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In seinem Werk Die territoriale Entwicklung der europäischen Kolonien gibt der Geograph A. Supan (79) die folgende kurze Zusammenfassung dieser Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts:
Vom Hundert der Fläche gehörten den europäischen Kolonialmächten |
|||
---|---|---|---|
1876 |
1900 |
Zunahme |
|
In Afrika |
10,8% |
90,4% |
+ 79,6% |
In Polynesien |
56,8% |
98,9% |
+ 42,1% |
In Asien |
51,5% |
56,6% |
+ 5,1% |
In Australien |
100,0% |
100,0% |
— |
In Amerika |
27,5% |
27,2% |
- 0,3% |
„Das Charakteristische dieser Periode“, folgert Supan, „ist also die Aufteilung Afrikas und Polynesiens.“ Da es in Asien und Amerika keine unbesetzten Länder gibt, d.h. solche, die keinem Staate gehören, so muß Supans Schlußfolgerung dahingehend erweitert werden, daß das Charakteristische dieser Periode die endgültige Aufteilung der Erde ist, endgültig nicht in dem Sinne, daß eine Neuaufteilung unmöglich wäre – im Gegenteil, Neuaufteilungen sind möglich und unvermeidlich –, sondern in dem Sinne, daß die Kolonialpolitik der kapitalistischen Länder die Besitzergreifung unbesetzter Länder auf unserem Planeten beendet hat. Die Welt hat sich zum erstenmal als bereits aufgeteilt erwiesen, so daß in der Folge nur noch Neuaufteilungen in Frage kommen, d.h. der Übergang von einem „Besitzer“ auf den anderen, nicht aber die Besitzergreifung herrenlosen Landes.
Wir leben folglich in einer eigenartigen Epoche der kolonialen Weltpolitik, die aufs engste verknüpft ist mit „der jüngsten Entwicklungsstufe des Kapitalismus“, mit dem Finanzkapital. Es ist daher notwendig, vor allem eingehender bei dem Tatsachenmaterial zu verweilen, um sowohl den Unterschied dieser Epoche von den vorhergegangenen als auch die gegenwärtige Sachlage so genau wie möglich zu klären. Zunächst tauchen hier zwei konkrete Fragen auf: ob eine Verstärkung der Kolonialpolitik, eine Verschärfung des Kampfes um die Kolonien gerade in der Epoche des Finanzkapitals zu beobachten ist und wie gerade in dieser Hinsicht die Welt augenblicklich verteilt ist.
Der amerikanische Schriftsteller Morris versucht in seinem Buch über die Geschichte der Kolonisation (80) die Daten über die Größe des englischen, französischen und deutschen Kolonialbesitzes für verschiedene Zeitabschnitte des 19. Jahrhunderts zusammenzufassen.
Nachstehend gekürzt seine Berechnungen
Größe des Kolonialbesitzes |
||||||
---|---|---|---|---|---|---|
England |
Frankreich |
Deutschland |
||||
Jahre |
Fläche |
Bevölkerung |
Fläche |
Bevölkerung |
Fläche |
Bevölkerung |
1815-1830 |
? |
126,4 |
0,02 |
0,5 |
— |
— |
1860 |
2,5 |
145,1 |
0,2 |
3,4 |
— |
— |
1880 |
7,7 |
207,9 |
0,7 |
7,5 |
— |
— |
1899 |
9,3 |
309,0 |
3,7 |
56,4 |
1,0 |
14,7 |
Die kolonialen Eroberungen Englands nehmen am gewaltigsten in den Jahren 1860-1880 zu und sind auch in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sehr beträchtlich. Die kolonialen Eroberungen Frankreichs und Deutschlands fallen hauptsächlich gerade in diese zwei Jahrzehnte. Wir haben bereits gesehen, daß die Periode der höchsten Entwicklung des vormonopolistischen Kapitalismus, des Kapitalismus mit vorwiegend freier Konkurrenz, in die sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts fällt. Jetzt sehen wir, daß gerade nach dieser Periode ein ungeheurer „Aufschwung“ der kolonialen Eroberungen beginnt und der Kampf um die territoriale Aufteilung der Welt sich im höchsten Grade verschärft. Unzweifelhaft ist daher die Tatsache, daß der Übergang des Kapitalismus zum Stadium des Monopolkapitalismus, zum Finanzkapital, mit einer Verschärfung des Kampfes um die Aufteilung der Welt verknüpft ist.
