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Wir müssen nun noch auf eine sehr wichtige Seite des Imperialismus eingehen, die bei den meisten Betrachtungen über dieses Thema nicht genügend beachtet wird. Einer der Mängel des Marxisten Hilferding ist, daß er hier im Vergleich zu dem Nichtmarxisten Hobson einen Schritt rückwärts getan hat. Wir sprechen von dem Parasitismus, der dem Imperialismus eigen ist.
Wie wir gesehen haben, ist die tiefste ökonomische Grundlage des Imperialismus das Monopol. Dieses Monopol ist ein kapitalistisches, d.h. ein Monopol, das aus dem Kapitalismus erwachsen ist und im allgemeinen Milieu des Kapitalismus, der Warenproduktion, der Konkurrenz, in einem beständigen und unlösbaren Widerspruch zu diesem allgemeinen Milieu steht. Dennoch erzeugt es, wie jedes andere Monopol, unvermeidlich die Tendenz zur Stagnation und Fäulnis. In dem Maße, wie Monopolpreise, sei es auch nur vorübergehend, eingeführt werden, verschwindet bis zu einem gewissen Grade der Antrieb zum technischen und folglich auch zu jedem anderen Fortschritt, zur Vorwärtsbewegung; und insofern entsteht die ökonomische Möglichkeit, den technischen Fortschritt künstlich aufzuhalten. Ein Beispiel: In Amerika hat ein gewisser Owens eine Flaschenmaschine erfunden, die eine Revolution in der Flaschenherstellung herbeiführt. Das deutsche Kartell der Flaschenfabrikanten kauft Owens‚ Patente auf und legt sie in das unterste Schubfach, um ihre Auswertung zu verhindern. Gewiß kann das Monopol unter dem Kapitalismus die Konkurrenz auf dem Weltmarkt niemals restlos und auf sehr lange Zeit ausschalten (das ist übrigens einer der Gründe, warum die Theorie des Ultraimperialismus unsinnig ist). Die Möglichkeit, durch technische Verbesserungen die Produktionskosten herabzumindern und die Profite zu erhöhen, begünstigt natürlich Neuerungen. Aber die Tendenz zur Stagnation und Fäulnis, die dem Monopol eigen ist, wirkt nach wie vor und gewinnt in einzelnen Industriezweigen, in einzelnen Ländern für gewisse Zeitspannen die Oberhand.
Das Monopol der Beherrschung besonders ausgedehnter, reicher oder günstig gelegener Kolonien wirkt in derselben Richtung.
Weiter. Der Imperialismus bedeutet eine ungeheure Anhäufung von Geldkapital in wenigen Ländern, das, wie wir gesehen haben, 100 bis 150 Milliarden Francs in Wertpapieren erreicht. Daraus ergibt sich das außergewöhnliche Anwachsen der Klasse oder, richtiger, der Schicht der Rentner, d.h. Personen, die vom „Kuponschneiden“ leben, Personen, die von der Beteiligung an irgendeinem Unternehmen völlig losgelöst sind, Personen, deren Beruf der Müßiggang ist. Die Kapitalausfuhr, eine der wesentlichsten ökonomischen Grundlagen des Imperialismus, verstärkt diese völlige Isolierung der Rentnerschicht von der Produktion noch mehr und drückt dem ganzen Land, das von der Ausbeutung der Arbeit einiger überseeischer Länder und Kolonien lebt, den Stempel des Parasitismus auf.
„Im Jahre 1893“, schrieb Hobson, „betrug das im Ausland investierte britische Kapital ca. 15 Prozent des gesamten Reichtums des Vereinigten Königreichs.“ (96) Es sei daran erinnert, daß bis 1915 dieses Kapital ungefähr auf das Zweieinhalbfache gestiegen war. „Der aggressive Imperialismus“, lesen wir weiter bei Hobson, „der den Steuerzahlern so teuer zu stehen kommt und für den Industriellen und den Kaufmann so wenig Wert hat, ... bildet die Quelle großer Profite für den Kapitalisten, der Anlagemöglichkeiten für sein Kapital sucht“ (im Englischen wird dieser Begriff mit dem einen Wort „investor“ – „Kapitalanleger“, Rentner – ausgedrückt) ... Die Jahreseinnahme Großbritanniens aus seinem gesamten Außen- und Kolonialhandel, aus Einfuhr und Ausfuhr, wird von dem Statistiker Giffen für das Jahr 1899 auf 18 Mill. £“ (ca. 170 Mill. Rubel) „geschätzt, wobei er sie mit 2½% des Gesamtumsatzes von 800 Mill. £ annimmt.“ So groß diese Summe auch ist, vermag sie doch nicht den aggressiven Imperialismus Großbritanniens zu erklären. Dieser findet seine Erklärung vielmehr in den 90-100 Mill. Pfund Sterling, die die Einnahmen von „investiertem“ Kapital, die Einnahmen der Rentnerschicht darstellen.
