfurter Programms [23], die Engels am 29. Juni 1891 an Kautsky sandte und die erst zehn Jahre später in der Neuen Zeit veröffentlicht wurde, darf bei der Analyse der marxistischen Lehre vom Staat nicht übergangen werden, da sie hauptsächlich gerade der Kritik der opportunistischen Anschauungen der Sozialdemokratie in den Fragen der Staatsordnung gewidmet ist.

Nebenbei sei bemerkt, daß Engels in Fragen der Ökonomik ebenfalls einen außerordentlich wertvollen Fingerzeig gibt, der beweist, wie aufmerksam und überlegt er namentlich die Veränderungen des modernen Kapitalismus verfolgte und wie er es daher verstand, bis zu einem gewissen Grad die Aufgaben unserer, der imperialistischen, Epoche vorwegzunehmen. Hier dieser Fingerzeig: Über das Wort „Planlosigkeit“, das im Programmentwurf zur Kennzeichnung des Kapitalismus angewendet wurde, schreibt Engels:

„... wenn wir von den Aktiengesellschaften übergehen zu den Trusts, die ganze Industriezweige beherrschen und monopolisieren, so hört da nicht nur die Privatproduktion auf, sondern auch die Planlosigkeit“ (Neue Zeit, XX. Jahrgang, 1901/02, Bd.1, S.8).

Hier ist das Grundlegende in der theoretischen Einschätzung des neuesten Kapitalismus, d.h. des Imperialismus, gegeben, nämlich, daß sich der Kapitalismus in monopolistischen Kapitalismus verwandelt. Das letztere muß besonders hervorgehoben werden, denn zu den meistverbreiteten Irrtümern gehört die bürgerlich-reformistische Behauptung, der monopolistische oder staatsmonopolistische Kapitalismus sei schon kein Kapitalismus mehr, er könne bereits als „Staatssozialismus“ bezeichnet werden und ähnliches mehr. Eine vollständige Planmäßigkeit boten die Trusts natürlich nicht, bieten sie bis auf den heutigen Tag nicht und können sie nicht bieten. Soweit sie auch Planmäßigkeit bieten, soweit die Kapitalmagnaten den Umfang der Produktion in nationalem oder gar internationalem Maßstab auch im voraus berechnen, soweit sie die Produktion auch planmäßig regulieren – wir verbleiben trotz allem im Kapitalismus, wenn auch in einem neuen Stadium, aber doch unverkennbar im Kapitalismus. Die „Nähe“ eines solchen Kapitalismus zum Sozialismus muß für wirkliche Vertreter des Proletariats ein Beweisgrund sein für die Nähe, Leichtigkeit, Durchführbarkeit und Dringlichkeit der sozialistischen Revolution, keineswegs aber ein Argument dafür, daß man die Ablehnung dieser Revolution und die Beschönigung des Kapitalismus, wie dies bei allen Reformisten zu finden ist, tolerant hinnehmen solle.

Doch kehren wir zur Frage des Staates zurück. Engels gibt hier dreierlei besonders wertvolle Hinweise: erstens in der Frage der Republik, zweitens über den Zusammenhang zwischen der nationalen Frage und der Staatsordnung und drittens über die lokale Selbstverwaltung.

Was die Republik betrifft, so hat Engels sie zum Schwerpunkt seiner Kritik am Entwurf des Erfurter Programms gemacht. Und wenn wir bedenken, welche Bedeutung das Erfurter Programm in der ganzen internationalen Sozialdemokratie gewonnen hat, daß es für die gesamte II. Internationale zum Vorbild geworden ist, so wird man ohne Übertreibung sagen dürfen, daß Engels hier den Opportunismus der gesamten II. Internationale kritisiert.

„Die politischen Forderungen des Entwurfs“, schreibt Engels, „haben einen großen Fehler. Das, was eigentlich gesagt werden sollte, steht nicht drin“ (hervorgehoben von Engels).

Und weiter wird auseinandergesetzt, daß die deutsche Reichsverfassung im Grunde einen Abklatsch der äußerst reaktionären Verfassung von 1850 bilde, daß der Reichstag nach einem Ausspruch Wilhelm Liebknechts nur das „Feigenblatt des Absolutismus“ sei, daß auf Grundlage dieser Verfassung, die die Kleinstaaterei und den Bund der deutschen Kleinstaaten sanktioniert, eine „Umwandlung aller Arbeitsmittel in Gemeineigentum“ durchführen zu wollen, „augenscheinlich sinnlos“ sei.

