Wladimir Iljitsch Lenin

 

Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus

 

IX. Kritik des Imperialismus

 

Die Kritik des Imperialismus fassen wir im weiten Sinne des Wortes als die Stellung auf, die die verschiedenen Gesellschaftsklassen in Verbindung mit ihrer allgemeinen Ideologie zur Politik des Imperialismus einnehmen.

Einerseits die gigantischen Ausmaße des in wenigen Händen konzentrierten Finanzkapitals, das sich ein außergewöhnlich weitverzweigtes und dichtes Netz von Beziehungen und Verbindungen schafft, durch das es sich die Masse nicht nur der mittleren und kleinen, sondern selbst der kleinsten Kapitalisten und Unternehmer unterwirft; anderseits der verschärfte Kampf mit den anderen nationalstaatlichen Finanzgruppen um die Aufteilung der Welt und um die Herrschaft über andere Länder – all dies führt zum geschlossenen Übergang aller besitzenden Klassen auf die Seite des Imperialismus. „Allgemeine“ Begeisterung für seine Perspektiven, wütende Verteidigung des Imperialismus, seine Beschönigung in jeder nur möglichen Weise – das ist das Zeichen der Zeit. Die imperialistische Ideologie dringt auch in die Arbeiterklasse ein. Diese ist nicht durch eine chinesische Mauer von den anderen Klassen getrennt. Wenn die Führer der heutigen sogenannten „sozialdemokratischen“ Partei Deutschlands mit Recht „Sozialimperialisten“ genannt werden, d.h. Sozialisten in Worten, Imperialisten in der Tat, so hat Hobson bereits 1902 in England das Vorhandensein von „Fabier-Imperialisten“ festgestellt, die der opportunistischen „Gesellschaft der Fabier“ angehören.

Bürgerliche Gelehrte und Publizisten treten als Verteidiger des Imperialismus gewöhnlich in etwas verkappter Form auf, indem sie die völlige Herrschaft des Imperialismus und seine tiefen Wurzeln vertuschen, dafür aber Einzelheiten und nebensächliche Details in den Vordergrund zu rücken versuchen, um durch ganz unernste „Reform“projekte von der Art einer Polizeiaufsicht über die Trusts oder Banken u.a. die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen abzulenken. Seltener treten zynische, offene Imperialisten auf, die den Mut haben, auszusprechen, wie unsinnig es ist, die Grundeigenschaften des Imperialismus reformieren zu wollen.

Wir wollen ein Beispiel anführen. Im Weltwirtschaftlichen Archiv befleißigen sich die deutschen Imperialisten die nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien, besonders natürlich in den nichtdeutschen, zu verfolgen. Sie registrieren eine Gärung und Proteste in Indien, eine Bewegung in Natal (Südafrika), in Niederländisch Indien usw. In der Besprechung eines englischen Berichts über die vom 28. bis 30. Juni 1910 abgehaltene Konferenz unterworfener Nationen und Rassen, an der Vertreter verschiedener unter Fremdherrschaft stehender Völker Asiens, Afrikas und Europas teilnahmen schreibt einer dieser Imperialisten in Einschätzung der auf der Konferenz gehaltenen Reden: „Der Imperialismus, so heißt es, soll bekämpft werden; die herrschenden Staaten sollen das Recht der unterworfenen Völker auf Selbstregierung anerkennen, und ein internationaler Gerichtshof soll die Handhabung der zwischen den Großmächten und den schwächeren Völkern geschlossenen Verträge überwachen. Über diese frommen Wünsche kommt man nicht hinaus. Von der Einsicht, daß der Imperialismus mit dem Kapitalismus in seiner heutigen Gestalt unzertrennlich verbunden ist, bemerken wir keine Spur und darum (!!) ebensowenig von der Einsicht, daß eine direkte Bekämpfung des Imperialismus aussichtslos ist, es sei denn, daß man sich darauf beschränkt, gegen einige besonders häßliche Exzesse aufzutreten.“ (110) Weil eine Verbesserung der Grundlagen des Imperialismus durch Reformen ein Betrug, ein „frommer Wunsch“ ist, weil die bürgerlichen Vertreter der unterdrückten Nationen nicht „darüber hinaus“ kommen, darum geht der bürgerliche Vertreter der unterdrückenden Nation nach rückwärts „darüber hinaus“, nämlich bis zur Liebedienerei vor dem Imperialismus, die mit Ansprüchen auf „Wissenschaftlichkeit“ verbrämt wird. Auch eine „Logik“!

