MIA > Deutsch > Marxisten > Lenin > Imperialismus
Wir müssen nun versuchen, das oben über den Imperialismus Gesagte zusammenzufassen und gewisse Schlußfolgerungen zu ziehen. Der Imperialismus erwuchs als Weiterentwicklung und direkte Fortsetzung der Grundeigenschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozeß die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz, aber diese begann sich vor unseren Augen zum Monopol zu wandeln, indem sie die Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch noch größere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, daß daraus das Monopol entstand und entsteht, nämlich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten. Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte. Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung.
Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Erde.
Doch sind allzu kurze Definitionen zwar bequem, denn sie fassen das Wichtigste zusammen, aber dennoch unzulänglich, sobald aus ihnen speziell die wesentlichen Züge der zu definierenden Erscheinung abgeleitet werden sollen. Deshalb muß man – ohne zu vergessen, daß alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da eine Definition niemals die allseitigen Zusammenhänge einer Erscheinung in ihrer vollen Entfaltung umfassen kann – eine solche Definition des Imperialismus geben, die folgende fünf seiner grundlegenden Merkmale enthalten würde: 1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses „Finanzkapitals“; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet. Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.
Wir werden später sehen, wie der Imperialismus anders definiert werden kann und muß, wenn man nicht nur die grundlegenden rein ökonomischen Begriffe (auf die sich die angeführte Definition beschränkt) im Auge hat, sondern auch den historischen Platz dieses Stadiums des Kapitalismus in bezug auf den Kapitalismus überhaupt oder das Verhältnis zwischen dem Imperialismus und den zwei Grundrichtungen innerhalb der Arbeiterbewegung. Es sei gleich hier bemerkt, daß der Imperialismus, in diesem Sinne aufgefaßt, zweifellos ein besonderes Entwicklungsstadium des Kapitalismus darstellt. Um dem Leser eine möglichst gut fundierte Vorstellung vom Imperialismus zu geben, waren wir absichtlich bestrebt, möglichst viele Äußerungen bürgerlicher Ökonomen zu zitieren, die sich gezwungen sehen, besonders unbestreitbar feststehende Tatsachen aus der neuesten Ökonomik des Kapitalismus anzuerkennen. Zu demselben Zweck haben wir ausführliche statistische Daten angeführt, die zeigen, bis zu welchem Grade das Bankkapital angewachsen ist usw. und worin eben das Umschlagen der Quantität in Qualität, das Umschlagen des hochentwickelten Kapitalismus in den Imperialismus seinen Ausdruck gefunden hat. Es erübrigt sich natürlich zu sagen, daß alle Grenzen in Natur und Gesellschaft bedingt und beweglich sind, daß es sinnlos wäre, z.B. über die Frage zu streiten, seit welchem Jahr oder Jahrzehnt der Imperialismus als „endgültig“ herausgebildet gelten kann.
Aber streiten muß man über die Definition des Imperialismus vor allem mit dem führenden marxistischen Theoretiker der Epoche der sogenannten zweiten Internationale, d.h. des Vierteljahrhunderts von 1889-1914, mit K. Kautsky. Gegen die grundlegenden Ideen, die in der von uns gegebenen Definition des Imperialismus zum Ausdruck kommen, wandte sich Kautsky ganz entschieden im Jahre 1915 und sogar schon im September 1914 mit der Erklärung, daß unter Imperialismus nicht eine Phase oder Stufe der Wirtschaft, sondern eine Politik, nämlich eine bestimmte, vom Finanzkapital „bevorzugte“ Politik zu verstehen sei, daß der Imperialismus nicht mit dem „modernen Kapitalismus“ „gleichgesetzt“ werden könne, daß, wenn man unter Imperialismus „alle Erscheinungen des modernen Kapitalismus“ – Kartelle, Schutzzölle, Finanzherrschaft, Kolonialpolitik – verstehe, die Frage, ob der Imperialismus eine notwendige Folgeerscheinung des Kapitalismus sei, auf die „platteste Tautologie“ hinauslaufe, denn dann „ist der Imperialismus natürlich eine Lebensnotwendigkeit für den Kapitalismus“ usw. Kautskys Gedankengang läßt sich am genauesten darstellen, wenn wir seine Definition des Imperialismus zitieren, die sich direkt gegen den Kern der von uns entwickelten Ideen richtet (denn die Einwände aus dem Lager der deutschen Marxisten, die jahrelang ähnliche Ideen propagierten, sind Kautsky längst als Einwände einer bestimmten Strömung innerhalb des Marxismus bekannt).
