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Diese Artikel erschienen ursprünglich in L’Humanité. [1]
Als Broschüre veröffentlicht unter dem Titel Monsieur Vautour et la réduction des loyers in der „Libraire de Parti Socialiste (S.F.I.O.)“ (o.O., o.J.).
Übersetzerin: Anna Donninger.
Deutschsprachige ErstveröffentlichungPaul Lafargue, Essays zur Geschichte, Kultur und Politik (Hrsg. Fritz Keller), Karl Dietz Verlag, Berlin 2004.
Stellen, die mit einem Stern * versehen sind, sind Einfügungen des Herausgebers.
Transkription: Fritz Keller.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Das Finden einer Wohnung oder von Örtlichkeiten und Lokalen zur Unterbringung von Gewerbe und Handel wird in den Großstädten immer teurer. Um sich jedoch seinen Lebensunterhalt zu verdienen, muß man – koste es, was es wolle – in den Städten wohnen, in denen sich der Handel und das Gewerbe konzentrieren.
Die wirtschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Produktion zwingen die Bevölkerung, sich vom Wohnort zu entfernen, die ländlichen Gebiete zu verlassen und sich in den Großstädten zusammenzudrängen, wo sie in die Hände des Monsieur Geier fällt, der eines der wildesten Raubtiere der so hochgelobten Zivilisation ist.
Monsieur Geier besitzt ein Monopol: er gebraucht es und mißbraucht es. Der Grund und Boden der Städte ist keineswegs dehnbar. Er kann sich nicht in dem Maße ausdehnen, wie die Bevölkerung, Handel und Gewerbe wachsen. Man kann den Boden nicht mit zunehmender Nachfrage vervielfältigen, wie es bei industriellen und Agrarprodukten der Fall ist. Monsieur Geier kann sich also ohne jedes Risiko das Recht, in den Städten zu wohnen, zu arbeiten und Handel zu treiben, immer teurer bezahlen lassen; und die Bürger ohne Eigentum müssen sich folgsam seinen Bedingungen unterwerfen. Er ist ein Despot, dem keiner widersteht.
Die Politiker und Historiker wiederholen seit einem Jahrhundert ohne Unterlaß, daß die Revolution von 1789 den Menschen befreit hat, während sie in Wirklichkeit Monsieur Geier neue Methoden zur Unterdrückung der Bürger ohne Eigentum verschafft hat, aus denen die Mehrheit der Nation besteht. Während die Philosophen, die Philanthropen, die Rhetoriker und Demagogen der Revolution das Land mit ihren Deklamationen über Freiheit, Gleichheit, die Menschenrechte und andere Späße für große Kinder betäubten, schmiedeten die Besitzenden und die Rechtsgelehrten in aller Stille das Recht auf Besitz. Sie befreiten den Grundbesitz von der feudalen Sklaverei, die das Recht auf Besitz einschränkte. Sie konsolidierten und erweiterten das Monopol des Monsieur Geier.
Wenn man die Ursachen für die Ungerechtigkeiten, die Übelstände und die Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft finden will, so muß man zur Revolution von 1789 zurückgehen, welche dem Bürgertum zur gesellschaftlichen Diktatur verholfen hat.
Der aus der Revolution hervorgegangene Code Civil verleiht Monsieur Geier das absolute Eigentum an Grund und Boden sowie dem Raum darüber und darunter, welches ihm das Feudalrecht nicht zugestanden hat. Der Artikel 552 lautet folgendermaßen:
„Das Grundeigentum schließt das Eigentum des Raumes über dem Boden und darunter ein.
Der Eigentümer kann darüber alle ihm erforderlich erscheinenden Bauten und Konstruktionen errichten lassen.
Er kann darunter alle Konstruktionen und Grabungen durchführen, die ihm angebracht erscheinen, und er hat Anspruch auf alle Produkte, die bei diesen Grabungen zutage gefördert werden“.
Das Feudalrecht hatte das Gewohnheitsrecht übernommen und daher die Quantität und die Qualität der Anlagen festgelegt, welche der Besitzer errichten konnte. Ihm wurde nur das Recht auf die Oberfläche des Bodens und die sich daraus ergebenden Ernten zugestanden. Und auch dieser Besitz war nicht absolut, denn der Besitzer war verpflichtet, nach der Getreideernte, die für einen bestimmten Zeitraum angesetzt war, seinen Grund und Boden den Gemeindebewohnern zu überlassen, welche dort ihre Tiere weiden ließen.
Der Untergrund war im Feudalrecht Gemeindeeigentum. Die Erträge der Bodenschätze, die man darin entdeckte, verblieben zuerst den Einwohnern, dann dem König, welcher im „ancien régime [alten Regime]“ die Ausbeutung der Minen nur auf Zeit und gegen Bezahlung bewilligte. Die extrem reiche Compagnie d’Anzin [3] besaß nur eine zeitlich begrenzte Konzession, welche mit einer hohen Gebühr belegt war; die bürgerliche Revolution von 1789 wandelte sie in eine ständige um und verlangte als Gegenleistung nur fünf Prozent des Nettoprodukts, welche später überhaupt auf „eineinhalb Centimes“ für jede geförderte Tonne Steinkohle reduziert wurden!
Das Eigentumsrecht am freien Raum bis zum Himmel, das die Revolution Monsieur Geier so großzügig zugestanden hat, ist keineswegs eine der Phantasie entsprungenen Gabe, wie es die Milliarde aus den Besitztümern der Emigranten war, die den Soldaten der Republik feierlich versprochen wurde [4], es ist vielmehr eine wertvolle Realität in unserem Zeitalter der Telegraphie und der Übertragung der Elektrizität. Man kann ohne Bezahlung keine leitenden Drähte über einen Landbesitz legen, selbst wenn sie auf diesem keine Stützpunkte haben und ihn an keiner Stelle berühren. Seitdem man Ballone und Flugzeuge durch die Lüfte steuert und von Luftlinien und Aerobussen spricht, beschäftigt sich Monsieur Geier mit den Profiten, die er aus seinem Eigentumsrecht am Luftraum ziehen kann. Doch während er wartet, häuft er Stockwerk auf Stockwerk, sechs in Paris, 20 in Chicago. Und er läßt in New York in die Tiefe graben, um darin achtstöckige Häuser zu errichten, die Tag und Nacht künstlich beleuchtet und mit Luft versorgt werden; eines der großen Theater von London, das Criterion, befindet sich tatsächlich unter der Erde.
Monsieur Geier kümmert es wenig, unter welchen Bedingungen seine Mieter leben und arbeiten, es kümmert ihn wenig, ob sie an der Tuberkulose oder dem Typhus zugrunde gehen oder ob ihre Wohnungen zu Ausbreitungsherden von Epidemien werden. Er macht sich nur Sorgen um seine Mieten und denkt nur daran, wie er sie weiter erhöhen kann.
Die Stadtbewohner sind der fruchtbare Dünger, der die Bodenpreise in die Höhe schießen läßt, die in Paris die sagenhafte Summe von 200, 500 oder 1.000 und noch mehr Francs pro Quadratmeter erreichen. Die Arbeiter zahlen, im sechsten Stock, direkt unter den Dächern, 150 bis 200 Francs für Mansardenwohnungen, die im Sommer Schmelzöfen und im Winter Eiskeller sind.
Monsieur Geier, der keine einzige Kelle Mörtel verschwendet, keinen einzigen Stein gesetzt hat, um sein Haus zu bauen, muß nichts anderes tun als mit verschränkten Armen zu warten und die Stadtbewohner gewähren zu lassen, um den Wert seines Grundes und den Preis seiner Mieten in die Höhe klettern zu sehen. Es sind die Stadtbewohner selbst, die ihm, durch ihre Anzahl und durch ihre industriellen und kommerziellen Aktivitäten, die Mittel in die Hand geben, sie auszubeuten.
Seit einem Jahrhundert regiert die Bourgeoisie. Seit einem Jahrhundert läßt sie durch ihre Abgeordneten die Gesetze machen und sie durch die von ihr bezahlten Beamten ausführen, und es hat sich weder eine Regierung noch ein Staatsmann gefunden, der versucht hätte, dem Monopol des Monsieur Geier Zügel anzulegen. Man hätte von ihnen gar keine revolutionären Maßnahmen erwartet, es hätte schon genügt, wenn sie ihn auf die gleiche Weise behandelt hätten wie die Fleischer, die Bäcker und die Kapitalbesitzer. Man regelt den Preis von Fleisch und Brot im Interesse der Bürger; man regelt die Zinsen auf das Geld im Interesse des Handels und des Gewerbes.
Warum regelt man nicht die Mieteinnahmen des Monsieur Geier im Interesse der Bürger, des Handels und des Gewerbes?
Herr Geier ist ein Feind des Volkes, der ohne Unterschied die Bürger aller Klassen ausbeutet und übervorteilt.