Die Fragen, ob eine Änderung der Grundlagen des Imperialismus durch Reformen möglich sei, ob man vorwärts gehen solle, zur weiteren Verschärfung und Vertiefung der durch ihn erzeugten Widersprüche, oder rückwärts, zu deren Abstumpfung, das sind Kernfragen der Kritik des Imperialismus. Da zu den politischen Besonderheiten des Imperialismus die Reaktion auf der ganzen Linie sowie die Verstärkung der nationalen Unterdrückung in Verbindung mit dem Druck der Finanzoligarchie und mit der Beseitigung der freien Konkurrenz gehören, so tritt mit Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen imperialistischen Ländern eine kleinbürgerlich-demokratische Opposition gegen den Imperialismus auf. Und der Bruch Kautskys und der weitverbreiteten internationalen Strömung des Kautskyanertums mit dem Marxismus besteht gerade darin, daß Kautsky es nicht nur unterlassen, es nicht verstanden hat, dieser kleinbürgerlichen, reformistischen, ökonomisch von Grund aus reaktionären Opposition entgegenzutreten, sondern sich im Gegenteil praktisch mit ihr vereinigt hat.

In den Vereinigten Staaten hat der imperialistische Krieg gegen Spanien im Jahre 1898 die Opposition der „Antiimperialisten“ hervorgerufen; diese letzten Mohikaner der bürgerlichen Demokratie, die diesen Krieg ein „Verbrechen“ nannten, hielten die Annexion fremder Länder für einen Verfassungsbruch, erklärten die Behandlung des Eingeborenenführers auf den Philippinen, Aguinaldo, für einen „chauvinistischen Betrug“ (man hatte ihm erst die Freiheit seines Landes versprochen, dann aber amerikanische Truppen landen lassen und die Philippinen annektiert) und zitierten Lincolns Ausspruch: „Wenn der Weiße sich selbst regiert, so ist das Selbstverwaltung; wenn er aber sich selbst und zugleich noch andere regiert, so ist das nicht mehr Selbstverwaltung, es ist Despotie.“ (111) Aber solange diese ganze Kritik davor zurückscheute, die unzertrennliche Verbindung des Imperialismus mit den Trusts und folglich auch mit den Grundlagen des Kapitalismus zuzugeben, solange sie Angst hatte, sich den Kräften, die durch den Großkapitalismus und seine Entwicklung erzeugt werden, anzuschließen, solange blieb diese Kritik ein „frommer Wunsch“.

Von derselben Art ist die Grundeinstellung Hobsons in seiner Kritik des Imperialismus. Hobson nahm Kautsky vorweg, indem er sich gegen die „Unvermeidlichkeit des Imperialismus“ wandte und sich auf die Notwendigkeit berief, „die Konsumtionsfähigkeit der Bevölkerung zu heben“ (unter dem Kapitalismus!). Auf dem kleinbürgerlichen Standpunkt in der Kritik des Imperialismus, der Allmacht der Banken, der Finanzoligarchie usw. stehen auch die von uns mehrfach zitierten Agahd, A. Lansburgh, L. Eschwege und von den französischen Autoren Victor Bérard, der Verfasser eines oberflächlichen Buches: England und der Imperialismus, das 1900 erschienen ist. Sie alle, die durchaus nicht den Anspruch erheben, Marxisten zu sein, stellen dem Imperialismus die freie Konkurrenz und die Demokratie entgegen, verurteilen das Abenteuer der Bagdadbahn, das zu Konflikten und zum Krieg führe, äußern „fromme Wünsche“ nach Frieden usw. – bis hinauf zu dem Statistiker der internationalen Emissionen, A. Neymarck, der 1912 die Hunderte von Milliarden Francs „internationaler“ Werte berechnete und ausrief: „Ist es denkbar, daß der Frieden gebrochen werden könnte? ... daß man bei diesen ungeheuren Zahlen riskieren würde, einen Krieg zu beginnen?“ (112)

Bei bürgerlichen Ökonomen ist eine derartige Naivität nicht verwunderlich; für sie ist es überdies auch vorteilhaft, so naiv zu tun und „im Ernst“ von Frieden unter dem Imperialismus zu reden. Was ist aber bei Kautsky vom Marxismus übriggeblieben, wenn er sich in den Jahren 1914, 1915, 1916 auf denselben bürgerlich-reformistischen Standpunkt stellt und behauptet, „alle“ (Imperialisten, Quasisozialisten und Sozialpazifisten) seien sich in der Frage des Friedens „einig“? Statt einer Analyse und Aufdeckung der tiefen Widersprüche des Imperialismus sehen wir nichts als den reformerischen „frommen Wunsch“, sie mit einer Handbewegung abzutun, sich mit Worten über sie hinwegzusetzen.