In seinem Werk über den Imperialismus hebt Hobson die Periode von 1884-1900 als Periode verstärkter „Expansion“ (Erweiterung des Territorialbesitzes) der wichtigsten europäischen Staaten hervor. Seiner Berechnung nach erwarb England während dieser Zeit 3,7 Millionen Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von 57 Mill.; Frankreich 3,6 Mill. Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von 36½ Mill.; Deutschland 1 Mill. Quadratmeilen mit 44,7 Mill.; Belgien 900.000 Quadratmeilen mit 30 Mill. und Portugal 800.000 Quadratmeilen mit 9 Mill. Einwohnern. Die Jagd aller kapitalistischen Staaten nach Kolonien gegen Ende des 19. Jahrhunderts und besonders seit den achtziger Jahren ist eine allbekannte Tatsache in der Geschichte der Diplomatie und der Außenpolitik.
Zur Zeit der höchsten Blüte der freien Konkurrenz in England, in den Jahren 1840-1860, waren die führenden bürgerlichen Politiker Englands Gegner der Kolonialpolitik und hielten die Befreiung der Kolonien und ihre völlige Lostrennung von England für unvermeidlich und nützlich. M. Beer weist in seinem 1898 erschienenen Artikel über „den modernen englischen Imperialismus“ (81) darauf hin, daß 1852 ein solcher englischer Staatsmann wie Disraeli, der im allgemeinen durchaus imperialistisch eingestellt war, geäußert hat: „Die Kolonien sind Mühlsteine um unseren Hals.“ Gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber waren in England die Helden des Tages Cecil Rhodes und Joseph Chamberlain, die offen den Imperialismus predigten und mit dem größten Zynismus eine imperialistische Politik trieben!
Nicht uninteressant ist es, daß der Zusammenhang zwischen den sozusagen rein ökonomischen und den sozial-politischen Wurzeln des modernen Imperialismus schon damals für diese führenden Politiker der englischen Bourgeoisie klar war. Chamberlain predigte den Imperialismus als die „wahre, weise und sparsame Politik“ und verwies besonders auf die Konkurrenz Deutschlands, Amerikas und Belgiens, der England jetzt auf dem Weltmarkt begegnet. Die Rettung liegt im Monopol – sagten die Kapitalisten und gründeten Kartelle, Syndikate und Trusts; die Rettung liegt im Monopol – sekundierten die politischen Führer der Bourgeoisie und beeilten sich, die noch unverteilten Gebiete der Welt an sich zu reißen. Cecil Rhodes hat, wie sein intimer Freund, der Journalist Stead, erzählt, 1895 über seine imperialistischen Ideen gesagt: „Ich war gestern im Ostende von London (Arbeiterviertel) und besuchte eine Arbeitslosenversammlung. Und als ich nach den dort gehörten wilden Reden, die nur ein Schrei nach Brot waren, nach Hause ging, da war ich von der Wichtigkeit des Imperialismus mehr denn je überzeugt ... Meine große Idee ist die Lösung des sozialen Problems, d.h., um die vierzig Millionen Einwohner des Vereinigten Königreichs vor einem mörderischen Bürgerkrieg zu schützen, müssen wir Kolonialpolitiker neue Ländereien erschließen, um den Überschuß an Bevölkerung aufzunehmen, und neue Absatzgebiete schaffen für die Waren, die sie in ihren Fabriken und Minen erzeugen. Das Empire, das habe ich stets gesagt, ist eine Magenfrage. Wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen Sie Imperialisten werden.“ (82)
So sprach im Jahre 1895 Cecil Rhodes, Millionär, Finanzkönig und Hauptschuldiger am Burenkrieg. Seine Verteidigung des Imperialismus ist nur grob und zynisch, dem Wesen der Sache nach aber unterscheidet sie sich in nichts von der „Theorie“ der Herren Maslow, Südekum, Potressow und David sowie des Begründers des russischen Marxismus usw. usf. Cecil Rhodes war nur ein etwas ehrlicherer Sozialchauvinist.