Jedermann, sei es Arbeiter oder Arbeitgeber, arm oder reich, trägt sein tyrannisches Joch und beklagt sich über die ständige Erhöhung der Mieten, und doch kommen alle bürgerlichen Parteien, die Monarchisten wie die Republikaner, die Reaktionäre wie die Radikalen, die Klerikalen wie die Radikal-Sozialisten [5] zu einem stillschweigenden Einverständnis, keine Klage gegen Monsieur Geier einzubringen, weil sie alle die geheiligten Rechte des persönlichen Eigentums bewahren wollen, trotz allen Mißbrauchs, trotz der Ungerechtigkeiten und der sozialen Mißstände, die dieses Recht mit sich bringt.
Die Parti Socialiste, die es sich zum höchsten Ziel ihrer Bemühungen gesetzt hat, die öffentliche Macht zu erobern, um das persönliche Eigentum in ein soziales Eigentum umzuwandeln, ist die einzige Partei, die imstande wäre, seine Majestät Monsieur Geier anzugreifen. Sie weiß, daß sie, indem sie gesetzliche Beschränkungen des ungerechten und unterdrückenden Monopols des städtischen Besitzrechts verlangt, ihre Pflicht als Verteidigerin der Ausgebeuteten und als Anklägerin der gesellschaftlichen Privilegien erfüllt. Monsieur Geier, der Privilegierteste unter den Privilegierten der bürgerlichen Klasse, gebraucht und mißbraucht Freiheiten und Rechte, die kein anderer Kapitalist besitzt.
König Geier steht über den Gesetzen: Er tritt jene Gewohnheitsrechte und Gesetze mit Füßen, denen sich seine bürgerlichen und kapitalistischen Kollegen unterwerfen müssen.
Das Gewohnheitsrecht und das Gesetz verlangen, daß jeder beliebige, zum Verkauf ausgeschriebene Gegenstand jeder beliebigen Person ausgehändigt wird, die sich erbötig macht, den geforderten Preis zu bezahlen: ob dieser Käufer Arbeiter oder Arbeitgeber ist, in Lumpen daherkommt oder verkleidet als Zirkusreiter, wie das bei federbuschgeschmückten Generälen der Fall sein mag. Wenn er einen Laden oder ein Kaffeehaus betritt, muß ihm der Händler oder der Kaffeehausbesitzer die Ware oder die Konsumation aushändigen, die er verlangt und für die er den festgesetzten Preis zu zahlen bereit ist.
Herr Geier erkennt dieses Gewohnheitsrecht und dieses Gesetz nicht an. Ein Bürger, der eine von ihm zur Vermietung angebotene Wohnung aufgesucht, den dafür geforderten Preis akzeptiert und dem Concierge die übliche Kaution [6] geleistet hat, kann diese nicht etwa in Besitz nehmen. Bevor Monsieur Geier ihm die Ehre erweist, ihn als seinen Mieter anzuerkennen, muß er erst eine Untersuchung bezüglich seiner Familie, seiner Haustiere, seiner Besucher und seiner politischen Überzeugungen in die Wege leiten.
Monsieur Geier erkennt die Meinungsfreiheit nicht an. Die Parti Socialiste kann davon ein Lied singen, denn er hat ihr schon mehrmals Lokale verweigert, in denen sie ihre Verwaltungskommission unterbringen wollte. Obwohl in einem Fall zwei Abgeordnete und ein Spitalsarzt, also Leute, die in bürgerlichen Kreisen als ehrenhaft gelten, dazu auserwählt worden waren, bei ihm wegen der Vermietung vorzusprechen.
Monsieur Geier ist, ebenso wie alle Bürgerlichen, ein Patriot vom Scheitel bis zur Sohle, denn er bereichert sich ausschließlich dadurch, daß er seine eigenen Landsleute ausbeutet und übervorteilt. Er jammert zusammen mit Monsieur Piot und allen Militaristen über den Rückgang der Geburtenrate in Frankreich, was ihn andererseits nicht darin hindert, diesen Rückgang zu fördern, indem er den Kindern den Zugang zu seinen Wohnungen und Unterkünften verweigert. Er ist ein zu allem entschlossener, praktizierender Vertreter des Malthusianismus. Die Mädchen und Jungen sind seiner Meinung nach zwar das Rohmaterial, aus dem einmal Mütter und Soldaten werden, aber als Mieter sind sie denkbar ungeeignet, weil sie die Stiegenhäuser beschmutzen und die Tapeten von den Wänden reißen.
Letzen Winter wurde ein Stuhlmacher vor die Tür des Hauses gesetzt, das er bewohnte, nicht etwa, weil er die Miete nicht bezahlt hatte, sondern weil er fünf Kinder hatte und seine Frau kurz davor stand, einem sechsten das Leben zu schenken. Der arme Teufel wanderte durch die Straßen, seine Möbel auf einen Karren geladen, um ein Nachtlager für seine Familie [7] zu finden. Alle Unterkünfte wurden ihm verweigert, sobald man seine fünf Kinder entdeckte. Er mußte schließlich unter eine Brücke Zuflucht nehmen, wo seine Frau vorzeitig niederkam.
Die bürgerlichen Journalisten erzählten treuherzig diese traurige Geschichte, bedauerten die hochschwangere Frau, die vor Kälte zitternden Kinder und den verzweifelten Vater. Aber keiner sprach einen Vorwurf aus, keiner richtete auch nur ein Wort des Tadels an die Adresse von Monsieur Geier! In der Tat – er hatte ja nichts anderes getan, als jene geheiligten Eigentumsrechte zu gebrauchen und zu mißbrauchen, auf denen die kapitalistische Gesellschaft beruht.
Monsieur Geier veranlaßt nicht nur Nachforschungen nach den Meinungen, dem Betragen und dem Umgang der Familie eines Bürgers, der den Wunsch geäußert hat, bei ihm eine Wohnung oder Unterkunft zu mieten. Bevor er dieses Ansuchen auch nur zur Kenntnis nimmt, schickt er seinen Zerberus [8] oder seinen Verwalter zu dem früheren Mietherrn, um sich darüber zu informieren, ob der Antragsteller ein guter Mieter ist, ob er stets auf Heller und Pfennig bezahlt, und zwar zum festgesetzten Zeitpunkt, vor Mittag, und um zu überprüfen, ob die Möbel, die jener besitzt, von ausreichender Quantität und Qualität sind. Und das alles reicht noch lange nicht aus, um dem Antragsteller zu gestatten, sich in der Wohnung häuslich einzurichten. Monsieur Geier verlangt die Miete eines viertel- oder halben Jahres im voraus, je nach der Größe der Unterkunft: Denn er kann nicht die geringste Verzögerung bei der Bezahlung seiner Mieten dulden; und selbst der beste Mieter kann einmal knapp bei Kasse sein und nicht am festgesetzten Tag und zur festgesetzten Stunde zahlen, sei es, wenn er Ladenbesitzer oder Gewerbetreibender ist, weil einige seiner Kunden im Zahlungsrückstand sind; oder, wenn er Arbeiter ist, weil er in letzter Zeit ohne Beschäftigung war. Monsieur Geier befaßt sich nicht mit solchen Fragen.
Die Vorauszahlung einer Ware zu verlangen, das ist in keinem Geschäft, in keinem Gewerbe üblich: Das Gesetz verbietet dem Pfandleiher, im voraus die Zinsen auf die geliehene Summe einzubehalten. Aber dieses Gesetz existiert nicht für Monsieur Geier. Der Arbeiter muß seine Ware, d.h. seine Arbeit, eine Woche oder einen Monat lang liefern, bevor er den Lohn erhält, der der Preis für seine Arbeit ist. Der Hotelier oder Zimmervermieter verlangt die Bezahlung des möblierten Zimmers erst dann, wenn der Mieter wieder auszieht, sofern es sich nur um zwei oder drei Tage handelt, oder am Ende von ein oder zwei Wochen, wenn der Aufenthalt länger dauert. Monsieur Geier ist der einzige, der dieses allgemeine Gewohnheitsrecht verletzt.
Diese despotische Forderung garantiert ihm die vollkommene Sicherheit für seine Mieten.
Monsieur Geier genießt noch vielerlei andere Privilegien. Die einen hat er sich aus eigener Machtvollkommenheit genommen, andere hat das Gesetz ihm großzügig zugesprochen. Die schiedsgerichtliche Rechtsprechung [9], deren Einrichtung ich den Mietern zu fordern empfehle, könnte, ohne eine Abstimmung über neue Gesetze nötig zu machen, jene Privilegien unterdrücken, die er sich angemaßt hat, weil er eben Monsieur Geier heißt.