Hier ein Musterbeispiel von Kautskys ökonomischer Kritik des Imperialismus. Er nimmt die Daten über Englands Ein- und Ausfuhrhandel mit Ägypten für die Jahre 1872 und 1912; es stellt sich heraus daß diese Ein- und Ausfuhr langsamer wuchs als die gesamte Ein- und Ausfuhr Englands. Und Kautsky folgert daraus „Wir haben keine Ursache, anzunehmen, daß er“ (der Handel Englands mit Ägypten) ohne die militärische Besetzung Ägyptens durch das bloße Gewicht der ökonomischen Faktoren weniger gewachsen wäre.“ „Diese Ausdehnugsbestrebungen“ (des Kapitals) „werden am besten nicht durch die gewalttätigen Methoden des Imperialismus, sondern durch die friedlich Demokratie gefördert.“ (113)

Diese Betrachtungen Kautskys. die ihm sein russischer Schildknappe (und russischer Beschützer der Sozialchauvinisten). Herr Spectator, in hundertfältigen Variationen nachplappert, bilden die Grundlage der Kautskyschen Kritik des Imperialismus, und deshalb müssen wir ausführlicher darauf eingehen. Wir beginnen mit einem Zitat aus Hilferding, dessen Schlußfolgerungen Kautsky mehrfach, auch im April 1915, als „von den sozialistischen Theoretikern einhellig akzeptiert“ erklärte.

„Es ist nicht Sache des Proletariats“, schreibt Hilferding, „der fortgeschritteneren kapitalistischen Politik gegenüber die überwundene der Freihandelsära und der Staatsfeindschaft entgegenzusetzen. Die Antwort des Proletariats auf die Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals, den Imperialismus, kann nicht der Freihandel, kann nur der Sozialismus sein. Nicht das reaktionär gewordene Ideal der Wiederherstellung der freien Konkurrenz, sondern völlige Aufhebung der Konkurrenz durch Überwindung des Kapitalismus kann jetzt allein das Ziel proletarischer Politik sein.“ (114)

Kautsky hat mit dem Marxismus gebrochen, da er für die Epoche des Finanzkapitals ein „reaktionär gewordenes Ideal“ die „friedliche Demokratie“, das „bloße Gewicht der ökonomischen Faktoren“ predigt – denn objektiv zerrt uns dieses Ideal zurück, vom mononpolitischen zum nichtmonopolistischen Kapitalismus, ist es ein reformistischer Betrug.

Der Handel mit Ägypten (oder mit einer anderen Kolonie oder Halbkolonie) „wäre“ stärker „gewachsen“ ohne militärische Besetzung, ohne Imperialismus, ohne Finanzkapital. Was bedeutet das? Daß sich der Kapitalismus rascher entwickelt hätte, wenn die freie Konkurrenz nicht eingeschränkt gewesen wäre, weder durch Monopole überhaupt noch durch „Beziehungen“ oder den Druck (d.h. wiederum durch das Monopol) des Finanzkapitals, noch durch die monopolistische Beherrschung von Kolonien seitens einzelner Länder?

Einen anderen Sinn können Kautskys Betrachtungen nicht haben, und dieser „Sinn“ ist Unsinn. Angenommen, es wäre richtig, daß sich Kapitalismus und Handel bei freier Konkurrenz, ohne irgendwelche Monopole, schneller entwickeln würden. Aber je schneller die Entwicklung des Handels und des Kapitalismus vor sich geht, um so stärker ist doch die Konzentration der Produktion und des Kapitals, die das Monopol erzeugt. Und die Monopole sind ja schon entstanden, gerade aus der freien Konkurrenz! Selbst wenn die Monopole jetzt die Entwicklung zu verlangsamen begonnen haben, so ist das dennoch kein Argument zugunsten der freien Konkurrenz, die unmöglich geworden ist, nachdem sie die Monopole erzeugt hat.

Wie immer man Kautskys Betrachtungen auch dreht und wendet, es kommt nichts anderes heraus als reaktionäre Einstellung und bürgerliches Reformertum.