Kautskys Definition lautet:
„Der Imperialismus ist ein Produkt des hochentwickelten industriellen Kapitalismus. Er besteht in dem Drange jeder industriellen kapitalistischen Nation, sich ein immer größeres agrarisches“ (hervorgehoben von Kautsky) „Gebiet zu unterwerfen und anzugliedern, ohne Rücksicht darauf, von welchen Nationen es bewohnt wird.“ (89)
Diese Definition taugt rein gar nichts, denn sie ist einseitig, d.h., sie greift willkürlich einzig und allein die nationale Frage heraus (die zwar sowohl an sich wie auch in ihrem Verhältnis zum Imperialismus von höchster Wichtigkeit ist), verknüpft diese willkürlich und unrichtig nur mit dem Industriekapital in den Ländern, die andere Nationen annektieren, und rückt ebenso willkürlich und unrichtig die Annexion von Agrargebieten in den Vordergrund.
Imperialismus ist Drang nach Annexionen – darauf läuft der politische Teil der Kautskyschen Definition hinaus. Er ist richtig, aber höchst unvollständig, denn politisch ist Imperialismus überhaupt Drang nach Gewalt und Reaktion. Uns beschäftigt jedoch hier die ökonomische Seite der Frage, die Kautsky selbst in seine Definition hineingebracht hat. Die Unrichtigkeiten in Kautskys Definition springen in die Augen. Für den Imperialismus ist ja gerade nicht das Industrie-, sondern das Finanzkapital charakteristisch. Es ist kein Zufall, daß in Frankreich gerade die besonders rasche Entwicklung des Finanzkapitals bei gleichzeitiger Schwächung des Industriekapitals seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine äußerste Verschärfung der annexionistischen (Kolonial-) Politik hervorgerufen hat. Für den Imperialismus ist gerade das Bestreben charakteristisch, nicht nur agrarische Gebiete, sondern sogar höchst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (Deutschlands Gelüste auf Belgien, Frankreichs auf Lothringen), denn erstens zwingt die abgeschlossene Aufteilung der Erde, bei einer Neuaufteilung die Hand nach jedem beliebigen Land auszustrecken, und zweitens ist für den Imperialismus wesentlich der Wettkampf einiger Großmächte in ihrem Streben nach Hegemonie, d.h. nach der Eroberung von Ländern, nicht so sehr direkt für sich als vielmehr zur Schwächung des Gegners und Untergrabung seiner Hegemonie (für Deutschland ist Belgien von besonderer Wichtigkeit als Stützpunkt gegen England; für England Bagdad als Stützpunkt gegen Deutschland usw.).
Kautsky beruft sich besonders – und wiederholt – auf die Engländer, die angeblich die rein politische Bedeutung des Begriffs Imperialismus in seinem, Kautskys, Sinne festgelegt hätten. Nehmen wir den Engländer Hobson; wir lesen in seinem 1902 erschienenen Werk Imperialismus folgendes:
„Der neue Imperialismus unterscheidet sich vom alten erstens dadurch, daß er an Stelle der Bestrebungen eines einzigen wachsenden Imperiums die Theorie und Praxis rivalisierender Imperien gesetzt hat, von denen jedes von der gleichen Sucht nach politischer Expansion und kommerziellem Vorteil geleitet wird; zweitens durch die Vorherrschaft der Finanz- bzw. Investitionsinteressen über die Handelsinteressen.“ (90)
Wir sehen, daß Kautsky faktisch völlig im Unrecht ist, wenn er sich auf die Engländer im allgemeinen beruft (er könnte sich höchstens auf die vulgären englischen Imperialisten oder direkten Apologeten des Imperialismus berufen). Wir sehen, daß Kautsky, der darauf Anspruch erhebt, nach wie vor den Marxismus zu verteidigen, in Wirklichkeit einen Schritt rückwärts macht im Vergleich zu dem Sozialliberalen Hobson der die beiden „historisch-konkreten“ (Kautskys Definition ist geradezu ein Hohn auf die historische Konkretheit!) Besonderheiten des modernen Imperialismus richtiger beurteilt: 1. die Konkurrenz einiger Imperialismen und 2. das Überwiegen des Finanzmanns über den Kaufmann. Spricht man aber hauptsächlich davon, daß ein Industriestaat ein Agrarland annektiert, so wird damit die überragende Rolle des Kaufmanns hervorgehoben.