Welcher Gewerbetreibende oder Kaufmann hätte je die Kühnheit besessen, sich jene Privilegien anzumaßen, die man als „autonom“ bezeichnen könnte, um sie von den gesetzlich festgelegten Privilegien zu unterscheiden? Zum Beispiel kann ein Schneider oder ein Händler, der einem Kunden ein Kleidungs- oder Möbelstück auf Kredit geliefert hat, ihm dieses, wenn er nicht zahlt, nicht wieder wegnehmen, indem er es einfach beschlagnahmen läßt. Er muß vielmehr den Gerichtsweg beschreiten, um seine Bezahlung zu erhalten; und das Gericht gewährt dem Schuldner immer gewisse Fristen oder Erleichterungen für die Bezahlung seiner Schuld. Monsieur Geier geht keinen solchen Umweg. Er beantragt beim Friedensrichter einen „Vollstreckungsbefehl“, den dieser niemals verweigert, und er verjagt und enteignet den Mieter, der nicht fristgerecht am festgesetzten Tag und zur festgesetzten Stunde bezahlt hat. Wer hat ihm das Recht dazu gegeben?
Der Händler muß, um die Bezahlung einer gelieferten Ware durchzusetzen, ein Gerichtsurteil erwirken, das ihn berechtigt, die Löhne, Pensionen oder sonstigen Einkünfte des Schuldners pfänden oder sein Mobiliar verkaufen zu lassen. Herr Geier hingegen beschlagnahmt und versteigert die Möbel des Mieters, ohne einen Gerichtsbeschluß zu erwirken. Dieses schnelle und rücksichtslose Vorgehen zwingt zu einem Verkauf zu den schlechtesten Bedingungen und verursacht zusätzliche Kosten, die die Gesamtschuld wesentlich erhöhen.
Monsieur Geier verschont niemanden. Er plündert nicht nur die Lohnempfänger aus Gewerbe und Handel mitleidlos aus, sondern geht auch mit unverfrorener Respektlosigkeit mit dem Eigentum seiner bürgerlichen Kollegen um. Er bemächtigt sich aller Möbel, die in der Wohnung seines zahlungsunfähigen Mieters stehen, ohne sich darum zu kümmern, ob diese dem Mieter gehören, ob sie ihm geliehen wurden, ob sie ihm auf Kredit geliefert wurden und ob sie zur Gänze bezahlt worden sind: Selbst wenn sie von irgendeinem Monsieur Dufayel auf Raten gekauft worden wären, würde ihn das nicht davon abhalten, sie verkaufen zu lassen und den Erlös des Verkaufs in die eigene Tasche zu stecken, als Entschädigung für seine nicht bezahlte Miete. Es kommt sogar vor, daß Monsieur Geier, den der allerbürgerlichste Ehrbegriff nicht im geringsten anficht, seine Mieter dazu verlockt, sich auf Kredit aufs luxuriöseste einzurichten, um dann eine reiche Auswahl von wertvollen Objekten als Garantie für seine Miete zur Verfügung zu haben.
Das Gesetz hat Monsieur Geier skandalöse Privilegien eingeräumt: das Gesetz verordnet, daß er vor allen anderen bezahlt werden muß. Ein Händler, bewaffnet mit einer Verfügung gegen seinen mit der Zahlung im Rückstand befindlichen Kunden, erscheint in dessen Domizil, um das Mobiliar beschlagnahmen und verkaufen zu lassen; – „Nichts da!“, ruft ihm das Raubtier zu, „Euer Schuldner schuldet mir seine Miete, und meine Forderung kommt vor der Euren. Verkauft alles bis auf das letzte Hemd, das er am Leibe trägt und das Ihr nicht anrühren dürft, aber ich bin der erste, der das Geld einstreicht; der Rest verbleibt Euch, wenn es überhaupt einen Rest gibt“.
Monsieur Geier erträgt es nicht, daß seine Häuser den allgemeinen Gesetzen unterliegen und daß sie an Wert verlieren, einfach dadurch, daß die Zeit vergeht oder daß sie benützt werden. Ebensowenig erkennt er die allgemein bekannte Tatsache an, daß eine unbewohnte Wohnung sich rascher abnützt als eine bewohnte, und daß der Mieter für die Erhaltung seines Wohnhauses sorgt und ihm dadurch Instandhaltungskosten erspart. Ob man seine Wohnung zehn oder zwanzig Jahre bewohnt hat, man muß sie im selben Zustand zurückgeben, in dem sie sich am Tage des Einzugs befunden hat. Der Artikel 1.751 des Code Civil ist sogar noch anspruchsvoller; er besagt: „Wenn keine Bestandsaufnahme der Örtlichkeiten erfolgt ist, wird angenommen, daß der Mieter sie in gutem Zustand übernommen hat.“
Der Mieter, der das Haus des Monsieur Geier in gutem Zustand halten und es bei Bedarf in gutem Zustand zurückgeben muß, ist also, wenn er es verabsäumt hat, sich dessen schlechten Zustand schriftlich bestätigen zu lassen, dazu gezwungen, es auf eigene Kosten wieder instand zu setzen“. Der Artikel 1.733 macht ihn für jeden Brand verantwortlich, es sei denn, er könnte beweisen, daß dieser durch Zufall oder durch höhere Gewalt verursacht wurde, oder durch mangelhaften Bauzustand, oder daß das Feuer von einem benachbarten Haus übergegriffen hat; wenn es mehrere Mieter gibt, sind alle gemeinsam verantwortlich, es sei denn, sie könnten beweisen, daß das Feuer in der Wohnung eines von ihnen ausgebrochen ist.
Wer die Wohnung übernimmt, wird dadurch, daß er in ihre Nutznießung eintritt, zum Versicherer des Gebäudes; ein Brand ist ein Risiko, dem jedes brennbare Objekt ausgesetzt ist, und ganz besonders Wohnungen, die zu dem Zweck gemietet werden, um darin zu heizen und Speisen zuzubereiten: Da Monsieur Geier sein Haus zu dem Zweck vermietet, daß man darin Feuer macht, müßte er auch das Risiko eines Brandes ebenso tragen wie alle Mieter; aber das Gesetz will nicht, daß er auch nur den geringsten Verlust erleidet.
Die glorreiche, die unsterbliche Revolution von 1789, die den idealen Menschen befreit hat, den Menschen aller Orte, aller Zeiten und aller Klassen, hat die Ungleichheit der realen Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft unter den ökonomischen Bedingungen und vor dem Gesetz bekräftigt und verstärkt.
Tatsächlich sagt der Artikel 1.781 des Code Civil, der aus der Revolution hervorgegangen ist, folgendes:
„Der Aussage des Unternehmers [10] ist Glauben zu schenken, was den Betrag der Löhne, die Bezahlung des Lohnes für das vergangene Jahr und die Vorschußzahlungen für das laufende Jahr betrifft“.
Der Arbeiter muß, um vor Gericht seine Ansprüche bezüglich seines Lohnes und der empfangenen Vorschüsse geltend zu machen, Zeugen sowie unterzeichnete und beglaubigte schriftliche Unterlagen beibringen. Der Arbeitgeber hingegen braucht nur seine Aussage zu machen, damit das Gericht ihm Recht gibt.
Der Code Civile stellt den Mieter gegenüber Monsieur Geier in die gleiche Position der Unterlegenheit wie den Arbeiter gegenüber seinem Arbeitgeber: Wenn es keinen schriftlichen Mietvertrag gibt, sagt der Artikel 1.716, dann ist dem Eigentümer auf seinen Eid hin zu glauben.
Um vor dem Gesetz die Ungleichheit des Mieters und des Monsieur Geier festzuschreiben, hat der Code Civile das uralte und allgemein gültige juridische Prinzip durchbrochen: ein Zeuge ist kein Zeuge.
Die Ungleichheit des Mieters und des Monsieur Geier vor dem Gesetz kann ziemlich seltsame Folgen haben. Es wäre zum Beispiel denkbar, daß Monsieur Fallières [11] und Monsieur Briand, dem Lüge und Verrat vollkommen fremd sind [12], vor Antritt ihrer Ämter einen Rechtsstreit mit Monsieur Geier begonnen hätten und daß sie, sobald sie in ihren Ämtern waren, vor Gericht zitiert worden wären, um ihre Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Dann hätte man Monsieur Geier auf seinen Eid hin glauben müssen, trotz aller gegenteiligen Aussagen und Schwüre von seiten des Präsidenten der Republik und des integeren Ministerpräsidenten.
Das ist wirklich ein ungeheures Privileg!
Monsieur Geier hat sich mit zahlreichen Privilegien bewaffnet, um seine Mieten aufs schnellste einzuheben, ohne dabei auch nur einen Centime zu verlieren oder auszugeben: Sein Monopol erlaubt es ihm, aus allen Veränderungen, die in einer Stadt vor sich gehen, Gewinn zu ziehen, indem er ständig den Preis der Grundstücke und den Betrag der Mieten erhöht – Verschönerungen der Straßen und Boulevards, Vermehrung der Transportmittel, Entwicklung von Gewerbe und Handel, Zunahme der Bevölkerung.