Wollte man diese Betrachtung korrigieren und sagen, wie es Spectator tut: der Handel der englischen Kolonien mit England entwickelt sich jetzt langsamer als der Handel mit anderen Ländern, so würde das Kautsky auch nicht retten. Denn England wird ebenfalls vom Monopol, ebenfalls vom Imperialismus, nur dem eines anderen Landes (Amerikas, Deutschlands), geschlagen. Bekanntlich haben die Kartelle zu Schutzzöllen neuer, origineller Art geführt: es werden gerade diejenigen Produkte geschützt (das hat bereits Engel in dritten Band des Kapitals |Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd.25, S.130| vermerkt), die exportfähig sind. Bekannt ist ferner das den Kartellen und dem Finanzkapital eigene System der „Ausfuhr zu Schleuderpreisen“, des „Dumping“, wie die Engländer sagen: Im Inland verkauft das Kartell seine Erzeugnisse zu monopolistischen Höchstpreisen, im Ausland aber setzt es sie zu Schleuderpreisen ab, um die Konkurrenz zu untergraben, die eigene Produktion zu steigern usw. Wenn Deutschlands Handel mit den englischen Kolonien sich schneller entwickelt als der Englands, so beweist das lediglich, daß der deutsche Imperialismus frischer, kräftiger, organisierter ist und höher steht als der englische, es beweist aber keineswegs die „Überlegenheit“ des freien Handels, denn hier kämpft nicht Freihandel gegen Schutzzollsystem und koloniale Abhängigkeit, sondern Imperialismus gegen Imperialismus, Monopol gegen Monopol, Finanzkapital gegen Finanzkapital. Die Überlegenheit des deutschen Imperialismus über den englischen ist stärker als die Mauer der Kolonialgrenzen oder der Schutzzölle: Daraus ein „Argument“ für Freihandel und „friedliche Demokratie“ zu konstruieren ist eine Plattheit, heißt die Grundzüge und Haupteigenschaften des Imperialismus vergessen, heißt an Stelle des Marxismus spießbürgerlichen Reformismus setzen.

Interessant ist, daß sogar der bürgerliche Ökonom A. Lansburgh, der den Imperialismus genauso spießbürgerlich kritisiert wie Kautsky, immerhin mit mehr Wissenschaftlichkeit an die Bearbeitung der Handelsstatistik heranging. Er verglich nicht ein einzelnes, zufällig herausgegriffenes Land und nicht nur eine Kolonie mit den anderen Ländern, sondern er verglich den Export eines imperialistischen Landes 1. nach Ländern, die von ihm finanziell abhängig sind, von ihm Geld leihen, und 2. nach Ländern, die finanziell unabhängig sind. Dabei kam er zu folgendem Ergebnis:

Ausfuhr aus Deutschland
(in Mill. Mark)

1889

1908

Steigerung in %

Nach den von Deutschland finanziell
abhängigen Ländern:

Rumänien

     48,2

     70,8

+   47%

Portugal

     19,0

     ;32,8

+   73%

Argentinien

     60,7

   147,0

+ 143%

Brasilien

     48,7

     84,5

+   73%

Chile

     28,3

     52,4

+   85%

Türkei

     29,9

     64,0

+ 114%

Summa

   234,8

   451,5

+   92%

Nach den von Deutschland finanziell
unabhängigen Ländern:

Großbritannien

   651,8

   997,4

+   53%

Frankreich

   210,2

   437,9

+ 108%

Belgien

   137,2

   322,8

+ 135%

Schweiz

   177,4

   401,1

+ 127%

Australien

     21,2

     64,5

+ 205%

Niederländisch-
Indien

       8,8

     40,7

+ 363%

Summa

1.206,6

2.264,4

+   87%

Lansburgh hat die Summen nicht gezogen und deshalb seltsamerweise nicht bemerkt, daß diese Zahlen, wenn sie überhaupt etwas beweisen, nur gegen ihn sprechen, denn der Export nach den finanziell abhängigen Ländern wuchs, wenn auch nur um weniges, immerhin schneller als der nach den finanziell unabhängigen Ländern (wir betonen „wenn“, denn Lansburghs Statistik ist bei weitem noch nicht vollständig).

Dem Zusammenhang zwischen Export und Anleihen nachgehend, schreibt Lansburgh:

„In den Jahren 1890/91 wurde eine rumänische Anleihe von deutschen Banken übernommen, die bereits in den vorhergehenden Jahren Vorschüsse darauf gegeben hatten. Die Anleihe diente in der Hauptsache der Beschaffung von Eisenbahnmaterial, das aus Deutschland bezogen wurde. Im Jahre 1891 betrug die deutsche Ausfuhr nach Rumänien 55 Mill. M. Im nächsten Jahre sank sie auf 39,4 Millionen, um mit Unterbrechungen bis auf 25,4 Millionen (1900) zurückzugehen. Erst in den allerletzten Jahren ist der Stand von 1891 wieder erreicht worden – dank ein paar neuen Anleihen.