Die Einnahmen der Rentner sind also im „handelstüchtigsten“ Lande der Welt fünfmal so groß wie die Einnahmen aus dem Außenhandel! Das ist das Wesen des Imperialismus und des imperialistischen Parasitismus.
Der Begriff „Rentnerstaat“ oder Wucherstaat wird daher in der ökonomischen Literatur über den Imperialismus allgemein gebräuchlich. Die Welt ist in ein Häuflein Wucherstaaten und in eine ungeheure Mehrheit von Schuldnerstaaten gespalten. „Unter den ausländischen Anlagen aber“, schreibt Schulze-Gaevernitz, „stehen diejenigen voran, welche politisch abhängigen oder nächstverbündeten Ländern zuteil werden: England borgt an Ägypten, Japan, China, Südamerika. Seine Kriegsflotte ist hier im Notfall der Gerichtsvollzieher. Politische Macht schützt England gegen die Schuldnerempörung.“ (97) Sartorius von Waltershausen stellt in seinem Werk „Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslande“ Holland als das Muster eines „Rentnerstaates“ hin und verweist darauf, daß England und Frankreich im Begriff sind, es zu werden. (98) Schilder meint, daß fünf Industriestaaten – Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und die Schweiz – „ausgesprochene Gläubigerländer“ sind. Holland zählt er nur deshalb nicht dazu, weil dieses Land „industriell weniger entwickelt“ (99) sei. Die Vereinigten Staaten seien nur in bezug auf Amerika ein Gläubigerland.
„England“, schreibt Schulze-Gaevernitz, „wächst aus dem Industriestaat allmählich in den Gläubigerstaat. Trotz absoluter Zunahme der industriellen Produktion, auch der industriellen Ausfuhr, steigt die relative Bedeutung der Zins- und Dividendenbezüge, der Emissions-, Kommissions- und Spekulationsgewinne für die Gesamtvolkswirtschaft. Es ist diese Tatsache meiner Meinung nach die wirtschaftliche Grundlage des imperialistischen Aufschwungs. Der Gläubiger hängt mit dem Schuldner dauernder zusammen als der Verkäufer mit dem Käufer.“ (100) Über Deutschland schrieb 1911 A. Lansburgh, der Herausgeber der Berliner Zeitschrift Die Bank, in dem Artikel Der deutsche Rentnerstaat: „Man spottet in Deutschland gern über den Hang zum Rentnertum, der bei der französischen Bevölkerung zu finden ist, und vergißt dabei, daß, soweit der Mittelstand in Betracht kommt, die deutschen Verhältnisse den französischen immer ähnlicher werden.“ (101)
Der Rentnerstaat ist der Staat des parasitären, verfaulenden Kapitalismus, und dieser Umstand muß sich unbedingt in allen sozialpolitischen Verhältnissen der betreffenden Länder im allgemeinen wie auch in den zwei Hauptströmungen der Arbeiterbewegung im besonderen widerspiegeln. Um das möglichst anschaulich zu zeigen, überlassen wir Hobson das Wort, der als Zeuge am „zuverlässigsten“ ist, da man ihn unmöglich der Voreingenommenheit für „marxistische Orthodoxie“ verdächtigen kann; anderseits ist er Engländer und kennt gut die Verhältnisse in dem an Kolonien wie an Finanzkapital und imperialistischer Erfahrung reichsten Lande.