Um ein möglichst genaues Bild von der territorialen Aufteilung der Welt und den in dieser Hinsicht in den letzten Jahrzehnten erfolgten Veränderungen zu vermitteln, wollen wir die Daten benutzen, die Supan in dem oben zitierten Werk über den Kolonialbesitz aller Staaten der Welt zusammengefaßt hat. Supan nimmt die Jahre 1876 und 1900; wir wollen das Jahr 1876 nehmen, einen gut gewählten Zeitpunkt, denn gerade zu dieser Zeit kann man die Entwicklung des westeuropäischen Kapitalismus in seinem vormonopolistischen Stadium im großen und ganzen als beendet betrachten, ferner das Jahr 1914, wobei wir Supans Zahlen durch neuere Daten aus Hübners Geographisch-statistischen Tabellen ersetzen. Supan befaßt sich nur mit den Kolonien; wir halten es für nützlich, zur Vervollständigung des Bildes über die Aufteilung der Welt kurz auch die Angaben hinzuzufügen über die nichtkolonialen Länder sowie über die Halbkolonien, zu denen wir Persien, China und die Türkei zählen: Persien ist schon fast vollständig zur Kolonie geworden, China und die Türkei sind im Begriff, es zu werden.
Wir erhalten folgende Ergebnisse:
Kolonialbesitz der Großmächte |
||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Kolonien |
Metropolen |
Insgesamt |
||||||
1876 |
1914 |
1914 |
1914 |
|||||
qkm |
Einw. |
qkm |
Einw. |
qkm |
Einw. |
qkm |
Einw. |
|
England |
22,5 |
251,9 |
33,5 |
395,5 |
0,3 |
46,5 |
33,8 |
440,0 |
Rußland |
17,0 |
15,9 |
17,4 |
33,2 |
5,4 |
136,2 |
22,8 |
169,4 |
Frankreich |
0,9 |
6,0 |
10,6 |
55,5 |
0,5 |
39,6 |
11,1 |
95,1 |
Deutschland |
— |
— |
2,9 |
12,3 |
0,5 |
64,9 |
3,4 |
77,2 |
Vereinigte Staaten |
— |
— |
0,3 |
9,7 |
9,4 |
97,0 |
9,7 |
106,7 |
Japan |
— |
— |
0,3 |
19,2 |
0,4 |
53,0 |
0,7 |
72,2 |
6 Großmächte zusammen |
40,4 |
273,8 |
65,0 |
523,4 |
16,5 |
437,2 |
81,5 |
960,6 |
Kolonialbesitz der übrigen Staaten (Belgien, Holland usw.) |
9,9 |
45,3 |
||||||
Halbkolonien (Persien, China, Türkei) |
14,5 |
361,2 |
||||||
Die übrigen Länder |
28,0 |
289,9 |
||||||
Der ganze Erdball |
133,9 |
1.657,0 |
Wir sehen hier anschaulich, in welchem Maße die Teilung der Welt um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts „beendet“ war. Der Kolonialbesitz hat nach 1876 ungeheuer zugenommen: Er wuchs bei den sechs Großmächten von 40 auf 65 Millionen Quadratkilometer, auf mehr als das Anderthalbfache; der Zuwachs beträgt 25 Mill. Quadratkilometer, anderthalbmal soviel wie die Bodenfläche der Metropolen (16,5 Mill.). Drei Mächte hatten 1876 überhaupt keine und die vierte, Frankreich, hatte fast keine Kolonien. Bis zum Jahre 1914 haben diese vier Staaten Kolonien mit einer Fläche von 14,1 Mill. Quadratkilometern erworben, d.h. ungefähr das Anderthalbfache der Gesamtfläche Europas, mit einer Bevölkerung von fast 100 Millionen Menschen. Die Erweiterung des Kolonialbesitzes geht höchst ungleichmäßig vor sich. Vergleicht man z.B. Frankreich, Deutschland und Japan, die sich ihrer Bodenfläche und Einwohnerzahl nach nicht allzusehr voneinander unterscheiden, so stellt sich heraus, daß Frankreich (der Fläche nach) beinahe dreimal soviel Kolonien erworben hat wie Deutschland und Japan zusammengenommen. Das französische Finanzkapital war aber zu Beginn dieser Periode vielleicht ebenfalls um ein mehrfaches größer als das Deutschlands und Japans zusammengenommen. Auf die Größe des Kolonialbesitzes haben außer den rein ökonomischen Bedingungen und auf ihrer Basis auch die geographischen und sonstigen Verhältnisse Einfluß. Welch starke Nivellierung der Welt, welch großer Ausgleich der Wirtschafts- und Lebensbedingungen in den verschiedenen Ländern unter dem Druck der Großindustrie, des Austausches und des Finanzkapitals in den letzten Jahrzehnten auch vor sich gegangen sein mag, ein beträchtlicher Unterschied bleibt dennoch bestehen, und unter den genannten sechs Ländern finden wir einerseits junge kapitalistische Länder, die ungewöhnlich rasch vorangeschritten sind (Amerika, Deutschland, Japan); anderseits Länder alter kapitalistischer Entwicklung, die sich in der letzten Zeit viel langsamer entwickelt haben als die ersteren (Frankreich und England); und schließlich ein Land, das in ökonomischer Hinsicht am meisten zurückgeblieben ist (Rußland), in dem der moderne kapitalistische Imperialismus sozusagen mit einem besonders dichten Netz vorkapitalistischer Verhältnisse überzogen ist.