„Daran zu tasten ist aber gefährlich“, fügt Engels hinzu, der nur zu gut weiß, daß es unmöglich ist, in Deutschland im Programm die Forderung der Republik legal zu erheben. Aber mit dieser einleuchtenden Erwägung, mit der sich „alle“ zufriedengeben, findet sich Engels nicht ohne weiteres ab. Er fährt fort: „Und dennoch muß so oder so die Sache angegriffen werden. Wie nötig das ist, beweist gerade jetzt der in einem großen Teile der sozialdemokratischen Presse einreißende Opportunismus. Aus Furcht vor einer Erneuerung des Sozialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter der Herrschaft jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal der gegenwärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei genügen können, alle ihre Forderungen auf friedlichem Wege durchzuführen.“

Daß die deutschen Sozialdemokraten aus Furcht vor einer Wiedereinführung des Ausnahmegesetzes handelten, diese grundlegende Tatsache rückt Engels in den Vordergrund und bezeichnet sie ohne Umschweife als Opportunismus; gerade weil in Deutschland Republik und Freiheit fehlen, erklärt er die Träume von einem „friedlichen“ Weg für völlig sinnlos. Engels ist vorsichtig genug, sich nicht die Hände zu binden. Er gibt zu, daß man sich in Republiken oder sonst in Ländern mit weitgehender Freiheit eine friedliche Entwicklung zum Sozialismus „vorstellen kann“ (nur „vorstellen“!), aber in Deutschland, wiederholt er,

„... in Deutschland, wo die Regierung fast allmächtig und der Reichstag und alle anderen Vertretungskörperschaften ohne wirkliche Macht, in Deutschland so etwas proklamieren und noch dazu ohne Not, heißt das Feigenblatt dem Absolutismus abnehmen und sich selbst vor die Blöße binden.“

Die offiziellen Führer der deutschen sozialdemokratischen Partei, die diese Hinweise „zu den Akten“ gelegt hatte, erwiesen sich in ihrer überwiegenden Mehrheit denn auch in der Tat als Schirmer des Absolutismus.

„Eine solche Politik kann nur die eigene Partei auf die Dauer irreführen. Man schickt allgemeine, abstrakte politische Fragen in den Vordergrund und verdeckt dadurch die nächsten konkreten Fragen, die Fragen, die bei den ersten großen Ereignissen, bei der ersten politischen Krise sich selbst auf die Tagesordnung setzen. Was kann dabei herauskommen, als daß die Partei plötzlich im entscheidenden Moment ratlos ist, daß über die entscheidendsten Punkte Unklarheit und Uneinigkeit herrscht, weil diese Punkte nie diskutiert worden sind ...

Dies Vergessen der großen Hauptgesichtspunkte über den augenblicklichen Interessen des Tages, dies Ringen und Trachten nach dem Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die späteren Folgen, dies Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Bewegung willen mag ‚ehrlich‘ gemeint sein, aber Opportunismus ist und bleibt es, und der ‚ehrliche‘ Opportunismus ist vielleicht der gefährlichste von allen ...

Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsere Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat.“

Engels wiederholt hier in besonders plastischer Form jenen Grundgedanken, der sich wie ein roter Faden durch alle Werke von Marx zieht, nämlich, daß die demokratische Republik der unmittelbare Zugang zur Diktatur des Proletariats ist. Denn diese Republik, die in keiner Weise die Herrschaft des Kapitals und somit die Unterdrückung der Massen und den Klassenkampf beseitigt, führt unvermeidlich zu solcher Ausdehnung, Entfaltung, Entblößung und Verschärfung dieses Kampfes, daß, sobald einmal die Möglichkeit entsteht, die Grundinteressen der unterdrückten Massen zu befriedigen, diese Möglichkeit unausbleiblich und allein durch die Diktatur des Proletariats verwirklicht wird, dadurch, daß das Proletariat die Massen führt. Für die gesamte II. Internationale sind auch das „vergessene Worte“ des Marxismus, und das Vergessen dieser Worte trat außerordentlich kraß in der Geschichte der Partei der Menschewiki während des ersten halben Jahres der russischen Revolution von 1917 zutage.