Die überhöhten Mieten, die von Monsieur Geier eingehoben werden, sind Abgaben, die er aus eigener Machtvollkommenheit seinen Mitbürgern, die keine Eigentümer sind, vorschreibt: Sie sind drückender, belastender und räuberischer als der Zehnte und die alte Salzsteuer, die den Zorn und die Brandreden der wütenden bürgerlichen Revolutionäre von 1789 entflammten.
Der Mieter ist die vogelfreie Beute, die Monsieur Geier auf Gnade und Ungnade ausgeliefert ist. Er dreht sie hin und wieder her, um besser ihr Blut trinken zu können.
Ist es einem Ladeninhaber gelungen, sein Geschäft durch kostspielige Reklame und durch Schaufenster, die den Blick der Passanten auf sich ziehen, in Schwung zu bringen, so erscheint Monsieur Geier, kaum daß der Mietvertrag ausgelaufen ist, und gratuliert ihm in ironischem Ton zu den guten Geschäften und den Gewinnen, die er macht. Es sei nur recht und billig, daß auch er, Monsieur Geier, seinen Teil daran verlange, da das Lokal, das er ihm vermietet hat, zu seinem Wohlstand beigetragen habe. Und um ihn für den kommerziellen Mehrwert zu belohnen, den er seinem Miethaus verschafft hat, erhöht er ihm die Miete. Wenn der Händler protestiert, so antwortet er ihm grob: „Ihr könnt es nehmen oder sein lassen, die Kunden kennen den Weg zu meinem Haus; und ich habe bereits einen Händler an der Hand, der gerne bereit ist, an Eure Stelle zu treten“.
Wenn ein reicher Mann auf eigene Kosten in der Wohnung, die ihm gefällt, Änderungen und Reparaturen vornimmt, um sie nach seinem Geschmack und zu seiner Bequemlichkeit einzurichten, stattet ihm Monsieur Geier munter einen Besuch ab, betrachtet voll Entzücken die veränderten Räumlichkeiten und sagt ihm lächelnd: „Die Wohnung ist hübsch, ganz reizend. Ich war mir ihrer Lieblichkeit gar nicht bewußt, sonst hätte ich sie nicht zu diesem Preis hergegeben. Ich erhöhe Euch die Miete um 25 Prozent“. Um seine Ausgaben nicht umsonst getätigt zu haben, ist der Mieter gezwungen, sich das Blut aussaugen zu lassen.
Ein Gewerbetreibender errichtet eine Werkstatt in einem wenig belebten Viertel, wo die Mieten niedrig sind und der Wert der Grundstücke gering ist. Er hat Erfolg, er nimmt weitere Arbeiter auf, die, um es nicht weit zur Arbeit zu haben, sich in der Umgebung niederlassen. Ihnen folgen die Gemischtwarenhändler, Obsthändler und andere, die den Arbeitern lebensnotwendige Dinge liefern. Man errichtet neue Gebäude, das einstmals verlassene Viertel zählt immer mehr Einwohner; und sofort erhöht Monsieur Geier den Preis der Grundstücke und der Mieten. Auf diese Weise bestraft er den Gewerbetreibenden, die Arbeiter und die Ladeninhaber, die den Wert seiner vorher unbesetzten Grundstücke und seiner unbewohnten Häuser vermehrt haben.
Monsieur Geier schlägt Gewinn aus allem: Die Métro [13] ist für ihn ein wahrer Segen geworden. Die Schnelligkeit und der mäßige Preis der Beförderung und die rasche und ständige Abfolge der Züge haben die überfüllten Stadtzentren entlastet und haben es den Arbeitern erlaubt, sich von ihren Werkstätten zu entfernen und weiter draußen ein wenig Luft, Lebensraum und weniger kostspielige Mieten zu suchen. Aber wohin auch immer sie sich begeben, stoßen sie auf Monsieur Geier, der immer höhere Ansprüche stellt, je zahlreicher sie werden, und zuletzt zahlen sie für ihre neuen Unterkünfte nicht weniger als für die, die sie verlassen haben. Die Métro, die nach den Aussagen der Philanthropen dazu bestimmt war, den Arbeitern ein wenig mehr Wohlergehen zu verschaffen, hat letzten Endes nur dazu geführt, daß es Monsieur Geier möglich wurde, die Mieten entlang ihrer Linien in neue Höhen zu treiben.
Die Eisenbahnen, die schon etwa sechzig Jahre lang bestehen, haben die Erzeugung und den Austausch von Waren revolutioniert, indem sie zugleich zu einer Konzentration und Ausbreitung geführt haben: In manchen Städten hat sich die Bevölkerung verdoppelt und verdreifacht, und ehemalige Kleinstädte von ein paar tausend Einwohnern haben heute 50.000 oder 100.000. Der Preis der Grundstücke und der Mieten ist aber noch schneller gestiegen. Monsieur Geier hat, ohne sich im geringsten anzustrengen oder das kleinste Risiko einzugehen, von der Umsiedlung der Bevölkerung und der Entwicklung von Gewerbe und Handel profitiert.
Die gigantischsten Reichtümer hat Monsieur Geier in Paris und seinen Vorstädten angehäuft. Aber auch in Marseille, Lyon, Roubaix usw. hat er Millionen verdient.
Die Politik hat sich in Paris als Lieferantin großer Wohltaten, legaler sowie illegaler, für Monsieur Geier erwiesen. Das Empire hatte, um die Aufstände und Revolten zu vermeiden, die die Zweite Republik von 1848 und die Regierung von Louis-Philippe nicht zur Ruhe hatten kommen lassen, die Hauptstadt völlig umgestaltet, „haussmannisiert„. Sie riß die alten, gewundenen und düsteren Straßen und Gassen ab, die so gut zum Barrikadenbau geeignet waren, und ersetzte sie durch breite und geradlinige Avenues, die leicht mit Kanonenfeuer zu bestreichen waren. Die Dritte Republik [14] setzte das von Haussmann begonnene Werk fort. [15] Monsieur Geier beeilte sich, den Preis der Grundstücke und der Mieten in den umgestalteten Quartiers zu erhöhen, und diese Erhöhung breitete sich auf alle anderen Quartiers aus.
Hier ein Beispiel, damit man sich eine Vorstellung von den Gewinnen des Monsieur Geier machen kann. Die von der Notariatskammer [16] angeordneten gerichtlichen Verkäufe, die in den Annuaires statistiques de la Ville de Paris [Statistischen Jahrbücher der Stadt Paris] verzeichnet sind, zeigen, daß 1883 und 1885 der Preis pro Quadratmeter im 10. Arrondissement 127 bzw. 134 Francs betrug, während seit der Fertigstellung der Rue Réaumur und der Rue Turbigo der Quadratmeter um 500 bis 600 Francs verkauft wird.
Die Umgestaltung von Paris hat zahlreiche Enteignungen gegen Abstandszahlung notwendig gemacht: Da die mit der Schätzung des Wertes der zu enteignenden Grundstücke betraute Kommission aus lauter Messieur Geier bestand, hat sie diese immer zu Phantasiepreisen eingeschätzt. Sie sprach Entschädigungen für den stark hochgeschraubten Wert des Grundstücks und des Gebäudes zu, für die Erinnerungen, die sie im Enteigneten wachriefen, und für die Gewinne, die sie ihm in Zukunft hätten bringen können. Ein empfindsamer Monsieur Geier erhielt im Kaiserreich eine Entschädigung von 100.000 Francs zugesprochen, für die Verlagerung einer Bibliothek, deren Bücher von seinem geliebten Vater zusammengetragen und katalogisiert worden waren. Halbwachs zitiert den Fall eines Monsieur Geier, der für ein Gebäude im Wert von 1.740.000 Francs vier Millionen verlangte und von der Kommission 2.300.000 Francs zugesprochen bekam; d.h. mehr als eine halbe Million über dem tatsächlichen Wert. Je mehr man verlangte, desto mehr bekam man. Verfallene Gebäude wurden besser bezahlt als nagelneue Häuser. In Paris, Marseille, Perpignan etc. wurden Immobiliengesellschaften für den Handel mit Grundstücken und Liegenschaften gegründet. Sie kündigten in ihren Prospekten an, eine Dividende von zehn Prozent auszuschütten und einen fünfzigprozentigen Gewinn zu machen. [17] Paris und die anderen Großstädte waren wie die Wälder von Bondy [18]: Die Monsieur Geier und die Spekulanten stahlen am hellichten Tag und ohne Bestrafung. Wenn es in der bürgerlichen Gesellschaft eine Gerechtigkeit gäbe, dann würde man die kleinen Diebe aus den Gefängnissen entlassen, um Platz zu machen für diese großen Diebe.