Neben den Kolonialbesitz der Großmächte haben wir die kleinen Kolonien der kleinen Staaten gesetzt, die gewissermaßen das nächste Objekt einer möglichen und wahrscheinlichen „Neuaufteilung“ der Kolonien bilden. Diese kleinen Staaten behalten ihre Kolonien zumeist nur dank dem Umstand, daß unter den Großstaaten Interessengegensätze, Reibungen usw. bestehen, die sie hindern, sich über die Teilung der Beute zu verständigen. Was die „halbkolonialen“ Staaten betrifft, so sind sie ein Beispiel für jene Übergangsformen, die uns auf allen Gebieten der Natur und der Gesellschaft begegnen. Das Finanzkapital ist eine so gewaltige, man darf wohl sagen, entscheidende Macht in allen ökonomischen und in allen internationalen Beziehungen, daß es sich sogar Staaten unterwerfen kann und tatsächlich auch unterwirft, die volle politische Unabhängigkeit genießen; wir werden sogleich Beispiele dafür sehen. Aber selbstverständlich bietet dem Finanzkapital die meisten „Annehmlichkeiten“ und die größten Vorteile eine solche Unterwerfung, die mit dem Verlust der politischen Unabhängigkeit der Länder und Völker, die unterworfen werden, verbunden ist. Die halbkolonialen Länder sind in dieser Beziehung als „Mittelding“ typisch. Der Kampf um diese halbabhängigen Länder mußte begreiflicherweise besonders akut werden in der Epoche des Finanzkapitals, als die übrige Welt bereits aufgeteilt war.
Kolonialpolitik und Imperialismus hat es auch vor dem jüngsten Stadium des Kapitalismus und sogar vor dem Kapitalismus gegeben. Das auf Sklaverei beruhende Rom trieb Kolonialpolitik und war imperialistisch. Aber „allgemeine“ Betrachtungen über den Imperialismus, die den radikalen Unterschied zwischen den ökonomischen Gesellschaftsformationen vergessen oder in den Hintergrund schieben, arten unvermeidlich in leere Banalitäten oder Flunkereien aus, wie etwa der Vergleich des „größeren Rom mit dem größeren Britannien“ (83). Selbst die kapitalistische Kolonialpolitik der früheren Stadien des Kapitalismus unterscheidet sich wesentlich von der Kolonialpolitik des Finanzkapitals.
Die grundlegende Besonderheit des modernen Kapitalismus ist die Herrschaft der Monopolverbände der Großunternehmer. Derartige Monopole sind am festesten, wenn alle Rohstoffquellen in einer Hand zusammengefaßt werden, und wir haben gesehen, wie eifrig die internationalen Kapitalistenverbände bemüht sind, dem Gegner jede Konkurrenz unmöglich zu machen, wie eifrig sie bemüht sind, z.B. Eisenerzlager oder Petroleumquellen usw. aufzukaufen. Einzig und allein der Kolonialbesitz bietet volle Gewähr für den Erfolg der Monopole gegenüber allen Zufälligkeiten im Kampfe mit dem Konkurrenten – bis zu einer solchen Zufälligkeit einschließlich, daß der Gegner auf den Wunsch verfallen könnte, sich hinter ein Gesetz über ein Staatsmonopol zu verschanzen. Je höher entwickelt der Kapitalismus, je stärker fühlbar der Rohstoffmangel, je schärfer ausgeprägt die Konkurrenz und die Jagd nach Rohstoffquellen in der ganzen Welt sind, desto erbitterter ist der Kampf um die Erwerbung von Kolonien.