Kautskys Definition ist nicht nur unrichtig und unmarxistisch. Sie dient als Begründung für ein ganzes System von Auffassungen, die auf ganzen Linie sowohl mit der marxistischen Theorie als auch mit der marxistischen Praxis brechen, wovon später noch die Rede sein wird. Ganz und gar unernst ist der von Kautsky entfachte Streit um Worte, nämlich ob das jüngste Stadium des Kapitalismus als Imperialismus oder als Stadium des Finanzkapitals anzusprechen sei. Man nenne es, wie man will – darauf kommt es nicht an. Wesentlich ist, daß Kautsky die Politik des Imperialismus von seiner Ökonomik trennt, indem er von Annexionen als der vom Finanzkapital „bevorzugten“ Politik spricht und ihr eine angeblich mögliche andere bürgerliche Politik auf derselben Basis des Finanzkapitals entgegenstellt. Es kommt so heraus, als ob die Monopole in der Wirtschaft vereinbar wären mit einem nicht monopolistischen, nicht gewalttätigen, nicht annexionistischen Vorgehen in der Politik. Als ob die territoriale Aufteilung der Welt, die gerade in der Epoche des Finanzkapitals beendet wurde und die die Grundlage für die Eigenart der jetzigen Formen des Wettkampfs zwischen den kapitalistischen Großstaaten bildet, vereinbar wäre mit einer nicht imperialistischen Politik. Das Resultat ist eine Vertuschung. eine Abstumpfung der fundamentalsten Widersprüche des jüngsten Stadiums des Kapitalismus statt einer Enthüllung ihrer Tiefe, das Resultat ist bürgerlicher Reformismus statt Marxismus.
Kautsky polemisiert gegen Cunow, den deutschen Apologeten des Imperialismus und der Annexionen, dessen Gedankengang ebenso plump wie zynisch ist: Der Imperialismus sei der moderne Kapitalismus; die Entwicklung des Kapitalismus sei unvermeidlich und fortschrittlich, folglich sei auch der Imperialismus fortschrittlich, und wir hätten den Imperialismus anzubeten und zu lobpreisen! Das ähnelt ganz dem Zerrbild, das die Volkstümler in den Jahren 1894/1895 den russischen Marxisten entgegenhielten: Wenn die Marxisten den Kapitalismus in Rußland für unvermeidlich und fortschrittlich halten, sollten sie eine Schenke aufmachen und sich damit befassen, den Kapitalismus zu züchten. Kautsky erwidert Cunow: Nein, der Imperialismus ist nicht der moderne Kapitalismus, sondern bloß eine der Formen der Politik des modernen Kapitalismus, und wir können und müssen gegen diese Politik kämpfen, gegen den Imperialismus, gegen die Annexionen usw. kämpfen.
Auf den ersten Blick erscheint dieser Einwand durchaus angängig, aber in Wirklichkeit bedeutet er eine feinere, verhülltere (und darum gefährlichere) Propaganda einer Versöhnung mit dem Imperialismus, denn ein „Kampf“ gegen die Politik der Trusts und Banken, der die ökonomischen Grundlagen der Trusts und Banken unangetastet läßt, läuft auf bürgerlichen Reformismus und Pazifismus hinaus, auf harmlose und fromme Wünsche. Sich über die bestehenden Widersprüche hinwegsetzen, die wichtigsten von ihnen vergessen, anstatt die Widersprüche in ihrer ganzen Tiefe aufzudecken – das ist Kautskys Theorie, die mit dem Marxismus nichts gemein hat. Und eine solche „Theorie“ dient natürlich nur dazu, die Idee der Einheit mit den Cunow zu verteidigen
„Vom rein ökonomischen Standpunkt“, schreibt Kautsky, „ist es nicht ausgeschlossen, daß der Kapitalismus noch eine neue Phase erlebt, die Übertragung der Kartellpolitik auf die äußere Politik, eine Phase des Ultraimperialismus“ (91), d.h. des Überimperialismus, der Vereinigung der Imperialismen der ganzen Welt, nicht aber ihres Kampfes, eine Phase der Aufhebung der Kriege unter dem Kapitalismus, eine Phase der „gemeinsamen Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital“ (92).