Zur Frage der Föderativrepublik im Zusammenhang mit der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung schrieb Engels:

„Was soll an die Stelle“ (des jetzigen Deutschlands mit seiner reaktionären monarchistischen Verfassung und der ebenso reaktionären Kleinstaaterei, die das spezifische „Preußentum“ verewigt, statt beides in Deutschland als Ganzem aufgehen zu lassen) „treten? Nach meiner Ansicht kann das Proletariat nur die Form der einen und unteilbaren Republik gebrauchen. Die Föderativrepublik ist auf dem Riesengebiet der Vereinigten Staaten jetzt noch im ganzen eine Notwendigkeit, obgleich sie im Osten bereits ein Hindernis wird. Sie wäre ein Fortschritt in England, wo vier Nationen auf den beiden Inseln wohnen und trotz eines Parlaments schon jetzt dreierlei Gesetzsysteme nebeneinander bestehen. Sie ist in der kleinen Schweiz schon längst ein Hindernis geworden, erträglich nur, weil die Schweiz sich damit begnügt, ein rein passives Glied des europäischen Staatensystems zu sein. Für Deutschland wäre die föderalistische Verschweizerung ein enormer Rückschritt. Zwei Punkte unterscheiden den Bundesstaat vom Einheitsstaat, daß jeder verbündete Einzelstaat, jeder Kanton seine eigene Zivil- und Kriminalgesetzgebung und Gerichtsverfassung hat, und dann, daß neben dem Volkshaus ein Staatenhaus besteht, worin jeder Kanton, groß oder klein, als solcher stimmt.“ In Deutschland ist der Bundesstaat der Übergang zum Einheitsstaat, und die 1866 und 1870 gemachte „Revolution von oben“ darf man nicht wieder rückgängig machen, sondern muß sie durch eine „Bewegung von unten“ ergänzen.

Die Staatsformen sind Engels keineswegs gleichgültig, er ist im Gegenteil bemüht, mit außerordentlicher Sorgfalt gerade die Übergangsformen zu analysieren, um je nach den konkret-historischen Eigentümlichkeiten jedes Einzelfalles festzustellen, wovon und wozu die betreffende Form den Übergang bildet.

Engels, wie auch Marx, verficht vom Standpunkt des Proletariats und der proletarischen Revolution aus den demokratischen Zentralismus, die eine und unteilbare Republik. Die föderative Republik betrachtet er entweder als Ausnahmefall und als Hindernis der Entwicklung oder als Übergang von der Monarchie zur zentralistischen Republik, unter bestimmten besonderen Verhältnissen als einen „Fortschritt“. Und unter diesen besonderen Verhältnissen rückt die nationale Frage in den Vordergrund.

Bei Engels wie auch bei Marx findet man, trotz ihrer schonungslosen Kritik an der reaktionären Kleinstaaterei und an der Verschleierung dieses ihres reaktionären Charakters durch die nationale Frage in bestimmten konkreten Fällen, nirgends die leiseste Spur eines Bestrebens, der nationalen Frage aus dem Wege zu gehen, eines Bestrebens, das sich häufig die holländischen und polnischen Marxisten zuschulden kommen lassen, die von dem durchaus berechtigten Kampf gegen den spießerhaft-beschränkten Nationalismus „ihrer“ kleinen Staaten ausgehen.

Selbst in England, wo sowohl die geographischen Bedingungen als auch die Gemeinsamkeit der Sprache und die Geschichte vieler Jahrhunderte die nationale Frage in den einzelnen kleinen Teilen Englands „erledigt“ zu haben scheinen, selbst hier trägt Engels der klaren Tatsache Rechnung, daß die nationale Frage noch nicht überwunden ist, und sieht darum in der föderativen Republik einen „Fortschritt“. Selbstverständlich ist hier auch nicht der geringste Verzicht auf eine Kritik an den Mängeln der föderativen Republik, auf die entschiedenste Propaganda und den Kampf für eine einheitliche, zentralistisch-demokratische Republik zu finden.

Engels faßt aber den demokratischen Zentralismus keineswegs in dem bürokratischen Sinne auf, in dem die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologen, darunter auch die Anarchisten, diesen Begriff gebrauchen. Der Zentralismus schließt für Engels nicht im geringsten jene weitgehende lokale Selbstverwaltung aus, die, bei freiwilliger Wahrung der Einheit des Staates durch die „Kommunen“ und Provinzen, jeden Bürokratismus und jedes „Kommandieren“ von oben unbedingt beseitigt.