Die Enteignungen und Umgestaltungen der Städte waren nicht ohne die Aufnahme von Anleihen durchführbar. Um die Gier der Messieurs Geier und der Spekulanten zu stillen, nahm die Stadt Paris von 1885 bis 1898 Anleihen in der Höhe von zwei Milliarden 720 Millionen auf. Alle diese Anleihen, mit Ausnahme der letzten drei, brachten drei bis vier Prozent Zinsen vom Nennwert der Papiere, die um 50 bis 75 Francs über Nennwert ausgegeben wurden, teils als Pakete oder mit zusätzlichen Prämien. Monsieur Geier stürzte sich darauf wie auf ein Stück Aas.
Monsieur Geier, in seiner Eigenschaft als Kapitalist, borgte der Stadt Geld, um Monsieur Geier in seiner Eigenschaft als Besitzer zu enteignen, um Paris zu verschönern und den Wert seiner Grundstücke und Liegenschaften zu erhöhen. Er gewann doppelt, sowohl als Kapitalist als auch als Eigentümer. Die Mieter verlieren doppelt: Sie zahlen höhere Mieten und müssen zugleich durch ihre Steuern die Zinsen für die Darlehen stützen, die ihrem Henker, Monsieur Geier, soviel Gewinn gebracht haben.
Die bürgerliche Revolution von 1789 hat die Privilegien des Adels abgeschafft, um die Privilegien der Kapitalisten und des Monsieur Geier an ihre Stelle zu setzen, des Privilegiertesten aller Privilegierten, der alle Welt ausbeutet, die Lohnempfänger in Werkstätten oder Büros genauso wie die Arbeitgeber, die Armen genauso wie die Reichen.
Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, wie Herr Monsieur bei den Enteignungen am hellichten Tag und ohne Bestrafung stiehlt. Jetzt werden wir zeigen, wie er die Mieter der Vergiftung und dem Fieber aussetzt und dabei Herde von Epidemien schafft und Rekruten für die Armeen des Verbrechens heranzieht.
In einem seiner geistreichen Artikel im Socialisme [19] hat Rappoport [20] darauf hingewiesen, daß Dr. Brouardel [21] aufgrund der Statistiken über den Einfluß der Wohnbedingungen auf die Volksgesundheit festgestellt hat, daß in Haushalten, deren Einkünfte nur eine Einzimmerwohnung erlauben, die Sterblichkeitsrate 23mal so hoch ist wie in Haushalten, deren Wohnung zumindest vier Zimmer umfaßt.
Wenn eine Arbeiterfamilie sich in einem einzigen Raum zusammendrängt, in einem unbeschreiblichen Durcheinander und unter den schlechtesten hygienischen Bedingungen, dann geschieht das nicht aus Vorliebe oder aus freiem Willen, sondern infolge einer gebieterischen Notwendigkeit. Diese harte Notwendigkeit wird ihnen von Monsieur Geier, dem mitleidlosen Despoten, auferlegt. Die ständige Erhöhung der Mieten, während die Löhne gleich bleiben oder jedenfalls nicht proportional zu den ständig steigenden Lebenskosten erhöht werden, zwingen die Angestellten der Werkstätten oder Büros, in Wohnungen mit immer weniger und immer kleineren Zimmern zu leben, die manchmal nicht einmal das reinigende und gesundheitsfördernde Licht der Sonne empfangen, und manchmal müssen sie sogar die ganze Familie in einem einzigen Raum unterbringen. Dieses Leben auf engstem Raum, das den Bürgern, die keine Eigentümer sind, durch die zügellose Habgier des Monsieur Geier auferlegt wird, erlaubt es den Infektionskrankheiten und Fieberepidemien, sich in den Großstädten dauerhaft festzusetzen.
Monsieur Geier besitzt alle Tugenden des rechtschaffenen Kapitalisten, achtbar und geachtet. Die allerchristlichste Nächstenliebe, die großherzigste Philanthropie und der aufs höchste gesteigerte Patriotismus veranlassen ihn dazu, die Sozialisten zu hassen und zu denunzieren, weil sie nach einer internationalen Vereinigung der Arbeitnehmer streben. Diese seine Tugenden veranlassen ihn dazu, Paris zur Stadt des Lichts zu proklamieren, die auf der ganzen Welt nicht ihresgleichen hat, und dazu, jedes Jahr seine Mieter und Landsleute zu Zehntausenden aufzuopfern und den Typhus und die Tuberkulose zu Merkmalen von Paris zu machen, ebenso wie die Milde seines Klimas und die Eleganz seiner Frauen.
Die demographischen Statistiken von Paris sind das goldene Buch der karitativen und patriotischen Tugenden sowie der mörderischen Habgier des Monsieur Geier. Schlagen wir sie auf. Ich habe nur jene zur Verfügung, die in den Annuaires statistiques de la Ville de Paris veröffentlicht wurden und von 1874 bis 1906 reichen. Aber sie genügen schon, um zu beweisen, daß sein erlesener Patriotismus, seine biblische Mildtätigkeit und seine liberale Philanthropie nur durch seine mörderische Habgier übertroffen werden.
Die durch Lungentuberkulose verursachten Todesfälle, die 1874 noch 7.474 betrugen, erhöhen sich rasch in den folgenden Jahren:
1883 |
auf |
10.307 |
1889 |
auf |
10.380 |
1902 |
auf |
11.405 |
1906 |
auf |
10.310 |
Die Todesfälle infolge anderer Erkrankungen der Atemwege, die wie die Tuberkulose durch die schlechte Luft allzu beengter Wohnverhältnisse verursacht oder verschlimmert werden, betrugen:
1874 |
|
7.544 |
1880 |
10.194 |
|
1886 |
10.589 |
|
1891 |
11.211 |
Ab diesem Datum bewegt sich die Anzahl der Todesfälle um die 9.000. Mit anderen Worten, zwischen 1883 und 1906 sind in Paris etwa 20.000 Personen pro Jahr an Tuberkulose oder anderen Lungenkrankheiten gestorben.
Auch der furchtbare Typhus hat sich in Paris angesiedelt: jedes Jahr betrifft er Tausende von Einwohnern, von denen Hunderte und manchmal sogar Tausende sterben. Die durch Typhus verursachten Todesfälle betrugen:
1874 |
|
823 |
1880 |
2.003 |
|
1882 |
3.214 |
|
1883 |
1.880 |
|
1885 |
1.320 |
|
1889 |
803 |
|
1900 |
912 |
Der Annuaire statistique de la Ville de Paris von 1882 merkt an, daß die Todesfälle infolge von Typhuserkrankungen, die früher nicht mehr als fünf bis sechs pro 10.000 Einwohner betrugen, sich im Jahre 1880 verdoppelten, 1881 auf 9,5 und 1882 auf 14,9 stiegen. Die Fieberepidemie beschränkte ihr Wüten nicht auf die Armenviertel, wo sie ständig zu Hause ist, sondern dehnte ihre verheerende Wirkung auf die gesamte Stadt aus. Eine Panik bemächtigte sich der Bürgerlichen und der Kapitalisten, sie flohen in Massen: Jene, die das verseuchte Paris nicht verlassen konnten, forderten, was sie niemals zuvor getan hatten, hygienische Maßnahmen zur Sanierung der Armenviertel, von denen sich die Epidemie ausbreitete, nämlich die Desinfektion der Abortgräben, eine generelle Verwendung von durchlässigen Aborteimern, eine Ausweitung der Kanalisation und die Zulieferung von Quellwasser in diese Viertel. Diese Vorsichtsmaßnahmen, nützlich, notwendig und mehr oder weniger ernsthaft angewendet, haben die jährliche Anzahl von Todesfällen verringert, aber den Typhus nicht ausrotten können. Er ist immer noch in den Armenvierteln zu Hause Er kann ganz plötzlich seine Ansteckungsfähigkeit verdoppeln und, wie im Jahre 1882, bis in die Viertel der Reichen gelangen und dort den Tod verbreiten. Man hat seine hauptsächlichen Ursachen weder unterdrücken noch ins Wanken bringen können, nämlich die Habgier des Monsieur Geier, die überhöhten Mietkosten, das Zusammenpferchen der Mieter auf engstem Raum.
Vor einigen Jahren, als mikroskopische Untersuchungen der Luft ergaben, daß sie von Mikroben durchsetzt war, die man auf den ausgehusteten Speichel der Schwindsüchtigen zurückführen zu können glaubte, kam die vorausschauende Polizeipräfektur, die sich nicht um die Anwendung der Gesetze über die ungesunden Wohnhäuser kümmert, zu dem Schluß, daß es zur Eindämmung der Tuberkulose genügen würde, das Ausspucken auf öffentlichen Plätzen zu verbieten. Philanthropische Gesellschaften wie die „Alliance d’hygénie sociale [Gesellschaft zur Bewahrung von Moral und Gesundheit der Bevölkerung]“ unter der Leitung des früheren Ministers Monsieur Bourgeois [22]; das „Œuvre de préservation de l’enfance [Verein zum Schutz des Kindes]“ etc. etc. haben ihr den Krieg erklärt, mit Hilfe von Polikliniken, Luftkuren, Spitälern am Meer, Sanatorien, Kleinkinderheimen, Milchtropfen etc. Aber sie haben es nicht gewagt, Monsieur Geier anzutasten, den großen Verbreiter der Tuberkulose.