Auf diese „Theorie des Ultraimperialismus“ werden wir noch zurückkommen, um eingehend zu zeigen, bis zu welchem Grade sie entschieden und unwiderruflich mit dem Marxismus bricht. Hier müssen wir uns entsprechend der ganzen Anlage dieser Studie zunächst die genauen ökonomischen Daten zu dieser Frage ansehen. Ist ein „Ultraimperialismus“ vom „rein ökonomischen Standpunkt“ möglich, oder ist das ein Ultra-Unsinn?
Versteht man unter dem rein ökonomischen Standpunkt eine „reine“ Abstraktion, so läuft alles, was sich dazu sagen läßt, auf die These hinaus: Die Entwicklung bewegt sich in der Richtung zu Monopolen, also zu einem einzigen Weltmonopol, einem einzigen Welttrust. Das ist unzweifelhaft, aber ebenso nichtssagend wie etwa der Hinweis, daß „die Entwicklung sich in der Richtung“ zur Herstellung von Nahrungsmitteln im Laboratorium „bewegt“. In diesem Sinne ist die „Theorie“ des Ultraimperialismus ebensolcher Unsinn, wie es eine „Theorie der Ultralandwirtschaft“ wäre.
Spricht man dagegen von den „rein ökonomischen“ Bedingungen der Epoche des Finanzkapitals als einer historisch-konkreten Epoche, die in den Anfang des 20. Jahrhunderts fällt, so erhalten wir die beste Antwort auf die toten Abstraktionen des „Ultraimperialismus“ (die ausschließlich dem erzreaktionären Ziel dienen, die Aufmerksamkeit von der Tiefe der vorhandenen Widersprüche abzulenken), wenn wir ihnen die konkrete ökonomische Wirklichkeit der modernen Weltwirtschaft gegenüberstellen. Kautskys leeres Gerede von einem Ultraimperialismus nährt unter anderem den grundfalschen Gedanken, der Wasser auf die Mühle der Apologeten des Imperialismus leitet, daß die Herrschaft des Finanzkapitals die Ungleichmäßigkeiten und die Widersprüche innerhalb der Weltwirtschaft abschwäche, während sie in Wirklichkeit diese verstärkt.
R. Calwer machte in seiner Schrift Einführung in die Weltwirtschaft (93) den Versuch, die wichtigsten rein ökonomischen Daten zusammenzutragen, die eine konkrete Vorstellung von den Wechselbeziehungen innerhalb der Weltwirtschaft um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts ermöglichen Er teilt die ganze Welt in fünf „wirtschaftliche Hauptgebiete“: 1. das mitteleuropäische (ganz Europa, außer Rußland und England); 2. das britische; 3. das russische; 4. das ostasiatische und 5. das amerikanische, wobei er die Kolonien zu den „Gebieten“ derjenigen Staaten zählt, denen sie gehören, und einige wenige, keinem Gebiet zugeteilte Länder, z.B. Persien, Afghanistan, Arabien in Asien, Marokko und Abessinien in Afrika usw., „unberücksichtigt“ läßt.