„Also einheitliche Republik“, schreibt Engels, die programmatischen Ansichten des Marxismus über den Staat entwickelnd. „Aber nicht im Sinne der heutigen französischen, die weiter nichts ist als das 1798 begründete Kaiserreich ohne den Kaiser. Von 1792 bis 1798 besaß jedes französische Departement, jede Gemeinde vollständige Selbstverwaltung nach amerikanischem Muster, und das müssen wir auch haben. Wie die Selbstverwaltung einzurichten ist und wie man ohne Bürokratie fertig werden kann, das bewies uns Amerika und die erste französische Republik, und noch heute Australien, Kanada und die anderen englischen Kolonien. Und eine solche provinzielle und gemeindliche Selbstverwaltung ist weit freier als zum Beispiel der Schweizer Föderalismus, wo der Kanton zwar sehr unabhängig ist gegenüber dem Bund“ (d.h. dem föderativen Gesamtstaat), „aber auch gegenüber dem Bezirk und der Gemeinde. Die Kantonalregierungen ernennen Bezirksstatthalter und Präfekten, wovon man in den Ländern englischer Zunge nichts weiß und die wir uns ebenso höflichst in Zukunft verbeten haben wollen, wie die preußischen Landräte und Regierungsräte“ (Kommissare, Kreispolizeichefs, Gouverneure, überhaupt alle von oben ernannten Beamten). Engels empfiehlt dementsprechend, im Programm den Punkt über die Selbstverwaltung wie folgt zu formulieren: „Vollständige Selbstverwaltung in Provinz“ (Gouvernement oder Gebiet), „Kreis und Gemeinde durch nach allgemeinem Stimmrecht gewählte Beamte. Abschaffung aller von Staats wegen ernannten Lokal- und Provinzialbehörden.“

In der von der Regierung Kerenskis und der anderen „sozialistischen“ Minister verbotenen Prawda (Nr.68 vom 28. Mai 1917) [24] hatte ich bereits Gelegenheit, darauf hinzuweisen, wie in diesem Punkt – freilich bei weitem nicht nur in diesem allein – unsere angeblich sozialistischen Vertreter einer angeblich revolutionären angeblichen Demokratie sich himmelschreiende Verstöße gegen den Demokratismus leisteten. Es ist begreiflich, daß Leute, die sich durch eine „Koalition“ mit der imperialistischen Bourgeoisie gebunden haben, für diese Hinweise taub blieben.

Es ist äußerst wichtig hervorzuheben, daß Engels an Hand von Tatsachen, an einem ganz exakten Beispiel, das – besonders unter der kleinbürgerlichen Demokratie – weitverbreitete Vorurteil widerlegt, die föderative Republik bedeute unbedingt mehr Freiheit als die zentralistische. Das ist falsch. Das widerlegen die Tatsachen, die Engels über die zentralistische französische Republik von 1792 bis 1798 und die föderalistische schweizerische Republik anführt. Die wirklich demokratische zentralistische Republik bot mehr Freiheit als die föderalistische. Oder anders ausgedrückt: Die größte lokale, provinzielle, usw. Freiheit, die die Geschichte kennt, hat die zentralistische und nicht die föderative Republik geboten.

Dieser Tatsache, wie überhaupt der ganzen Frage der föderativen und der zentralistischen Republik sowie der lokalen Selbstverwaltung, wurde und wird in unserer Parteipropaganda und –agitation nicht genügend Beachtung geschenkt.

 

 

5. Die Einleitung vom Jahre 1891 zu Marx’ „Der Bürgerkrieg in Frankreich“

In seiner Einleitung zur dritten Auflage des „Bürgerkriegs in Frankreich“ – diese Einleitung datiert vom 18. März 1891 und war ursprünglich in der Neuen Zeit veröffentlicht – gibt Engels neben interessanten beiläufigen Bemerkungen zu Fragen, die mit dem Verhältnis zum Staat zusammenhängen, eine überaus prägnante Zusammenfassung der Lehren der Kommune. [25] Diese Zusammenfassung, vertieft durch die ganze Erfahrung eines Zeitabschnitts von zwanzig Jahren, der den Verfasser von der Kommune trennte, und speziell gegen die in Deutschland verbreitete „abergläubische Verehrung des Staats“ gerichtet, kann mit Recht als das letzte Wort des Marxismus zu der Frage, die wir hier untersuchen, bezeichnet werden.

In Frankreich, bemerkt Engels, waren die Arbeiter nach jeder Revolution bewaffnet, „für die am Staatsruder befindlichen Bourgeois war daher Entwaffnung der Arbeiter erstes Gebot. Daher nach jeder, durch die Arbeiter erkämpften Revolution ein neuer Kampf, der mit der Niederlage der Arbeiter endigt.“

Diese Bilanz der Erfahrungen der bürgerlichen Revolutionen ist ebenso kurz wie bedeutungsvoll. Das Wesen der Sache – unter anderem auch in der Frage des Staates (ob die unterdrückte Klasse Waffen besitzt) – ist hier treffend erfaßt. Gerade diesen Kern umgehen meistenteils sowohl die unter dem Einfluß der bürgerlichen Ideologie stehenden Professoren als auch die kleinbürgerlichen Demokraten. In der russischen Revolution von 1917 fiel dem „Menschewik“ und „Auch-Marxisten“ Zereteli die Ehre zu (eine Cavaignacsche Ehre), dieses Geheimnis der bürgerlichen Revolutionen auszuplaudern. In seiner „historischen“ Rede vom 11. Juni plauderte Zereteli aus der Schule, die Bourgeoisie sei entschlossen, die Petrograder Arbeiter zu entwaffnen, wobei er natürlich diesen Beschluß auch als seinen eigenen wie überhaupt als eine „Staats“notwendigkeit hinstellte!