„Es kann sogar“, schreibt Schilder, „die manchen vielleicht paradox erscheinende Behauptung gewagt werden, daß das Wachstum der städtisch-industriellen Bevölkerungen in irgendwie absehbarer Zeit weit eher durch nicht genügende Mengen der zur Verfügung stehenden industriellen Rohstoffe als durch irgendeinen Mangel an Nahrungsmitteln aufgehalten werden könnte.“ Es mangelt beispielsweise zusehends an Holz, das immer teurer wird, an Leder, an Rohstoffen für die Textilindustrie. „Als Beispiele für die Bemühungen industrieller Verbände, den Ausgleich zwischen Landwirtschaft und Industrie innerhalb der gesamten Weltwirtschaft durchzuführen, wären zu erwähnen: der seit 1904 bestehende internationale Verband der Baumwollspinner-Vereine in den wichtigsten Industriestaaten, der nach diesem Muster im Jahre 1910 begründete Verband der europäischen Leinenspinner-Vereine.“ (84)
Natürlich versuchen bürgerliche Reformer, darunter besonders die Kautskyaner von heute, die Bedeutung derartiger Tatsachen durch den Hinweis abzuschwächen, daß man Rohstoffe ohne die „kostspielige und gefährliche“ Kolonialpolitik auf dem freien Markt erhalten „könne“, daß man das Angebot an Rohstoffen durch „einfache“ Hebung der Landwirtschaft überhaupt gewaltig steigern „könne“. Aber derartige Hinweise verwandeln sich in eine Apologie des Imperialismus, in dessen Beschönigung, denn sie beruhen auf der Außerachtlassung der wichtigsten Besonderheit des modernen Kapitalismus: der Monopole. Der freie Markt rückt immer mehr in die Vergangenheit, monopolistische Syndikate und Trusts engen ihn von Tag zu Tag mehr ein, die „einfache“ Hebung der Landwirtschaft aber läuft auf eine Hebung der Lage der Massen, auf eine Erhöhung der Löhne und eine Verminderung des Profits hinaus. Wo existieren jedoch, außer in der Phantasie süßlicher Reformer, Trusts, die fähig wären, sich um die Lage der Massen zu kümmern, anstatt Kolonien zu erobern?
Nicht allein die bereits entdeckten Rohstoffquellen sind für das Finanzkapital von Bedeutung, sondern auch die eventuell noch zu erschließenden, denn die Technik entwickelt sich in unseren Tagen mit unglaublicher Geschwindigkeit, und Ländereien, die heute unbrauchbar sind, können morgen brauchbar gemacht werden, sobald neue Verfahren gefunden (dazu kann eine Großbank eine besondere Expedition von Ingenieuren, Agronomen usw. ausrüsten) und größere Kapitalien aufgewandt werden. Dasselbe läßt sich über Schürfungen von Minerallagerstätten, über neue Methoden der Bearbeitung und Nutzbarmachung dieser oder jener Rohstoffe usw. usf. sagen. Daher das unvermeidliche Streben des Finanzkapitals nach Erweiterung des Wirtschaftsgebietes, ja des Gebietes schlechthin. Wie die Trusts ihr Vermögen auf Grund einer doppelten oder dreifachen Schätzung kapitalisieren, indem sie die in Zukunft „möglichen“ (aber gegenwärtig nicht vorhandenen) Profite und die weiteren Ergebnisse des Monopols in Rechnung stellen, so ist auch das Finanzkapital im allgemeinen bestrebt, möglichst viel Ländereien an sich zu reißen, gleichviel welche, gleichviel wo, gleichviel wie, immer auf mögliche Rohstoffquellen bedacht und von Angst erfüllt, in dem tollen Kampf um die letzten Stücke der unverteilten Welt oder bei der Neuverteilung der bereits verteilten Stücke zu kurz zu kommen.