Die deutsche Ausfuhr nach Portugal stieg infolge der Anleihen von 1888/89 bis auf 21,1 Mill. M (1890), fiel dann in den beiden folgenden Jahren auf 16,2 und 7,4 Millionen und erreichte ihren alten Stand erst wieder im Jahre 1903.

Noch krasser gestalteten sich die Dinge im deutsch-argentinischen Verkehr. Infolge der Anleihen von 1888 und 1890 bezifferte sich die deutsche Ausfuhr nach Argentinien im Jahre 1889 auf 60,7 Mill. M. Zwei Jahre später betrug die Ausfuhr nur noch 18,6 Mill. M, also nicht den dritten Teil. Erst 1901 wurde der Höhepunkt von 1889 erstmalig überschritten, was mit der Übernahme neuer Staats- und Stadtanleihen, der Geldhingabe zur Errichtung von Elektrizitätswerken und sonstigen Kreditgewährungen zusammenhing.

Die Ausfuhr nach Chile stieg infolge der Anleihe von 1889 auf 45,2 Mill. M (1892) und fiel im zweiten Jahr darauf unter die Hälfte, auf 22,5 Mill. M. Nach Übernahme einer neuen Anleihe seitens deutscher Banken im Jahre 1906 stieg die Ausfuhr auf 84,7 Mill. M (1907), um bereits 1908 wieder auf 52,4 Millionen zu fallen.“ (115)

Lansburgh leitet aus diesen Tatsachen die ergötzliche Spießermoral ab, wie unsicher und ungleichmäßig die an Anleihen geknüpfte Ausfuhr sei, wie übel es sei, Kapitalien nach dem Ausland zu exportieren, anstatt die einheimische Industrie „natürlich“ und „harmonisch“ fortzuentwickeln, wie „teuer“ Krupp die Millionen Bakschisch bei Auslandsanleihen zu stehen kommen u.dgl.m. Aber die Tatsachen besagen deutlich: Die Steigerung des Exports ist gerade an die Schwindelmanöver des Finanzkapitals geknüpft, das sich nicht um die bürgerliche Moral schert und dem Ochsen das Fell zweimal über die Ohren zieht: einmal durch die Profite aus der Anleihe und dann durch die Profite aus derselben Anleihe, sobald sie zum Ankauf der Kruppschen Erzeugnisse oder der Eisenbahnmaterialien des Stahlsyndikat usw. verwendet wird.

Wir wiederholen: Wir halten Lansburghs Statistik keineswegs für vollkommen, aber sie mußte angeführt werden, denn sie ist wissenschaftlicher als die Kautskys und Spectators, da Lansburgh an die Frage einigermaßen richtig herangeht. Um über die Bedeutung des Finanzkapitals für die Ausfuhr usw. ein Urteil abzugeben, muß man es verstehen, den Zusammenhang der Ausfuhr speziell und lediglich mit den Manövern der Finanziers, speziell und lediglich mit dem Absatz der Kartellerzeugnisse usw. herauszuarbeiten. Aber einfach Kolonien überhaupt mit Nichtkolonien, einen Imperialismus mit einem andern Imperialismus, eine Halbkolonie oder Kolonie (Ägypten) mit allen übrigen Ländern zu vergleichen heißt gerade das Wesen der Dinge umgehen und vertuschen.

Die theoretische Kritik des Imperialismus bei Kautsky hat eben deshalb nichts mit dem Marxismus gemein, sie taugt eben deshalb nur als Ausgangspunkt für die Propaganda des Friedens und der Einheit mit den Opportunisten und Sozialchauvinisten, weil diese Kritik gerade die tiefsten und fundamentalsten Widersprüche des Imperialismus umgeht und vertuscht: den Widerspruch zwischen den Monopolen und der neben ihnen existierenden freien Konkurrenz, zwischen den riesenhaften „Transaktionen“ (und riesenhaften Profiten) des Finanzkapitals und dem „ehrlichen“ Handel auf dem freien Markt, zwischen den Kartellen und Trusts einerseits und der nichtkartellierten Industrie anderseits usw.