Nachstehend in gekürzter Form die von Calwer angeführten ökonomischen Daten über diese Gebiete:
Fläche |
Bevölke- |
Verkehrsmittel |
Handel |
Industrie |
||||
Wirtschaftliche |
(Mill. |
(Mill.) |
Eisen- |
Handels- |
(Einfuhr u. |
Kohlen- |
Roheisen- |
Spindel- |
1. Mitteleuropäisches |
27,6 |
388 |
204 |
8 |
41 |
251 |
15 |
26 |
2. Britisches |
28,9 |
398 |
140 |
11 |
25 |
249 |
9 |
51 |
3. Russisches |
22 |
131 |
63 |
1 |
3 |
16 |
3 |
7 |
4. Ostasiatisches |
12 |
389 |
8 |
1 |
2 |
8 |
0,02 |
2 |
5. Amerikanisches |
30 |
148 |
379 |
6 |
14 |
245 |
14 |
19 |
|In Klammern Fläche und Bevölkerung der Kolonien.| |
Wir sehen hier drei Gebiete mit hochentwickeltem Kapitalismus (starke Entwicklung sowohl des Verkehrswesens wie des Handels und der Industrie): das mitteleuropäische, britische und amerikanische: darunter drei weltbeherrschende Staaten: Deutschland, England und die Vereinigten Staaten. Die imperialistische Konkurrenz und der Kampf unter ihnen werden dadurch außerordentlich verschärft, daß Deutschland nur über ein ganz kleines Gebiet und wenig Kolonien verfugt; die Bildung „Mitteleuropas“ liegt noch in der Zukunft, und seine Geburt geht in einem erbitterten Kampf vor sich. Einstweilen ist das Kennzeichen von ganz Europa politische Zersplitterung. In dem britischen und dem amerikanischen Gebiet dagegen ist die politische Konzentration sehr groß, aber es besteht ein ungeheures Mißverhältnis zwischen den unermeßlichen Kolonien des britischen und den geringfügigen des amerikanischen Gebiets. In den Kolonien ist der Kapitalismus indes erst im Entstehen begriffen. Der Kampf um Südamerika gewinnt immer mehr an Schärfe.
In zwei Gebieten ist der Kapitalismus schwach entwickelt, im russischen und im ostasiatischen. Im ersten haben wir es mit einer äußerst geringen, im zweiten mit einer außerordentlich hohen Bevölkerungsdichte zu tun; im ersten ist die politische Konzentration groß, im zweiten fehlt sie ganz. China hat man erst zu teilen begonnen, und der Kampf um China zwischen Japan, den Vereinigten Staaten usw. verschärft sich immer mehr.
Man stelle dieser Wirklichkeit mit der ungeheuren Mannigfaltigkeit ökonomischer und politischer Bedingungen, mit der äußersten Ungleichmäßigkeit im Tempo des Wachstums der verschiedenen Länder usw., mit dem wahnwitzigen Kampf zwischen den imperialistischen Staaten – Kautskys dummes Märchen von einem „friedlichen“ Ultraimperialismus gegenüber. Ist das etwa nicht der reaktionäre Versuch eines erschrockenen Kleinbürgers, sich über die grausame Wirklichkeit hinwegzusetzen? Bieten uns die internationalen Kartelle, die Kautsky Keime des „Ultraimperialismus“ zu sein scheinen (wie man auch die Erzeugung von Tabletten im Laboratorium als einen Keim der Ultralandwirtschaft ansprechen „kann“), etwa nicht ein Beispiel der Aufteilung und Neuaufteilung der Welt, des Übergangs von friedlicher Aufteilung zu nicht friedlicher und umgekehrt? Nimmt das amerikanische und sonstige Finanzkapital, das bisher unter Beteiligung Deutschlands, sagen wir im internationalen Schienenkartell oder in dem internationalen Trust der Handelsschiffahrt, die ganze Welt friedlich aufgeteilt hat, jetzt etwa nicht eine Neuaufteilung der Welt auf Grund neuer Kräfteverhältnisse vor, die sich auf ganz und gar nicht friedlichem Wege verändert haben?
Das Finanzkapital und die Trusts schwächen die Unterschiede im Tempo des Wachstums der verschiedenen Teile der Weltwirtschaft nicht ab, sondern verstärken sie. Sobald sich aber die Kräfteverhältnisse geändert haben, wie können dann unter dem Kapitalismus die Gegensätze anders ausgetragen werden als durch Gewalt? Überaus genaue Angaben über das unterschiedliche Wachstumstempo des Kapitalismus und des Finanzkapitals in der gesamten Weltwirtschaft finden wir in der Eisenbahnstatistik. (94) In den letzten Jahrzehnten der imperialistischen Entwicklung veränderte sich die Länge der Schienenwege wie folgt:
Schienenwege (in 1.000 km) |
|||||||||||
1890 |
1913 |
+ |
|||||||||
Europa |
224 |
346 |
+ 122 |
||||||||
Vereinigte Staaten von Amerika |
268 |
411 |
+ 143 |
||||||||
Alle Kolonien |
82 |
125 |
210 |
347 |
+ 128 |
+ 222 |
|||||
Selbständige und halbselbständige Staaten |
43 |
137 |
+ 94 |
||||||||
Insgesamt |
617 |
1.104 |
Am raschesten ging somit die Entwicklung des Eisenbahnnetzes in den Kolonien und den selbständigen (und halbselbständigen) Staaten Asiens und Amerikas vor sich. Bekanntlich schaltet und waltet hier das Finanzkapital der 4-5 größten kapitalistischen Staaten unumschränkt. Zweihunderttausend Kilometer neuer Schienenwege in den Kolonien und in den anderen Ländern Asiens und Amerikas – das bedeutet mehr als 40 Milliarden Mark neuer Kapitalanlage zu besonders günstigen Bedingungen, mit besonderen Garantien der Einträglichkeit, mit profitablen Aufträgen für die Stahlwerke usw. usf.