Die historische Rede Zeretelis vom 11. Juni wird natürlich für jeden Geschichtsschreiber der Revolution von 1917 eine der anschaulichsten Illustrationen dafür bieten, wie sich der von Herrn Zereteli geführte Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki gegen das revolutionäre Proletariat auf die Seite der Bourgeoisie geschlagen hat.

Eine andere beiläufige Bemerkung von Engels, die ebenfalls mit der Frage des Staates zusammenhängt, bezieht sich auf die Religion. Es ist bekannt, daß die deutsche Sozialdemokratie in dem Maße, wie sie versumpfte und immer opportunistischer wurde, immer häufiger zu einer philisterhaften Falschdeutung der berühmten Formel „Erklärung der Religion zur Privatsache“ hinabsank. Nämlich: Diese Formel wurde so gedeutet, als sei auch für die Partei des revolutionären Proletariats die Frage der Religion Privatsache!! Gegen diesen völligen Verrat am revolutionären Programm des Proletariats macht Engels Front, der 1891 erst ganz schwache Keime des Opportunismus in seiner Partei beobachtete und sich daher äußerst vorsichtig ausdrückte:

„Wie in der Kommune fast nur Arbeiter oder anerkannte Arbeitervertreter saßen, so trugen auch ihre Beschlüsse einen entschieden proletarischen Charakter. Entweder dekretierten sie Reformen, die die republikanische Bourgeoisie nur aus Feigheit unterlassen hatte, die aber für die freie Aktion der Arbeiterklasse eine notwendige Grundlage bildeten, wie die Durchführung des Satzes, daß dem Staat gegenüber die Religion bloße Privatsache sei; oder sie erließ Beschlüsse direkt im Interesse der Arbeiterklasse und teilweise tief einschneidend in die alte Gesellschaftsordnung.“

Engels unterstrich die Worte „dem Staat gegenüber“ mit Vorbedacht, um haargenau den deutschen Opportunismus zu treffen, der die Religion der Partei gegenüber zur Privatsache erklärte und auf diese Weise die Partei des revolutionären Proletariats auf das Niveau eines banalen „freidenkerischen“ Spießertums hinabdrückte, das bereit ist, Konfessionslosigkeit zu dulden, aber auf den Kampf der Partei gegen das volksverdummende Opium Religion verzichtet.

Der künftige Geschichtsschreiber der deutschen Sozialdemokratie wird beim Aufspüren der Wurzeln ihres schmachvollen Zusammenbruchs im Jahre 1914 nicht wenig interessantes Material zu dieser Frage vorfinden, angefangen von den ausweichenden, dem Opportunismus Tür und Tor öffnenden Erklärungen in den Artikeln Kautskys, des ideologischen Führers der Partei, bis zu dem Verhalten der Partei zu der „Los-von-der-Kirche-Bewegung“ im Jahre 1913.

Gehen wir jedoch zu den Lehren über, die Engels zwanzig Jahre nach der Kommune aus ihren Erfahrungen für das kämpfende Proletariat zog.

Das sind die Lehren, die Engels in den Vordergrund rückte:

„Gerade die unterdrückende Macht der bisherigen zentralisierten Regierung, Armee, politische Polizei, Bürokratie, die Napoleon 1798 geschaffen und die seitdem jede neue Regierung als willkommenes Werkzeug übernommen und gegen ihre Gegner ausgenutzt hatte, gerade diese Macht sollte überall fallen, wie sie in Paris bereits gefallen war.

Die Kommune mußte gleich von vornherein anerkennen, daß die Arbeiterklasse, einmal zur Herrschaft gekommen, nicht fortwirtschaften könne mit der alten Staatsmaschine; daß diese Arbeiterklasse, um nicht ihrer eignen, erst eben eroberten Herrschaft wieder verlustig zu gehn, einerseits alle die alte, bisher gegen sie selbst ausgenutzte Unterdrückungsmaschinerie beseitigen, andrerseits aber sich sichern müsse gegen ihre eignen Abgeordneten und Beamten, indem sie diese, ohne alle Ausnahme, für jederzeit absetzbar erklärte.“

Engels unterstreicht immer wieder, daß nicht nur in der Monarchie, sondern auch in der demokratischen Republik der Staat Staat bleibt, d.h. sein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal beibehält: die beamteten Personen, die „Diener der Gesellschaft“, ihre Organe in Herren über die Gesellschaft zu verwandeln.