Ebenso reaktionären Charakter trägt auch die von Kautsky erfundene berüchtigte Theorie des „Ultraimperialismus“. Man vergleiche nur seine Betrachtung über dieses Thema im Jahre 1915 mit der Hobsons aus dem Jahre 1902.

Kautsky: „... ob es nicht möglich sei, daß die jetzige imperialistische Politik durch eine neue, ultraimperialistische verdrängt werde, die a n Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital setzte. Eine solche neue Phase des Kapitalismus ist jedenfalls denkbar. Ob auch realisierbar, das zu entscheiden fehlen noch die genügenden Voraussetzungen.“ (116)

Hobson: „Das Christentum. das sich so auf wenige große föderative Reiche ausgebreitet hat, von denen jedes eine Reihe von unzivilisierten Kolonien und abhängigen Ländern beherrscht, erscheint vielen als höchst gesetzmäßige Entwicklung der Tendenzen der Gegenwart, und dazu als eine Entwicklung, die am ehesten einen dauernden Frieden auf der festen Grundlage des Interimperialismus erhoffen läßt.“ (117)

Kautsky hat also Ultraimperialismus oder Überimperialismus das genannt, was Hobson 13 Jahre früher Interimperialsmus oder Zwischenimperialismus nannte. Außer der Erfindung eines neuen hochgelahrten Wörtchens mittels Ersetzung einer lateinischen Vorsilbe durch eine andere besteht der Fortschritt des „wissenschaftlichen“ Denken bei Kautsky nur in der Anmaßung, etwas als Marxismus auszugeben, was Hobson im Grunde genommen als Heuchelei englischer Pfaffen bezeichnet. Nach dem Burenkrieg war es für diesen hochehrwürdigen Stand ganz natürlich, seine Bemühungen hauptsächlich auf die Vertröstung der englischen Kleinbürger und Arbeiter zu richten, die in den südafrikanischen Schlachten nicht wenige Tote verloren hatten und die Sicherung der erhöhten Profite der englischen Finanzleute mit erhöhten Steuern bezahlen mußten. Und welche Vertröstung hätte besser sein können als die, daß der Imperialismus gar nicht so schlimm sei, daß er sich dem Inter- (oder Ultra-)imperialismus nähere, der dauernden Frieden zu gewährleisten imstande sei? Was immer auch die wohlgemeinten Absichten der englischen Pfaffen oder des süßlichen Kautsky sein mögen, der objektive, d.h. wirkliche soziale Sinn seiner „Theorie“ ist einzig und allein der: eine höchst reaktionäre Vertröstung der Massen auf die Möglichkeit eines dauernden Friedens im Kapitalismus, indem man die Aufmerksamkeit von den akuten Widersprüchen und akuten Problemen der Gegenwart ablenkt auf die verlogenen Perspektiven irgendeines angeblich neuen künftigen „Ultraimperialismus“. Betrug an den Massen und sonst absolut nichts ist der Inhalt von Kautskys „marxistischer“ Theorie.

In der Tat, es genügt, allgemein bekannte, unbestreitbare Tatsachen einander gegenüberzustellen, um sich davon zu überzeugen, wie verlogen die Perspektiven sind, die Kautsky den deutschen Arbeitern (und den Arbeitern aller Länder) weiszumachen sucht. Man nehme Indien, Indochina und China. Bekanntlich werden diese drei kolonialen und halbkolonialen Länder mit einer Bevölkerung von 600-700 Millionen Menschen vom Finanzkapital einiger imperialistischer Mächte – Englands, Frankreichs, Japans, der Vereinigten Staaten usw. – ausgebeutet. Angenommen, diese imperialistischen Staaten schlössen Bündnisse, ein Bündnis gegen ein anderes, um ihren Besitz, ihre Interessen und „Einflußsphären“ in den genannten asiatischen Staaten zu behaupten oder auszudehnen. Das wären „interimperialistische“ oder „ultraimperialistische“ Bündnisse. Angenommen, sämtliche imperialistischen Mächte schlössen ein Bündnis zur „friedlichen“ Aufteilung der genannten asiatischen Länder – das wäre ein „international verbündetes Finanzkapital“. Es gibt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts faktische Beispiele eines derartigen Bündnisses, z.B. im Verhalten der Mächte zu China. Es fragt sich nun, ist die Annahme „denkbar“, daß beim Fortbestehen des Kapitalismus (und diese Bedingung setzt Kautsky gerade voraus) solche Bündnisse nicht kurzlebig wären, daß sie Reibungen, Konflikte und Kampf in jedweden und allen möglichen Formen ausschließen würden?