Es genügt, die durch Tuberkulose und Typhus verursachen Todesfälle nach Arrondissements und Quartiers aufzuschlüsseln, um die schwerwiegende Verantwortung von Monsieur Geier festzustellen. Die Lungentuberkulose tötete 1902 in Paris 11.405 Personen, also 42,8 je 10.000 Einwohner: Eine Analyse der Zahlen zeigt, daß die Sterblichkeit normalerweise dort am höchsten ist, wo die Einwohnerdichte am größten ist, d.h. dort wo es die meisten Einwohner pro Hektar gibt.
Arrondissements |
Einwohner |
Todesfälle pro |
---|---|---|
I. |
332 |
29,4 |
VII. |
244 |
23,1 |
VIII. |
269 |
11,6 |
IX. |
632 |
47,7 |
XI. |
647 |
47,9 |
XVIII. |
476 |
46,1 |
Villette (XIX.) |
421 |
54,3 |
Belleville (XX.) |
661 |
65,1 |
Die Einwohnerdichte pro Hektar liefert freilich nur annähernde Daten. Für eine genauere Untersuchung müßte man die Anzahl der Personen pro Zimmer kennen. Die Statistik über die Typhussterblichkeit von 1882 ist zwar nach der Anzahl von möblierten Wohnungen und Häusern und nicht nach Zimmern aufgeschlüsselt, erlaubt aber bereits genauere Schlußfolgerungen.
Stadtviertel |
Todesfälle |
Einwohner |
|
---|---|---|---|
pro Haus |
pro Wohnung |
||
Champs-Elysées |
9,7 |
16,8 |
415 |
Santé |
8,6 |
21,1 |
817 |
Combat |
22,1 |
32,6 |
1.490 |
Chapelle |
26,2 |
33,7 |
1.679 |
Villette |
28,1 |
33,7 |
1.533 |
Monnaie |
28,3 |
38,8 |
1.476 |
Die Sterblichkeitsrate pro 10.000 Einwohner für ganz Paris betrug 14,9.
Man kann also nicht bestreiten, daß die Habgier des Monsieur Geier die hauptsächliche und beständige Ursache für die Pariser Sterblichkeitsrate an Tuberkulose und Typhus ist. Aber es gehen noch andere Untaten auf sein Konto.
Nächtliche Überfälle sind zumeist Taten von armen Teufeln, die mit leerem Magen und ohne zu wissen, wo sie schlafen sollen, durch die Straßen irren. Getrieben vom Zwang elementarer Bedürfnisse stürzen sie sich auf den Passanten wie die Katze auf die Maus. Die Justiz ist so sehr davon überzeugt, daß die Landstreicherei eine Neigung zum Verbrechen nach sich zieht, daß sie die Unterstandslosigkeit wie eine Untat bestraft: Wenn sie nicht eine klassengebundene Justiz wäre, würde sie nicht den Landstreicher verurteilen, sondern Monsieur Geier bestrafen, der ihn, indem er ihm die Unterkunft verweigert, zum Begehen eines Verbrechens nötigt. Da das rücksichtslose Vorgehen der Justiz keine zufriedenstellenden Ergebnisse erzielte, versuchte man es mit Philanthropie, man eröffnete Nachtasyle für Männer und Frauen, und die Anzahl der Festnahmen wegen nächtlicher Überfälle ging sofort zurück: Man könnte sie noch weiter verringern, wenn man die nicht vermieteten Lokalitäten des Monsieur Geier zwangsweise dazu verwenden würde, jene Bürgerinnen und Bürger unterzubringen, die er einer Unterkunft beraubt.
Die Zahl der Verbrechen und der Todesfälle in den Städten wird erst dann zu steigen aufhören, wenn man der Habgier des Monsieur Geier einen Riegel vorschiebt.
Monsieur Geier ist ein Volksfeind. [23] Wer es wagt, das laut zu sagen, was alle denken und leise murmeln, findet bei jedermann Zustimmung. Meine Artikel sind ein Aufschrei des öffentlichen Gewissens. Sie haben mir zahlreiche ermutigende Briefe von Genossen und von Unbekannten eingebracht, die mir Tatsachen aus ihrer eigenen Erfahrung mitteilen und verlangen, daß meine Artikel als Broschüren veröffentlicht werden. Daß Monsieur Geier mich mit Beleidigungen überhäuft hat, zeigt mir nur, daß ich voll ins Schwarze getroffen habe.
Aber es darf sich nicht alles auf Bücher und Briefe beschränken. Das wäre Monsieur Geier nur allzu recht. Er ist an die Klagen und die Wut seiner Mieter schon gewöhnt: „Sollen sie doch wettern und jammern, Hauptsache, sie zahlen!“, sagt er mit philosophischem Gleichmut.
Man muß also diesen Dingen eine Agitationskampagne gegen diese Geißel der Nation folgen lassen. Ich habe ein Alarmsignal ertönen lassen. Es liegt nun an den Sozialisten und den Mietern, dem Aufruf zu folgen, sich zusammenzuschließen und zusammenzuarbeiten, um die Habgier des Monsieur Geier in die Schranken zu weisen.
Die Mieter können nur auf die Parti Socialiste zählen. Monsieur Geier ist eine sakrosankte Gestalt. Ihn anzugreifen gilt als Verbrechen der Majestätsbeleidigung. Die Justiz stellt ihn über alle anderen Privilegierten des Kapitalismus: Sie macht seine Interessen zu Rechtsgrundsätzen und schützt sie durch Gesetze, die ebenso ungerecht wie grausam sind. Sie stellt ihm die repressiven Kräfte des Staates zur Verfügung, um die Bürger ohne Eigentum zu unterdrücken und in der Form von Mieten ständig steigende Abgaben einzuheben, deren Betrag er allein bestimmt.
Die Gesetzgeber und die Justizbeamten geben gerne zu, daß die Landstreicherei eine Schule des Verbrechens ist, daß sie die Gefängnisse, Zuchthäuser und Schafotts beliefert, aber sie weigern sich, die sozialen Ursachen aufzudecken, die ihr zugrunde liegen. Sie wissen wohl, daß die Landstreicherei nicht in allen Gesellschaften existiert hat, und sie ahnen, daß sie deswegen ständig wächst, weil Monsieur Geier ein Monopol auf die Wohnhäuser hat, die er durch das ständige Anheben der Mieten unbewohnbar macht; aber statt ihn zu belästigen, ziehen sie es vor, die Landstreicher zu verurteilen und die Kriminalität weiter fortschreiten zu lassen.
Die Philanthropen jammern über die Todesstrafe, als ob es im Strafgesetzbuch nicht noch viel schrecklichere Bestrafungen gäbe. Sie halten Brandreden gegen die Guillotine und sprechen nicht von der lebenslänglichen Einkerkerung und vom Schicksal des lebenslangen Kettensträflings: Aber kein einziger dieser Tränenreichen hat jemals die Abschaffung der hoheitlichen Privilegien des Monsieur Geier verlangt, der jene Landstreicher hervorbringt, aus denen dann Räuber und Mörder hervorgehen.
Die in der Kriminalistik tätigen Anthropologen, die mit Verachtung die Phantasien dieses Witzboldes Lombroso über „l’uomo delinquente [den geborenen Verbrecher]“ zurückweisen, betonen, daß man nicht als Verbrecher geboren wird sondern sich dazu entwickelt, daß die Umgebung, in der man lebt und sich bewegt, das Verhalten bedingt; daß das Wohnen in möblierten Wohnungen und in häßlichen, engen, ungesunden, kalten Zimmern, mit nackten und schmutzigen Wänden, mit wenigen und wackeligen Möbeln, wo man nicht die geringste Freude finden kann, das Bleiben verleidet und dazu veranlaßt, wegzugehen und in der Kneipe ein wenig Wärme, Licht und Unterhaltung zu suchen und sich zu betrinken, ohne daß es einem schmeckt, ohne Notwendigkeit und ohne daß man diesem Drang Widerstand leisten könnte. Die Anthropologen wissen, daß man die Verbrechensrate senken könnte, wenn man die Unterkünfte der Armen umgestalten würde, indem man ihnen gesunde und bewohnbare Häuser verschafft, aber sie hüten sich, dies auszusprechen, um nicht den Interessen des Monsieur Geier zu schaden.