„Gegen diese, in allen bisherigen Staaten unumgängliche Verwandlung des Staates und der Staatsorgane aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft wandte die Kommune zwei unfehlbare Mittel an. Erstens besetzte sie alle Stellen, verwaltende, richtende, lehrende, durch Wahl nach allgemeinem Stimmrecht der Beteiligten, und zwar auf jederzeitigen Widerruf durch dieselben Beteiligten. Und zweitens zahlte sie für alle Dienste, hohe wie niedrige, nur den Lohn, den andre Arbeiter empfingen. Das höchste Gehalt, das sie überhaupt zahlte, war 6000 Franken [A]. Damit war der Stellenjägerei und dem Strebertum ein sichrer Riegel vorgeschoben, auch ohne die gebundnen Mandate bei Delegierten zu Vertretungskörpern, die noch zum Überfluß hinzugefügt wurden.“

Engels gelangt hier an jene denkwürdige Grenze, wo eine konsequente Demokratie sich auf der einen Seite in Sozialismus verwandelt und auf der andern Seite den Sozialismus erfordert. Denn zur Aufhebung des Staates ist nötig, daß die Funktionen des Staatsdienstes in solche einfachen Operationen der Kontrolle und Rechnungsführung verwandelt werden, die für die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung und später für die gesamte Bevölkerung ohne Ausnahme verständlich und ausführbar sind. Zur völligen Beseitigung des Strebertums ist es erforderlich, daß ein „Ehrenamt“ im Staatsdienst, auch wenn es nichts einbringt, nicht als Sprungbrett dienen kann, um in hochbezahlte Stellungen bei Banken und Aktiengesellschaften zu gelangen, wie das in allen kapitalistischen Ländern, auch den freiesten, ständig vorkommt.

Engels begeht aber nicht den Fehler, den z.B. manche Marxisten in der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen begehen: im Kapitalismus sei die Selbstbestimmung unmöglich und im Sozialismus überflüssig. Eine derartige, anscheinend geistreiche, in Wirklichkeit aber falsche Argumentation ließe sich über jede beliebige demokratische Einrichtung wiederholen, auch über die bescheidenen Beamtengehälter, denn ein vollauf konsequenter Demokratismus ist unter dem Kapitalismus unmöglich, im Sozialismus wird aber jede Demokratie absterben.

Das ist eine Sophisterei, die an die alte Scherzfrage erinnert, ob ein Mensch beginnt kahlköpfig zu werden, wenn er ein Haar verliert.

Entwicklung der Demokratie bis zu Ende, Auffinden der Formen einer solchen Entwicklung, ihre Erprobung in der Praxis usw. – das alles bildet eine der integrierten Aufgaben des Kampfes um die soziale Revolution. Für sich genommen wird kein Demokratismus den Sozialismus bringen. Im Leben aber wird der Demokratismus nie „für sich genommen“, sondern er wird mit anderen Erscheinungen „zusammengenommen“, er wird seinen Einfluß auch auf die Ökonomik ausüben, ihre Umgestaltung fördern, dem Einfluß der ökonomischen Entwicklung unterliegen usw. Das ist die Dialektik der lebendigen Geschichte.

Engels fährt fort:

„Diese Sprengung der bisherigen Staatsmacht und ihre Ersetzung durch eine neue, in Wahrheit demokratische, ist im dritten Abschnitt des Bürgerkriegs eingehend geschildert. Es war aber nötig, hier nochmals kurz auf einige Züge derselben einzugehn, weil gerade in Deutschland der Aberglaube an den Staat aus der Philosophie sich in das allgemeine Bewußtsein der Bourgeoisie und selbst vieler Arbeiter übertragen hat. Nach der philosophischen Vorstellung ist der Staat die ‚Verwirklichung der Idee‘ oder das ins Philosophische übersetzte Reich Gottes auf Erden, das Gebiet, worauf die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit sich verwirklicht oder verwirklichen soll. Und daraus folgt dann eine abergläubische Verehrung des Staats und alles dessen, was mit dem Staat zusammenhängt, und die sich um so leichter einstellt, als man sich von Kindesbeinen daran gewöhnt hat, sich einzubilden, die der ganzen Gesellschaft gemeinsamen Geschäfte und Interessen könnten nicht anders besorgt werden, als wie sie bisher besorgt worden sind, nämlich durch den Staat und seine wohlbestallten Behörden. Und man glaubt schon einen ganz gewaltig kühnen Schritt getan zu haben, wenn man sich frei gemacht vom Glauben an die erbliche Monarchie und auf die demokratische Republik schwört. In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird, und dessen schlimmste Seiten es, ebensowenig wie die Kommune, umhinkönnen wird, sofort möglichst zu beschneiden, bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun.“