Es genügt, diese Frage klar zu stellen, um sie nicht anders als mit Nein zu beantworten. Denn unter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen- und Einflußsphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar. Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig, denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen. Trusts, Industriezweige und Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben. Vor einem halben Jahrhundert war Deutschland, wenn man seine kapitalistische Macht mit der des damaligen Englands vergleicht, eine klägliche Null; ebenso Japan im Vergleich zu Rußland. Ist die Annahme „denkbar“, daß das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Mächten nach zehn, zwanzig Jahren unverändert geblieben sein wird? Das ist absolut undenkbar.

„Interimperialistische“ oder „ultraimperialistische“ Bündnisse sind daher in der kapitalistischen Wirklichkeit, und nicht in der banalen Spießerphantasie englischer Pfaffen oder des deutschen „Marxisten“ Kautsky, notwendigerweise nur „Atempausen“ zwischen Kriegen – gleichviel, in welcher Form diese Bündnisse geschlossen werden, ob in der Form einer imperialistischen Koalition gegen eine andere imperialistische Koalition oder in der Form eines allgemeinen Bündnisses aller imperialistischen Mächte. Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen einen Wechsel der Formen friedlichen und nicht friedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik. Der neunmalweise Kautsky aber trennt, um die Arbeiter zu beschwichtigen und sie mit den zur Bourgeoisie übergegangenen Sozialchauvinisten auszusöhnen, ein Glied der einheitlichen Kette von dem anderen, trennt das heutige friedliche (und ultraimperialistische, ja sogar ultra-ultraimperialistische) Bündnis aller Mächte zur „Befriedung“ Chinas (man denke an die Niederwerfung des Boxeraufstands) von dem morgigen nicht friedlichen Konflikt, der übermorgen wiederum ein „friedliches“ allgemeines Bündnis zur Aufteilung, sagen wir, der Türkei vorbereitet, usw. usf. Statt des lebendigen Zusammenhangs zwischen den Perioden des imperialistischen Friedens und den Perioden imperialistischer Kriege präsentiert Kautsky den Arbeitern eine tote Abstraktion, um sie mit ihren töten Führern auszusöhnen.

Der Amerikaner Hill unterscheidet in dem Vorwort zu seiner Geschichte der Diplomatie in der internationalen Entwicklung Europas folgende Perioden der neueren Geschichte der Diplomatie 1. Ära der Revolution; 2. der konstitutionellen Bewegung; 3. Ära des „Handelsimperialismus“ (118) unserer Tage. Ein anderer Autor teilt die Geschichte der „Weltpolitik“ Großbritanniens seit 1870 in 4 Perioden ein, und zwar: 1. die erste asiatische (Kampf gegen Rußlands Vordringen in Zentralasien in Richtung nach Indien); 2. die afrikanische (etwa 1885-1902) – Kampf gegen Frankreich wegen der Aufteilung Afrikas („Faschoda“ 1898 – um Haaresbreite Krieg mit Frankreich); 3. die zweite asiatische (Vertrag mit Japan gegen Rußland) und 4. die „europäische“ hauptsächlich gegen Deutschland gerichtet. (119) „Die politischen Vorpostengefechte werden auf finanziellem Boden geschlagen“, schrieb schon 1905 der „Bankmann“ Riesser und wies darauf hin, wie das französische Finanzkapital durch seine Transaktionen in Italien das politische Bündnis dieser beiden Länder vorbereitete und wie sich der Kampf zwischen England und Deutschland um Persien sowie der Kampf aller europäischen Kapitale um die chinesischen Anleihen usw. entfaltete. Das ist die lebendige Wirklichkeit der „ultraimperialistischen“ friedlichen Bündnisse in ihrem untrennbaren Zusammenhang mit den gewöhnlichen imperialistischen Konflikten.