Die englischen Kapitalisten sind auf jede Art und Weise bemüht, die Baumwollproduktion in ihrer Kolonie Ägypten zu fördern – im Jahre 1904 waren von 2,3 Millionen Hektar Kulturland in Ägypten bereits 0,6 Mill., d.h. mehr als ein Viertel, mit Baumwolle bepflanzt –, die Russen in ihrer Kolonie Turkestan, denn auf diese Weise können sie ihre ausländischen Konkurrenten leichter schlagen, können sie die Rohstoffquellen leichter monopolisieren und einen sparsamer wirtschaftenden und profitableren Textiltrust schaffen mit „kombinierter“ Produktion, mit Konzentration aller Stadien der Baumwollerzeugung und -verarbeitung in einer Hand.
Die Interessen des Kapitalexports drängen ebenfalls zur Eroberung von Kolonien, denn auf dem Kolonialmarkt ist es leichter (und mitunter einzig und allein auch möglich), durch monopolistische Mittel den Konkurrenten auszuschalten, sich Lieferungen zu sichern, entsprechende „Verbindungen“ zu festigen u.a.m.
Der außerökonomische Überbau, der sich auf der Grundlage des Finanzkapitals erhebt, seine Politik, seine Ideologie steigern den Drang nach kolonialen Eroberungen. „Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft“, sagt Hilferding mit Recht. Und gleichsam in Erweiterung und Ergänzung des oben zitierten Gedankens von Cecil Rhodes schreibt ein bürgerlicher französischer Schriftsteller, daß den ökonomischen Ursachen der modernen Kolonialpolitik soziale hinzugefügt werden müssen: „Infolge der zunehmenden Schwierigkeiten des Lebens, die nicht nur auf den Arbeitermassen, sondern auch auf den Mittelklassen lasten, sieht man, wie sich in allen Ländern der alten Zivilisation ‚Ungeduld, Empörung und Haß ansammeln, die den öffentlichen Frieden bedrohen, wie sich deklassierte Energien, tumultuarische Gewalten anhäufen, die es einzudämmen gilt, um sie für irgendeine große Sache außerhalb des Landes zu gebrauchen, soll nicht eine Explosion im Innern erfolgen‘.“ (85)
Spricht man von der Kolonialpolitik in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus, dann muß bemerkt werden, daß das Finanzkapital und die ihm entsprechende internationale Politik, die auf einen Kampf der Großmächte um die ökonomische und politische Aufteilung der Welt hinausläuft, eine ganze Reibe von Übergangsformen der staatlichen Abhängigkeit schaffen. Typisch für diese Epoche sind nicht nur die beiden Hauptgruppen von Ländern – die Kolonien besitzenden und die Kolonien selber –, sondern auch die verschiedenartigen Formen der abhängigen Länder, die politisch, formal selbständig, in Wirklichkeit aber in ein Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit verstrickt sind. Auf eine dieser Formen, die Halbkolonien, haben wir bereits hingewiesen. Ein Musterbeispiel für eine andere Form ist z.B. Argentinien.
„Das südliche Südamerika, insbesondere Argentinien“, schreibt Schulze-Gaevernitz in seinem Werk über den britischen Imperialismus, „findet sich in solcher finanzieller Abhängigkeit von London, daß es fast als englische Handelskolonie zu bezeichnen ist.“ (86) Die in Argentinien investierten Kapitalien Englands schätzt Schilder auf Grund des Jahresberichtes des österreichisch-ungarischen Konsuls in Buenos Aires für 1909 auf 8¾ Milliarden Francs. Man kann sich leicht vorstellen, mit wie festen Banden infolgedessen das Finanzkapital Englands – und sein treuer „Freund“, die Diplomatie – mit der Bourgeoisie Argentiniens und den führenden Kreisen seines gesamten wirtschaftlichen und politischen Lebens verknüpft ist.