Unter dem frischen Eindruck des Burenkriegs schilderte Hobson den Zusammenhang des Imperialismus mit den Interessen der „Finanziers“, deren wachsende Profite bei Aufträgen, Lieferungen usw., und schrieb: „Wenn es auch die Kapitalisten sind, die diese ausgesprochen parasitäre Politik lenken, so üben doch dieselben Motive auf gewisse Arbeiterkategorien ihre Wirkung aus. In vielen Städten sind die wichtigsten Industriezweige von Regierungsaufträgen abhängig: der Imperialismus der Zentren der Hütten- und Schiffbauindustrie ist in nicht geringem Maße dieser Tatsache zuzuschreiben.“ Zweierlei Umstände führten nach Hobsons Meinung zur Schwächung der alten Imperien: 1. „ökonomischer Parasitismus“ und 2. Zusammensetzung des Heeres aus Angehörigen abhängiger Völker. „Der erste ist die Gepflogenheit des ökonomischen Parasitismus, die darin besteht, daß der herrschende Staat seine Provinzen, Kolonien und die abhängigen Länder ausnutzt, um seine herrschende Klasse zu bereichern und die Fügsamkeit seiner unteren Klassen durch Bestechung zu erkaufen.“ Die Voraussetzung für die ökonomische Möglichkeit einer solchen Bestechung, einerlei in welcher Form sie geschieht, ist – fügen wir von uns aus hinzu – monopolistisch hoher Profit.
Über den zweiten Umstand schreibt Hobson: „Zu den seltsamsten Symptomen der Blindheit des Imperialismus gehört die Sorglosigkeit, mit der Großbritannien, Frankreich und andere imperialistische Nationen diesen Weg beschreiten. Großbritannien ist am weitesten gegangen. Die meisten Schlachten, durch die wir unser indisches Reich erobert haben, sind von unseren Eingeborenenarmeen ausgefochten worden; in Indien, und in letzter Zeit auch in Ägypten, sind große stehende Heere dem Kommando von Briten unterstellt; fast alle Kriege, die mit unseren afrikanischen Besitzungen mit Ausnahme der südlichen zusammenhängen, wurden von Eingeborenen für uns geführt.“
Die Perspektive der Aufteilung Chinas veranlaßt Hobson zu folgender ökonomischer Einschätzung: „Der größte Teil Westeuropas könnte dann das Aussehen und den Charakter annehmen, die einige Gegenden in Süd-England, an der Riviera sowie in den von Touristen am meisten besuchten und von den reichen Leuten bewohnten Teilen Italiens und der Schweiz bereits haben: ein Häuflein reicher Aristokraten, die Dividenden und Pensionen aus dem Fernen Osten beziehen, mit einer etwas größeren Gruppe von Angestellten und Händlern und einer noch größeren Anzahl von Dienstboten und Arbeitern im Transportgewerbe und in den letzten Stadien der Produktion leicht verderblicher Waren; die wichtigsten Industrien wären verschwunden. die Lebensmittel und Industriefabrikate für den Massenkonsum würden als Tribut aus Asien und Afrika kommen.“ „Wir haben die Möglichkeit einer noch umfassenderen Vereinigung der westlichen Länder angedeutet, eine europäische Föderation der Großmächte, die, weit entfernt, die Sache der Weltzivilisation voranzubringen, die ungeheure Gefahr eines westlichen Parasitismus heraufbeschwören könnte: eine Gruppe fortgeschrittener Industrienationen, deren obere Klassen aus Asien und Afrika gewaltige Tribute beziehen und mit Hilfe dieser Tribute große Massen gefügigen Personals unterhalten, die nicht mehr in der Produktion von landwirtschaftlichen und industriellen Massenerzeugnissen, sondern mit persönlichen Dienstleistungen oder untergeordneter Industriearbeit unter der Kontrolle einer neuen Finanzaristokratie beschäftigt werden. Mögen