Die Gesundheitsmediziner belegen, mit Statistiken in den Händen, daß die Zusammenballung von Männern, Frauen und Kindern, die durch Überarbeitung sowie durch unzureichende Nahrung von schlechter Qualität geschwächt sind, eine der Hauptursachen für die beträchtliche Anzahl von Todesfällen infolge Tuberkulose und Lungenentzündung ist, ebenso wie bei Typhus, Masern, Scharlach, Krupp [24] und anderen Epidemien Sie erklären, daß die Armenviertel ständige Entstehungsherde für diese schrecklichen Krankheiten sind, deren Keime sich in der ganzen Stadt verbreiten; aber statt Monsieur Geier, den für diese Übel verantwortlichen Urheber, anzuklagen, befürworten sie philanthropische Linderungsmittel wie Polikliniken, Hospize, Sanatorien, Kleinkinderheime, Milchtropfen etc., die dem einen oder anderen Erleichterung verschaffen mögen, aber nicht die Zustände ändern. Soziale Übel verlangen nach sozialen Gegenmitteln.
Die Presse, diese Vierte Macht, die sich rühmt, Aufklärung zu verbreiten, Unrecht wieder gutzumachen und die Sache der Allgemeinheit zu vertreten, von der sie gekauft und bereichert wird, widerlegt diese Aufschneiderei zu Reklamezwecken dadurch, daß sie niemals das Monopol und die Privilegien des Monsieur Geier angreift. Monatelang hat L’Humanité [Die Menschheit] diese Privilegien jede Woche öffentlich an den Pranger gestellt, aber keine der Pariser Tageszeitungen hat darauf reagiert.
Und was ist mit den Abgeordneten der bürgerlichen Parteien, die Republikaner ebenso wie die Monarchisten, die Radikalen wie die Nationalisten, die Freidenker wie die Klerikalen oder die Antisemiten? ... Ihr in Wahlzeiten so höllisch ausgeprägter Redefluß verwandelt sich in plötzliche Zungenlähmung, wenn es darum geht, die Interessen der Mieter gegen Monsieur Geier zu verteidigen, obwohl die Mieter die überwiegende Mehrheit ihrer Wählerschaft ausmachen, für die sie zu sterben und vor allem zu leben geschworen haben. Sie finden erst dann wieder zu ihrer Geschwätzigkeit, wenn es darum geht, die Angriffe der Sozialisten auf das Eigentum zurückzuschlagen, den Grundpfeiler der kapitalistischen Gesellschaft und des Monopols von Monsieur Geier.
Monsieur Steeg [25], Abgeordneter des Stadtteils Seine, scheint sich daran erinnert zu haben, daß die Mieter auch Wähler sind, denn im Matin [26] vom 25. April 1908 beweint er „die kleinen Leute, die Arbeiter, die Angestellten und die Ladeninhaber, die dazu gezwungen sind, die Miete im voraus zu bezahlen“, offenbar das einzige Elend, über das sie das Recht haben, sich zu beschweren. Er läßt sie wissen, daß er, um sie vor diesem „ehernen und grausamen Gesetz des Eigentümers“ zu schützen, eine Gesetzesvorlage eingebracht hat, wonach dieser dazu verpflichtet werden soll, drei Prozent Zinsen auf die im voraus empfangene Summe zu bezahlen. Was für ein Mut! Was für eine Reform! Mit einem Schlag sind alle Mieter im Schlaraffenland. Leider hat Monsieur Steeg vergessen, ihnen Mittel in die Hand zu geben, die Monsieur Geier daran hindern könnten, die Miete zu erhöhen, um auf diese Weise die bezahlten Zinsen wieder hereinzubringen.
Alle, Gesetzgeber und Justizbeamte, Kriminalisten und Gesundheitsforscher, Journalisten und bürgerliche Abgeordnete, haben sich mit Monsieur Geier gegen die Mieter verschworen.
Nur die Parti Socialiste kann gegen Monsieur Geier, sein Monopol und seine Privilegien zu Felde ziehen. Nur die sozialistischen Mandatare können im Abgeordnetenhaus und in den Gemeinderäten nützliche und sofort durchführbare Reformen vorschlagen und unterstützen, um den Mietern zu Hilfe zu kommen, die Verbrechensrate zu senken und die Volksgesundheit zu schützen.
Eine Herabsetzung der Mieten ist unbedingt notwendig.
Paris ist im vergangenen halben Jahrhundert völlig umgestaltet worden Ganze Stadtviertel sind abgerissen und neu aufgebaut worden, verlassene Stadtviertel sind mit Häusern und Werkstätten belebt worden. Paris ist, wie das Empire es wollte, die Weltstadt des flotten Lebens geworden, Treffpunkt der Vergnügungen für Millionäre aus aller Herren Ländern und ein Paradies der Hochstapler und der Prostituierten der großen Welt ebenso wie der Halbwelt. Aber es ist auch eine Stadt der Arbeit, wo zahlreiche Gewerbe und Handelsunternehmen ein ganzes Volk von Lohnempfängern beschäftigen. Im Jahre 1856, als gerade die „Haussmannisierung“ von Paris begann, betrug seine Bevölkerung 1.174.346 Einwohner; 50 Jahre später, im Jahr 1906, betrug sie bereits 2.722.755 Einwohner, was einem Anstieg von 132 Prozent entspricht.
Vom Juni 1855 bis zum Februar 1905 hat die Stadt Darlehen in der Höhe von 3.322.747.000 Francs aufgenommen, um diese Umgestaltung durchführen zu können Sie hat sich zu jährlichen Zahlungen in der Höhe von 130.878.880 Francs verpflichtet, um die Brücken Pont d’Austerlitz, Pont de la Cité und Pont des Arts abzulösen [27], ebenso wie die Kanäle von Saint-Martin, l’Ourcq und Saint-Denis, die Wasserwerke, die Gesellschaft von Saint-Maur, die Kleinfahrzeug-Gesellschaft Ducoux und die Viehmärkte von la Villette; und sie hat an Monsieur Geier 4.992.850 Francs abgeführt, um ihn für die Zerstörung und die Verbrennung seiner Liegenschaften durch die Banden von Versailles zu entschädigen, die Thiers auf das Paris der Commune losgelassen hatte.
Die Stadt hat also innerhalb eines halben Jahrhunderts für die Neugestaltung von Paris, für die freie Befahrbarkeit seiner Brücken und Kanäle, für die Lieferung von Trinkwasser und für andere Arbeiten im öffentlichen Interesse die Summe von 3.450.000.000 Francs aufgewendet.
Die Zinsen für die noch nicht getilgten Kredite und die laufenden jährlichen Ratenzahlungen wurden im Budget für 1906 mit 116.447.757 Francs ausgewiesen. Zur Abdeckung dieser städtischen Verschuldung wurden der Bevölkerung Steuern im durchschnittlichen Ausmaß von 42 Francs 75 Centimes pro Kopf auferlegt.
Schon seit 50 Jahren zahlen die Pariser diese schwere Schuld ab, und das Ende ist noch lange nicht in Sicht.
Monsieur Geier hat als erster und am vollständigsten von dieser Umgestaltung von Paris profitiert, die schon bisher so hohe Kosten verursacht hat und weiter verursacht.
Grundstücke, die zuvor geringen oder gar keinen Wert hatten, sind sofort im Preis gestiegen. Grundstücke im Wert von 20, 30 oder 40 Francs pro Quadratmeter sind um 200, 500, 1.000 oder mehr Francs verkauft worden. Der Annuaire statistique de Paris von 1882 verzeichnet den von der Notariatskammer angeordneten Verkauf eines Grundstücks im zweiten Arrondissement mit einer Oberfläche von 378 Quadratmetern zu dem Phanataisepreis von 1.137.000 Francs, was einem Preis von 3.008 Francs pro Quadratmeter entspricht!
Das Arbeitsamt hat aufgrund von Untersuchungen und offiziellen Statistiken belegt, daß die durchschnittliche Miete eines Arbeiters, die 1849 117 Francs betragen hatte, 1889 bereits 320 bis 380 Francs ausmachte, daß die Arbeiter seitdem ständig steigende Mieten zu bezahlen hatten und daß, wenn die Miete gleich blieb, die Wohnung kleiner, schlecht gelegen und ungesund war.
Die überhöhten Mieten, die zur Landstreicherei führen und die Mieter in ungesunden Räumlichkeiten zusammenpferchen, nähren die Kriminalität und rufen die Tuberkulose und die Epidemien hervor, die die Pariser Bevölkerung dezimieren.
Es besteht wenig Hoffnung, daß der ständige Anstieg der Mieten aufhören wird; im Gegenteil, er wird in dem Maße weitergehen, in dem auch das Gewerbe, der Handel und die Bevölkerung weiter wachsen. Das Monopol des Monsieur Geier gibt ihm eine diktatorische Macht, die nur eine Grenze kennt, nämlich die seiner Habgier, und die es ihm erlaubt, jede sich bietende Gelegenheit für eine Verteuerung der Mieten zu nützen. Die Métro, die durch die Entlastung der Stadtzentren und durch den Transport der Arbeiter über weite Strecken eigentlich die Mieten senken sollte, hat sich für ihn als vorzügliche Gelegenheit erwiesen, sie überall entlang ihren Linien zu erhöhen. Die Abschaffung des Stadtzolls auf Wein, die durch die steuerliche Entlastung des Getränks der Arbeiter dessen Preis hätte herabsetzen müssen, hat letzten Endes nur zu seiner Verteuerung geführt, denn Monsieur Geier hat seine Mieten nicht nur erhöht, sondern ihnen auch noch die Steuer zugeschlagen, mit der das Eigentum zum Ausgleich belegt worden war, um das durch die Abschaffung verursachte Defizit auszugleichen.