Engels ermahnte die Deutschen, bei der Ersetzung der Monarchie durch eine Republik nicht die Grundlagen des Sozialismus in der Frage des Staates überhaupt zu vergessen. Seine Warnungen lesen sich jetzt geradezu wie eine Lektion für die Herren Zereteli und Tschernow, die in ihrer „Koalitions“praxis ihren Aberglauben an den Staat und ihre abergläubische Verehrung des Staates offenbart haben!

Noch zwei Bemerkungen. Erstens: Wenn Engels sagt, daß in einer demokratischen Republik der Staat „nicht minder“ als in der Monarchie eine „Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre“ bleibt, so bedeutet das durchaus nicht, daß die Form der Unterdrückung dem Proletariat gleichgültig sei, wie manche Anarchisten „lehren“. Eine breitere, freiere, offenere Form des Klassenkampfes und der Klassenunterdrückung bedeutet für das Proletariat eine riesige Erleichterung im Kampf um die Aufhebung der Klassen überhaupt.

Zweitens: Die Frage, warum erst ein neues Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun, hängt mit der Frage der Überwindung der Demokratie zusammen, einer Frage, zu der wir nun übergehen.

 

 

6. Engels über die Überwindung der Demokratie

Engels hatte Gelegenheit, sich darüber zu äußern im Zusammenhang mit der Frage der wissenschaftlichen Unrichtigkeit der Bezeichnung „Sozialdemokrat“.

Im Vorwort zu einer Ausgabe seiner Aufsätze zu verschiedenen Themen aus den siebziger Jahren hauptsächlich „internationalen“ Inhalts (Internationales aus dem Volksstaat), datiert vom 3. Januar 1894, also anderthalb Jahre vor seinem Tod, schrieb Engels, er habe in allen Aufsätzen das Wort „Kommunist“ und nicht „Sozialdemokrat“ gebraucht, weil sich damals die Proudhonisten in Frankreich und die Lassalleaner in Deutschland Sozialdemokraten nannten.

„Für Marx und mich“, fährt Engels fort, „war es daher rein unmöglich, zur Bezeichnung unseres speziellen Standpunkts einen Ausdruck von solcher Dehnbarkeit zu wählen. Heute ist das anders, und so mag das Wort“ („Sozialdemokrat“) „passieren, so unpassend es bleibt für eine Partei, deren ökonomisches Programm nicht bloß allgemein sozialistisch, sondern direkt kommunistisch, und deren politisch letztes Endziel die Überwindung des ganzen Staates, also auch der Demokratie ist. Die Namen wirklicher“ (hervorgehoben von Engels) „politischer Parteien stimmen aber nie ganz; die Partei entwickelt sich, der Name bleibt.“ [26]

Der Dialektiker Engels bleibt am Ende seiner Tage der Dialektik treu. Marx und ich, sagt er, hatten einen ausgezeichneten, wissenschaftlich exakten Namen für die Partei, aber es fehlte die wirkliche, d.h. die proletarische Massenpartei. Jetzt (Ende des 19. Jahrhunderts) existiert eine wirkliche Partei, aber ihr Name ist wissenschaftlich unrichtig. Tut nichts, er „mag passieren“, wenn nur die Partei sich entwickelt, wenn nur die wissenschaftliche Ungenauigkeit ihres Namens der Partei selbst nicht verborgen bleibt und sie nicht daran hindert, sich in der richtigen Richtung zu entwickeln!

Mancher Spaßvogel könnte am Ende auch uns, die Bolschewiki, nach der Art von Engels trösten wollen: Wir haben eine wirkliche Partei, sie entwickelt sich vorzüglich; es mag also auch ein so sinnloses und monströses Wort wie „Bolschewik“ „passieren“, das nichts weiter ausdrückt als den rein zufälligen Umstand, daß wir 1903 auf dem Parteitag in Brüssel-London die Mehrheit hatten ... Jetzt, da die Verfolgungen unserer Partei im Juli und August durch die Republikaner und die „revolutionäre“ kleinbürgerliche Demokratie das Wort „Bolschewik“ im ganzen Volk zu einem Ehrennamen gemacht, jetzt, da diese Verfolgungen außerdem einen so gewaltigen, historischen Fortschritt unserer Partei in ihrer wirklichen Entwicklung markiert haben – jetzt hätte auch ich vielleicht Bedenken, wie im April vorzuschlagen, den Namen unserer Partei zu ändern. Vielleicht würde ich meinen Genossen einen „Kompromiß„ vorschlagen: uns Kommunistische Partei zu nennen und das Wort Bolschewiki in Klammern beizubehalten ...