diejenigen, die eine solche Theorie“ (es müßte heißen Perspektive) „als nicht der Erwägung wert verächtlich abtun, die heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in jenen Bezirken Südenglands untersuchen, die schon jetzt in eine solche Lage versetzt sind, und mögen sie darüber nachdenken, welch gewaltiges Ausmaß ein derartiges System annehmen würde, wenn China der ökonomischen Herrschaft ähnlicher Gruppen von Finanziers, Investoren, von Beamten in Staat und Wirtschaft unterworfen würde, die das größte potentielle Profitreservoir, das die Welt je gekannt hat, ausschöpfen würden, um diesen Profit in Europa zu verzehren. Die Situation ist viel zu kompliziert, das Spiel der Weltkräfte viel zu unberechenbar, als daß diese oder irgendeine andere Zukunftsdeutung als einzige mit Sicherheit zutreffen müßte. Aber die Einflüsse, die den Imperialismus Westeuropas gegenwärtig beherrschen, bewegen sich in dieser Richtung, und wenn ihnen nicht Widerstand geleistet wird oder sie nicht in eine andere Richtung gedrängt werden, dann bewegen sie sich auf dieses Ziel zu.“ (102)
Der Verfasser hat vollkommen recht. Würden die Kräfte des Imperialismus nicht auf Widerstand stoßen. so würden sie eben dahin führen. Die Bedeutung der Vereinigten Staaten von Europa in der heutigen, imperialistischen Situation ist hier richtig bewertet. Man müßte nur hinzufügen, daß auch innerhalb der Arbeiterbewegung die Opportunisten, die heutzutage in den meisten Ländern vorübergehend gesiegt haben, sich systematisch und beharrlich gerade auf dieses Ziel „zubewegen“. Der Imperialismus, der die Aufteilung der Welt und die Ausbeutung nicht allein Chinas bedeutet, der monopolistisch hohe Profite für eine Handvoll der reichsten Länder bedeutet, schafft die ökonomische Möglichkeit zur Bestechung der Oberschichten des Proletariats und nährt, formt und festigt dadurch den Opportunismus. Nur darf man die dem Imperialismus im allgemeinen und dem Opportunismus im besonderen entgegenwirkenden Kräfte nicht vergessen, die der Sozialliberale Hobson natürlich nicht sieht.
Der deutsche Opportunist Gerhard Hildebrand, der seinerzeit wegen seiner Verteidigung des Imperialismus aus der Partei ausgeschlossen wurde, heute aber wohl ein Führer der sogenannten „sozialdemokratischen“ Partei Deutschlands sein könnte, ergänzt Hobson ausgezeichnet, indem er die „Vereinigten Staaten von Westeuropa“ (ohne Rußland) propagiert. und zwar zum „Zusammenwirken“ gegen ... die Neger Afrikas, gegen eine „islamitische Bewegung großen Stils“, zur „Bildung einer Heeres- und Flottenmacht allerersten Ranges“, gegen eine „chinesisch-japanische Koalition“ u.a.m. (103)
Die Schilderung, die uns Schulze-Gaevernitz vom „britischen Imperialismus“ gibt, deckt dieselben Merkmale des Parasitismus auf. Während sich in den Jahren 1865 bis 1898 das britische Volkseinkommen etwa verdoppelt hat, hat sich das Einkommen „vom Auslande“ in dieser Zeitspanne verneunfacht. Wenn zu den „Verdiensten“ des Imperialismus „die Erziehung der Farbigen zur Arbeit“ gerechnet wird (ohne Zwang gehe es dabei nicht ...), so besteht die „Gefahr“ des Imperialismus darin, daß Europa „die Arbeit überhaupt – zunächst die landwirtschaftliche und montane, sodann auch die gröbere industrielle Arbeit – auf die farbige Menschheit abschiebt und sich selbst in die Rentnerrolle zurückzieht, womit es vielleicht die wirtschaftliche und ihr folgend die politische Emanzipation der farbigen Rassen vorbereitet“.