Am schnellsten wächst der Kapitalismus in den Kolonien und den überseeischen Ländern. Unter diesen Ländern entstehen neue imperialistische Mächte (Japan). Der Kampf der Weltimperialismen verschärft sich. Es wächst der Tribut, den das Finanzkapital von den besonders einträglichen kolonialen und überseeischen Unternehmungen erhebt. Bei der Teilung dieser „Beute“ fällt ein außerordentlich großer Bissen Ländern zu, die nach dem Entwicklungstempo der Produktivkräfte nicht immer an der Spitze stehen. Die Länge der Schienenwege betrug in den größten Staaten unter Einschluß ihrer Kolonien:
(in 1.000 km) |
|||
1890 |
1913 |
||
Vereinigte Staaten |
268 |
413 |
+ 145 |
Britisches Reich |
107 |
208 |
+ 101 |
Rußland |
32 |
78 |
+ 46 |
Deutschland |
43 |
68 |
+ 25 |
Frankreich |
41 |
63 |
+ 22 |
In den fünf Staaten insgesamt |
491 |
830 |
+ 339 |
Rund 80% der gesamten Eisenbahnen sind also in den Händen der 5 Großmächte konzentriert. Aber die Konzentration des Eigentums an diesen Bahnen, die Konzentration des Finanzkapitals ist noch unvergleichlich größer, denn den englischen und französischen Millionären z.B. gehört ein sehr großer Teil der Aktien und Obligationen der amerikanischen, russischen und anderen Eisenbahnen.
England hat dank seinen Kolonien „sein“ Eisenbahnnetz um hunderttausend Kilometer, also viermal mehr als Deutschland, vergrößert. Indessen ging bekanntlich während dieser Zeit die Entwicklung der Produktivkräfte, insbesondere die Entwicklung der Kohlen- und Eisenindustrie, in Deutschland unvergleichlich schneller vor sich als in England, geschweige denn in Frankreich oder Rußland. 1892 produzierte Deutschland 4,9 Millionen Tonnen Roheisen, England dagegen 6,8; aber 1912 waren es schon 17,6 gegen 9,0, d.h. ein gewaltiger Vorsprung gegenüber England! (95) Es fragt sich, welches andere Mittel konnte es auf dem Boden des Kapitalismus geben außer dem Krieg, um das Mißverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Akkumulation des Kapitals einerseits und der Verteilung der Kolonien und der „Einflußsphären“ des Finanzkapitals anderseits zu beseitigen?
(89) Die Neue Zeit, 1914, 2 (32. Jahrg.), vom 11. September 1914, S.909; vgl. auch 1915, 2, S.107ff.
(90) Hobson, Imperialism, L. 1902, S.324.
(91) Die Neue Zeit, 1914, 2 (32 Jahrg.), vom 11. September 1914, S.921; vgl. auch 1915, 2, S.107ff.
(92) Die Neue Zeit, 1915, 2, vom 30 April 1915, S.144.
(93) R. Calwer, Einführung in die Weltwirtschaft, Brl. 1906.
(94) Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1915; Archiv für Eisenbahnwesen, 1892; für 1890 mußten geringfügige Details hinsichtlich der Verteilung der Eisenbahnen auf die Kolonien der verschiedenen Länder annähernd berechnet werden.
(95) Vgl. auch Edgar Crammond, The Economic Relations of the British and German Empires, im Journal of the Royal Statistical Society, Juli 1914, S.777ff.
Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008