Doch die Frage nach der Benennung der Partei ist unvergleichlich weniger wichtig als die Frage nach dem Verhältnis des revolutionären Proletariats zum Staat.

In den landläufigen Betrachtungen über den Staat wird fortwährend der Fehler begangen, vor dem hier Engels warnt und den wir in den vorhergegangenen Darlegungen beiläufig gestreift haben. Man vergißt nämlich immer, daß die Aufhebung des Staates auch die Aufhebung der Demokratie bedeutet, daß das Absterben des Staates ein Absterben der Demokratie ist.

Auf den ersten Blick mag diese Behauptung höchst sonderbar und unverständlich erscheinen; bei manchem dürfte sogar die Befürchtung aufkommen, daß wir den Anbruch einer Gesellschaftsordnung erwarten, in der das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit nicht eingehalten werden würde, denn Demokratie sei doch gerade die Anerkennung dieses Prinzips!

Nein. Demokratie ist nicht identisch mit der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit. Demokratie ist ein die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit anerkennender Staat, d.h. eine Organisation zur systematischen Gewaltanwendung einer Klasse gegen die andere, eines Teils der Bevölkerung gegen den anderen.

Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jeder organisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt. Wir erwarten nicht, daß eine Gesellschaftsordnung anbricht, in der das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit nicht eingehalten werden würde. Doch in unserem Streben zum Sozialismus sind wir überzeugt, daß er in den Kommunismus hinüberwachsen wird und daß im Zusammenhang damit jede Notwendigkeit der Gewaltanwendung gegen Menschen überhaupt, der Unterordnung eines Menschen unter den anderen, eines Teils der Bevölkerung unter den anderen verschwinden wird, denn die Menschen werden sich daran gewöhnen, die elementaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Gewalt und ohne Unterdrückung einzuhalten.

Um dieses Element der Gewohnheit zu betonen, spricht Engels eben von einem neuen Geschlecht, das, „in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsen, imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun“ – jedes Staatswesen abzuschaffen, auch das demokratisch-republikanische.

Um sich das klarzumachen, bedarf es einer Untersuchung der Frage nach den ökonomischen Grundlagen für das Absterben des Staates.

 

 

Fußnote von Lenin

A. Nominell waren das zirka 2400 Rubel, nach dem heutigen Kurs [1917!] zirka 6000 Rubel. Ganz unverzeihlich handeln die Bolschewiki, die z.B. vorschlagen, in den städtischen Dumas Gehälter von 9000 Rubel einzuführen, statt ein Maximum von 6000 Rubel für den ganzen Staat zu beantragen – eine Summe, die durchaus genügen dürfte.

 

Anmerkungen

20. Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, in Marx u. Engels, Werke, Bd.18, S.226/227.

Weiter unten zitiert Lenin dieselbe Schrift von Engels.

21. Lenin meint die Artikel von Karl Marx Der politische Indifferentismus und von Friedrich Engels Von der Autorität, die im Dezember 1873 in dem italienischen Sammelband Almanacco Republicano per l’anno 1874 veröffentlicht wurden. Siehe Marx u. Engels, Werke, Bd.18, S.299-304 u. 305-308.

Weiter unten zitiert Lenin dieselben Schriften.

22. Siehe Marx u. Engels, Werke, Bd.19, S.6/7.

23. Das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie wurde auf dem Erfurter Parteitag im Oktober 1891 an Stelle des Gothaer Programms von 1875 angenommen. Das Erfurter Programm dokumentierte, daß sich der Marxismus in der deutschen Arbeiterbewegung durchgesetzt hatte. Es enthielt jedoch andererseits auch Mängel, die es später den Revisionisten erleichterten, in der Epoche des Imperialismus das Erfurter Programm für die Verbreitung ihrer opportunistischen Ideen zu mißbrauchen. Siehe Engels’ Kritik des Erfurter Programms, in Marx u. Engels, Werke, Bd.22, S.225-240.

24. Siehe Lenin, Werke, Bd.24, S.539-542.

25. Siehe Marx u. Engels, Werke, Bd.17, S.613-625.

26. Siehe Marx u. Engels, Werke, Bd.22, S.417/418.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008