Immer mehr Land wird in England der Landwirtschaft entzogen und für Sport und Amüsement der Reichen verwendet. Von Schottland, diesem aristokratischsten Jagd- und Sportplatz der Welt, wird gesagt, daß es „von seiner Vergangenheit und Herrn Carnegie“ (dem amerikanischen Milliardär) „lebt“. Allein für Pferderennen und Fuchsjagden gibt England jährlich 14 Millionen Pfund Sterling (etwa 130 Mill. Rubel) aus. Die Zahl der Rentner beläuft sich in England auf rund eine Million. Der Prozentsatz der produzierenden Bevölkerung geht zurück:
Bevölkerung |
Arbeiter in den |
In % der |
|
---|---|---|---|
1851 |
17,9 |
4,1 |
23% |
1901 |
32,5 |
4,9 |
15% |
Nun ist der bürgerliche Erforscher des „britischen Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ gezwungen, wenn er von der englischen Arbeiterklasse spricht, systematisch einen Unterschied zu machen zwischen der „Oberschicht“ der Arbeiter und der „eigentlichen proletarischen Unterschicht“. Die Oberschicht liefert die Mitgliedermasse der Genossenschaften und Gewerkschaften, der Sportvereine und der zahllosen religiösen Sekten. Ihrem Niveau ist auch das Wahlrecht angepaßt, das in England „immer noch beschränkt genug ist, um die eigentliche proletarische Unterschicht fernzuhalten“!! Um die Lage der englischen Arbeiterklasse zu beschönigen, pflegt man nur von dieser Oberschicht zu sprechen, die die Minderheit des Proletariats ausmacht: bei der Arbeitslosigkeit z.B. „handelt es sich überwiegend um eine Frage Londons und der proletarischen Unterschicht, welche politisch wenig in das Gewicht fallt„ ... (104) Es hätte heißen müssen: welche für die bürgerlichen Politikaster und die „sozialistischen“ Opportunisten wenig ins Gewicht fällt.
Zu den mit dem geschilderten Erscheinungskomplex verknüpften Besonderheiten des Imperialismus gehört die abnehmende Auswanderung aus den imperialistischen Ländern und die zunehmende Einwanderung (Zustrom von Arbeitern und Übersiedlung) in diese Länder aus rückständigeren Ländern mit niedrigeren Arbeitslöhnen. Die Auswanderung aus England sinkt, wie Hobson feststellt, seit 1884: Sie betrug in jenem Jahr 242.000 und 169.000 im Jahre 1900. Die Auswanderung aus Deutschland erreichte ihren Höhepunkt im Jahrzehnt 1881-1890, nämlich 1.453.000, und sank in den zwei folgenden Jahrzehnten auf 544.000 bzw. 341.000. Dafür stieg die Zahl der Arbeiter, die aus Österreich, Italien, Rußland usw. nach Deutschland kamen. Nach der Volkszählung vom Jahre 1907 gab es in Deutschland 1.342.294 Ausländer, davon 440.800 Industriearbeiter und 257.329 Landarbeiter. (105) In Frankreich sind die Arbeiter im Bergbau „zum großen Teil“ Ausländer: Polen, Italiener und Spanier. (106) In den Vereinigten Staaten nehmen die Einwanderer aus Ost- und Südeuropa die am schlechtesten bezahlten Stellen ein, während die amerikanischen Arbeiter den größten Prozentsatz der Aufseher und der bestbezahlten Arbeiter stellen. (107) Der Imperialismus hat die Tendenz, auch unter den Arbeitern privilegierte Kategorien auszusondern und sie von der großen Masse des Proletariats abzuspalten.
Es muß bemerkt werden, daß in England die Tendenz des Imperialismus, die Arbeiter zu spalten, den Opportunismus unter ihnen zu stärken und eine zeitweilige Fäulnis der Arbeiterbewegung hervorzurufen, viel früher zum Vorschein kam als Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Denn zwei der wichtigsten Merkmale des Imperialismus – riesiger Kolonialbesitz und Monopolstellung auf dem Weltmarkt – traten in England schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts hervor. Marx und Engels verfolgten jahrzehntelang systematisch diesen Zusammenhang des Opportunismus in der Arbeiterbewegung mit den imperialistischen Besonderheiten des englischen Kapitalismus. Engels schrieb z.B. am 7. Oktober 1858 an Marx, „... daß das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so daß diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen. Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist das allerdings gewissermaßen gerechtfertigt.“ [Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd.29, S.358.] Fast ein Vierteljahrhundert später, in seinem Brief vom 11. August 1881, spricht er von Gewerkschaften, „welche nur mit jenen schlechtesten englischen vergleichbar sind, die es zulassen, sich von an die Bourgeoisie verkauften oder zumindest von ihr bezahlten Leuten führen zu lassen“. [Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd.35, S.20.] Und in einem Brief an Kautsky vom 12. September 1882 schreibt Engels: „Sie fragen mich, was die englischen Arbeiter von der Kolonialpolitik denken? Nun, genau dasselbe, was sie von der Politik überhaupt denken ... Es gibt hier ja keine Arbeiterpartei, es gibt nur Konservative und Liberal-Radikale, und die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands.“ (108) (Dasselbe sagt Engels auch im Vorwort zur zweiten Auflage der Lage der arbeitenden Klasse in England, 1892.)