Kautskys Vertuschung der tiefsten Widersprüche des Imperialismus, woraus unvermeidlich eine Beschönigung des Imperialismus wird, hinterläßt ihre Spuren auch in seiner Kritik der politischen Eigenschaften des Imperialismus. Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole, die überallhin den Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit tragen. Reaktion auf der ganzen Linie, gleichviel unter welchem politischen System, äußerste Zuspitzung der Gegensätze auch auf diesem Gebiet – das ist das Ergebnis dieser Tendenz. Insbesondere verschärfen sich auch die nationale Unterdrückung und der Drang nach Annexionen, d.h. nach Verletzung der nationalen Unabhängigkeit (denn Annexion ist ja nichts anderes als Verletzung der Selbstbestimmung der Nationen). Mit Recht hebt Hilferding den Zusammenhang des Imperialismus mit der Verschärfung der nationalen Unterdrückung hervor. „In den neu erschlossenen Ländern selbst aber“, schreibt er, „steigert der importierte Kapitalismus die Gegensätze und erregt den immer wachsenden Widerstand der zu nationalem Bewußtsein erwachenden Völker gegen die Eindringlinge, der sich leicht zu gefährlichen Maßnahmen gegen das Fremdkapital steigern kann. Die alten sozialen Verhältnisse werden völlig revolutioniert, die agrarische, tausendjährige Gebundenheit der ‚geschichtslosen Nationen‘ gesprengt, diese selbst in den kapitalistischen Strudel hineingezogen. Der Kapitalismus selbst gibt den Unterworfenen allmählich die Mittel und Wege zu ihrer Befreiung. Das Ziel, das einst das höchste der europäischen Nationen war, die Herstellung des nationalen Einheitsstaates als Mittel der ökonomischen und kulturellen Freiheit, wird auch zu dem ihren. Diese Unabhängigkeitsbewegung bedroht das europäische Kapital gerade in seinen wertvollsten und aussichtsreichsten Ausbeutungsgebieten, und immer mehr kann es seine Herrschaft nur durch stete Vermehrung seiner Machtmittel erhalten.“ (120)

Es muß hinzugefügt werden, daß der Imperialismus nicht allein in den neu erschlossenen, sondern auch in den alten Ländern zu Annexionen, zur Verstärkung der nationalen Unterdrückung und folglich auch zur Verschärfung des Widerstands führt. Kautsky wendet sich gegen die Verstärkung der politischen Reaktion durch den Imperialismus, läßt aber die besonders akut gewordene Frage, daß in der Epoche des Imperialismus eine Einheit mit den Opportunisten unmöglich ist, im dunkeln. Er wendet sich gegen Annexionen, kleidet aber seine Einwände in eine Form, die für die Opportunisten am unverfänglichsten und am ehesten annehmbar ist. Obwohl er sich unmittelbar an das deutsche Publikum wendet, vertuscht er dennoch gerade das Wichtigste und Aktuellste, beispielsweise die Tatsache, daß Elsaß-Lothringen eine Annexion Deutschlands darstellt. Zur Kennzeichnung dieser „Gedankenrichtung“ Kautskys sei hier ein Beispiel angeführt. Angenommen, ein Japaner verurteilt die Annexion der Philippinen durch die Amerikaner. Es fragt sich nun: Werden viele daran glauben, daß er dies aus Abscheu vor Annexionen überhaupt tut und nicht etwa von dem Wunsch geleitet, die Philippinen selber zu annektieren? Und wird man nicht zugeben müssen, daß man den „Kampf“ des Japaners gegen Annexionen nur und nur dann für aufrichtig und politisch ehrlich halten kann, wenn er sich gegen die Annexion Koreas durch Japan wendet und für Korea die Freiheit der Lostrennung von Japan fordert?

Sowohl Kautskys theoretische Analyse des Imperialismus wie auch seine ökonomische und politische Kritik des Imperialismus sind völlig von einem mit dem Marxismus absolut nicht zu vereinbarenden Geist der Vertuschung und Verwischung der grundlegenden Gegensätze durchdrungen, von dem Bestreben, die zerfallende Einheit mit dem Opportunismus in der europäischen Arbeiterbewegung um jeden Preis aufrechtzuerhalten.

 

 

Fußnoten von Lenin

(110) Weltwirtschaftliches Archiv, Bd.II, S.193ff.

(111) J. Patouillet, L’impérialisme américain, Dijon 1904, S.272.

(112) Bulletin de l’Institut international de Statistique, t.XIX, livr.II, p.225.

(113) Kautsky, Nationalstaat, imperialistischer Staat und Staatenbund, Nürnberg 1915, S.72 und 70.

(114) Das Finanzkapital, S.567.

(115) Die Bank, 1909, 2, S.819ff.

(116) Die Neue Zeit, 30. April 1915, 144.

(117) Hobson, Imperialism, London 1902, S.351.

(118) David Jayne Hill, A History of Diplomacy in the International Development of Europe, vol.I, p.X.

(119) Schilder, a.a.O., S.178.

(120) Das Finanzkapital, S.457.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008