Eine etwas anders geartete Form finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit, bei politischer Unabhängigkeit, bietet uns Portugal. Portugal ist ein selbständiger, souveräner Staat, aber faktisch steht es seit mehr als 200 Jahren, seit dem spanischen Erbfolgekrieg (1704-1714), unter dem Protektorat Englands. England verteidigte Portugal und dessen Kolonialbesitz, um seine eigene Position im Kampfe gegen seine Gegner, Spanien und Frankreich, zu stärken. Dafür erhielt England Handelsprivilegien, bessere Bedingungen beim Warenexport und besonders beim Kapitalexport nach Portugal und seinen Kolonien, die Möglichkeit, die Häfen und Inseln Portugals zu benutzen, seine Kabel usw. usf. (87) Derartige Beziehungen zwischen einzelnen großen und kleinen Staaten hat es immer gegeben, aber in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus werden sie zum allgemeinen System, bilden sie einen Teil der Gesamtheit der Beziehungen bei der „Aufteilung der Welt“ und verwandeln sich in Kettenglieder der Operationen des Weltfinanzkapitals.
Um die Frage der Aufteilung der Welt abzuschließen, müssen wir noch folgendes bemerken. Nicht nur die amerikanische Literatur nach dem Spanisch-Amerikanischen und die englische Literatur nach dem Burenkrieg haben Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts diese Frage ganz offen und bestimmt aufgeworfen; nicht nur die deutsche Literatur, die dem „britischen Imperialismus“ am „eifersüchtigsten“ nachspürte, hat diese Tatsache systematisch bewertet. Auch in der französischen bürgerlichen Literatur wurde diese Frage ziemlich bestimmt und breit gestellt, soweit dies vom bürgerlichen Standpunkt denkbar ist. Wir verweisen auf den Historiker Driault, der in seinem Buch Die politischen und sozialen Probleme Ende des 19. Jahrhunderts in dem Kapitel Die Großmächte und die Aufteilung der Welt folgendes schrieb: „In diesen letzten Jahren wurden alle unbesetzten Gebiete des Erdballs, außer China, von den Mächten Europas und Nordamerikas erobert; es kam zu einigen Konflikten und Einflußverschiebungen, die Vorboten noch furchtbarerer Erschütterungen in der nahen Zukunft sind. Denn man muß sich beeilen: die Nationen, die nicht versorgt sind, riskieren, es niemals zu werden und nicht an der ungeheuren Ausbeutung der Erde teilnehmen zu können, die eine der wesentlichsten Tatsachen des kommenden“ (d.h. des 20.) „Jahrhunderts sein wird. Das ist der Grund, weshalb Europa und Amerika vor kurzem von einem Fieber der kolonialen Expansion erfaßt worden sind, des ‚Imperialismus‘, der den markantesten Charakterzug des Ausgangs des 19. Jahrhunderts bildet.“ Und der Verfasser fügte hinzu: „Bei dieser Aufteilung der Welt, bei dieser wahnwitzigen Jagd nach den Schätzen und Großmärkten der Erde steht die relative Bedeutung der in diesem (dem 19.) Jahrhundert gegründeten Reiche in gar keinem Verhältnis zu der Stellung, die die Nationen, von denen sie gegründet wurden, in Europa einnehmen. Die Mächte, die in Europa dominieren und über sein Schicksal entscheiden, dominieren nicht in gleicher Weise in der Welt. Und da die koloniale Größe, die Hoffnung auf noch ungezählte Reichtümer, offenbar auf die relative Bedeutung der europäischen Staaten zurückwirken wird, hat die Kolonialfrage, der ‚Imperialismus‘, wenn man will, die politischen Verhältnisse in Europa selbst schon verändert und wird sie immer mehr verändern.“ (88)
(79) A. Supan, Die territoriale Entwicklung der europäischen Kolonien, 1906, S.254.
(80) Henry C. Morris, The History of Colonization, N.Y. 1900, Bd. II, S.88; I, 419; II. 304.
(81) Die Neue Zeit, XVI, 1, 1898, S.302.
(82) Ebenda, S.304.
(83) C. P. Lucas, Greater Rome and Greater Britain, Oxf. 1912 oder Earl of Cromer, Ancient and Modern Imperialism, L. 1910.
(84) Schilder, a.a.O., S.38-42.
(85) Wahl, La France aux colonies, zitiert bei Henri Russier, Le partage de l’Océanie, P. 1905, S.165.
(86) Schulze-Gaevernitz, Britischer Imperialismus und englischer Freihandel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, Lpz. 1906, S.318. Dasselbe sagt Sartorius v. Waltershausen, Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslande, Berlin 1907, S.46.
(87) Schilder, a.a.O., I, S.160/161.
(88) J. E. Driault, Les problèmes politiques et sociaux, P. 1907, S.299.
Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008