Hier sind Ursachen und Wirkungen deutlich aufgezeigt. Ursachen: 1. Ausbeutung der ganzen Welt durch das betreffende Land; 2. seine Monopolstellung auf dem Weltmarkt; 3. sein Kolonialmonopol. Wirkungen: 1. Verbürgerung eines Teils des englischen Proletariats; 2. ein Teil des Proletariats läßt sich von Leuten führen, die von der Bourgeoisie gekauft sind oder zumindest von ihr bezahlt werden. Der Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Aufteilung der Welt unter einige wenige Staaten zu Ende geführt, von denen jeder gegenwärtig einen nicht viel kleineren Teil der „ganzen Welt“ ausbeutet (im Sinne der Gewinnung von Extraprofit) als England im Jahre 1858; jeder nimmt eine Monopolstellung auf dem Weltmarkt ein dank den Trusts, den Kartellen, dem Finanzkapital und dem Verhältnis des Gläubigers zum Schuldner; jeder besitzt bis zu einem gewissen Grade ein Kolonialmonopol (wir sahen, daß von den 75 Mill. Quadratkilometern aller Kolonien der Welt 65 Mill., d.h. 86% in den Händen von sechs Mächten konzentriert sind; 61 Mill., d.h. 81%, sind in den Händen von 3 Mächten konzentriert).
Das Merkmal der heutigen Lage besteht in ökonomischen und politischen Bedingungen, die zwangsläufig die Unversöhnlichkeit des Opportunismus mit den allgemeinen und grundlegenden Interessen der Arbeiterbewegung verstärken mußten: Der Imperialismus hat sich aus Ansätzen zum herrschenden System entwickelt; die kapitalistischen Monopole haben in der Volkswirtschaft und in der Politik den ersten Platz eingenommen; die Aufteilung der Welt ist beendet; und anderseits sehen wir an Stelle des ungeteilten englischen Monopols den Kampf einer kleinen Anzahl imperialistischer Mächte um die Beteiligung am Monopol, der den ganzen Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichnet. Der Opportunismus kann jetzt nicht mehr in der Arbeiterbewegung irgendeines Landes auf eine lange Reihe von Jahrzehnten hinaus völlig Sieger bleiben, so wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England gesiegt hatte; in einer Reihe von Ländern ist der Opportunismus vielmehr reif, überreif geworden und in Fäulnis übergegangen, da er sich als Sozialchauvinismus mit der bürgerlichen Politik restlos verschmolzen hat. (109)
(96) Hobson, S.59,62.
(97) Schulze-Gaevernitz, Br. Imp., S.320 u.a.
(98) Sart. von Waltershausen, D. volkswirt. Syst. etc., Brl. 1907, Buch IV.
(99) Schilder, S.393.
(100) Schulze-Gaevernitz, Br. Imp., S.122.
(101) Die Bank, 1911, 1, S.10/11.
(102) Hobson, S.103, 205, 144, 335, 386.
(103) Gerhard Hildebrand, Die Erschütterung der Industrieherrschaft und des Industriesozialismus, 1910, S.229ff.
(104) Schulze-Gaevernitz, Br. Imp., S.301.
(105) Statistik des Deutschen Reichs, Bd.211.
(106) Henger, Die Kapitalsanlage der Franzosen, Stuttg. 1913.
(107) Hourwich, Immigration and Labor, N.Y. 1913.
(108) Briefwechsel von Marx und Engels, Bd. II, S.290; IV, 433. [Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 35, S.357]; K. Kautsky, Sozialismus und Kolonialpolitik, Brl. 1907, S.79; diese Broschüre schrieb Kautsky in jenen unendlich fernen Zeiten, als er noch Marxist war.
(109) Der russische Sozialchauvinismus der Herren Potressow, Tschchenkeli, Maslow usw. sowohl in seiner offenen Gestalt wie in der verkappten (der Herren Tschcheïdse, Skobelew, Axelrod, Martow usw.) ist ebenfalls aus der russischen Abart des Opportunismus, nämlich dem Liquidatorentum, hervorgegangen.
Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008