Diese Zustände dürfen nicht fortbestehen. Sie dauern bereits viel zu lange und verursachen großen Schaden für Handel und Gewerbe, für das Wohlergehen der Arbeiter und die öffentliche Gesundheit und Moral.
1789 ist der königliche Despotismus niedergeschlagen worden Nun ist es Zeit, den Despotismus des Monsieur Geier niederzuschlagen, der noch ungerechter und unterdrückender ist. Der erste Schlag, der gegen diesen unersättlichen Blutsauger des Volkes geführt werden muß, besteht darin, ihn dem Gesetz zu unterstellen.
Ein Gesetz Napoleons I., das vom September 1807 datiert, liegt in einem tiefen Schlaf, der von keinem Minister, keinem Abgeordneten, keinem Justizbeamten gestört wird; es sagt in seinem Artikel 30:
„Wenn durch die Öffnung neuer Straßen, durch die Gestaltung neuer Plätze, durch die Errichtung von Uferstraßen Quais oder durch irgendwelche andere Arbeiten im Interesse der Bevölkerung, der Allgemeinheit, der Départements oder Gemeinden, privates Eigentum eine spürbare Zunahme seines Werts erfahren hat, kann dieses Eigentum mit der Bezahlung einer Entschädigung belastet werden, die bis zum halben Wert der dadurch erworbenen Vorteile reichen kann.“
Das Gesetz von 1807 ist klar und kategorisch, es gibt der Stadt das Recht und die Verpflichtung, von Monsieur Geier die Hälfte des Mehrwerts zu fordern, den seine Besitzungen seit 1855 hinzugewonnen haben, und zwar durch die Öffnung von Straßen und Boulevards, die Gestaltung von Plätzen, den Rückkauf von Brücken und Kanälen sowie durch andere Arbeiten im allgemeinen Interesse, die sie beinahe dreieinhalb Milliarden gekostet haben und die sie dazu zwingen, der Bevölkerung Steuern im Wert von mehr als 100 Millionen Francs aufzuerlegen. Und was für Paris gilt, gilt auch für Marseille, Lyon und die anderen Städte.
Halbwachs [28] sagt, daß das Gesetz von 1807 in Paris während der Restauration in Kraft war; dann sollte es ebenso in der radikalen Republik in Kraft sein. Aber die republikanischen Bürgerlichen, die sich Monsieur Geier gegenüber viel unterwürfiger verhalten und seinen Privilegien mehr Respekt erweisen als die Royalisten unter Ludwig XVIII. und Karl VII. [29], werden niemals den Mut haben, dieses Gesetz anzuwenden, es sei denn, daß die Sozialisten und die Mieter sie zum Handeln zwingen, und zwar durch eine weitreichende und leidenschaftliche Agitation für die Ernennung von Sonderkommissionen, eine für jedes Arrondissement und mit allgemeinem Wahlrecht, deren Aufgabe es sein soll, den Wert zu bestimmen, den die im Privatbesitz befindlichen Liegenschaften seit 1855 hinzugewonnen haben, weiters die Summe festzulegen, die Monsieur Geier für die Hälfte des Wertzuwachses auszuspucken hat, den seine Liegenschaften erfahren haben, sowie sofort die Mieten herabzusetzen, so daß sie nur den Zinsen des Wertes des Eigentums im Jahre 1855 entsprechen, vermehrt um die Zinsen für die Hälfte des inzwischen erfolgten Wertzuwachses.
Man kann schätzen, ohne einen Irrtum befürchten zu müssen, daß die Mieten, die sich in den letzten fünfzig Jahren in Paris mehr als verdreifacht haben, zumindest um ein Drittel sinken würden. Eine Miete von 1.200 Francs würde auf 800 Francs verringert; eine von 600 Francs auf 400 Francs; eine von 300 Francs auf 200 Francs, und eine von 100 auf 66 Francs.
Die Mieten würden taxiert, d.h. nicht willkürlich durch die Habgier des Monsieur Geier festgesetzt, sondern auf gesetzlicher Grundlage durch Sonderkommissionen, wie es beim Fleisch, beim Brot und beim Geldzins der Fall war und ist.
Die Justiz schützt Monsieur Geier auf skandalöse Weise. Wenn zufällig ein Gesetz, wie das von 1807, dazu angetan ist, ihm zu schaden, ignoriert sie es; andererseits gestattet sie diesem Blutsauger der Nation, seine Interessen in ungeschriebene Gesetze zu verwandeln, die von den Gerichten rigoros angewendet werden.
Kein Gesetzestext, es sei denn sein räuberischerer Wille, gibt ihm das Recht, ohne Gerichtsurteil die Möbel, die Kleidung und die Wäsche eines Mieters zu beschlagnahmen und zu verkaufen, um nicht nur die bisher angefallenen Mieten einzuheben, sondern auch noch jene, die in der Zeit fällig werden, die für die Suche nach einer neuen Unterkunft nötig ist, und es hat sich bisher noch kein Friedensrichter gefunden, der ihm den Vollstreckungsbefehl verweigert hätte: so ist das Gewohnheitsrecht.
Gewohnheitsrecht? Aber es ist Monsieur Geier selbst, der es bestimmt, und so schwankt es auch von einem Département zum anderen und sogar innerhalb einer Stadt. In Paris ist es üblich, daß die kleinen Mieten im voraus bezahlt werden, aber es ist nicht üblich, daß Mieten über 1.000 Francs im voraus bezahlt werden, außer wenn es eine schriftliche Vereinbarung gibt. Warum? Weil es Monsieur Geier so gefällt.
Da alle Richter, die Friedensrichter eingeschlossen, den Befehlen von Monsieur Geier unterstehen, müssen die Mieter die Schaffung einer neuen Gerichtsbarkeit fordern, die sie gegen das Ungeheuer schützen soll. Aber damit diese neue Gerichtsbarkeit nicht das gleiche Schicksal erlebt wie die früheren und nicht zu seiner untertänigen Dienerin wird, ist es notwendig, daß sie einen anderen Ursprung und eine andere Funktion hat. Es ist notwendig, daß die Justizbeamten, die sie ausführen, ebenso wie die Schiedsgerichte vom Volk durch allgemeine Wahlen und nicht von der Regierung bestimmt werden, und daß es ihre Aufgabe sein muß, die Interessen der Mieter zu vertreten und nicht, sie denen von Monsieur Geier zu opfern.
Diese Justizbeamten würden ebenso wie die Mitglieder der Schiedsgerichte zu gleichen Teilen von den Mietern und den Eigentümern gewählt, die seit mindestens sechs Monaten in dem jeweiligen Arrondissement wohnen; nur die Einwohner des Arrondissements wären wählbar. Die Frauen würden sowohl das aktive wie das passive Wahlrecht haben, weil sie, mehr noch als die Männer, die Sorgen und den Kummer kennen, die die Bezahlung der Miete verursacht; sie sind es, die gewöhnlich sparen und sich auf das Nötigste beschränken müssen, um mit der Summe auszukommen, die der Mann oder der Sohn nach Hause bringt.
Dieses Tribunal würde zu den festgesetzten Terminen von sechs Uhr abends bis Mitternacht in den Rathäusern seine Sitzungen abhalten und seine Beschlüsse unter den Augen des Volkes fassen. Keine Ausweisung und keine Beschlagnahmung könnte erfolgen, ohne daß es sie angeordnet hätte: Aber statt ohne Zögern und rücksichtslos, wie das die Friedensrichter tun, die Erlaubnis zur Vertreibung des Mieters und zur Versteigerung seiner Habe zu erteilen, würde es sich zwischen die beiden Parteien stellen und stets vernünftige Zahlungsbedingungen zugestehen.
Die grobe Unverschämtheit des Monsieur Geier würde sich sofort verringern, wenn er wüßte, daß es nicht mehr genügt, der Justiz „Ich will! “ zu sagen, um bei ihr Gehör zu finden.
Diese Gerichtskommissionen in jedem Arrondissement, denen auch die Stadträte rechtmäßig angehören würden, hätten auch die Aufgabe, die gesundheitsschädlichen Unterkünfte zu überwachen, diese Ausbreitungsherde von Epidemien, die das Fieber und den Tod in der ganzen Stadt verbreiten. Die Anzahl der Beschwerden, die 1906 bei der Kommission für ungesunde Wohnungen einlangten, betrug 2.941, und die Anzahl der Berichte des Gesundheitsamtes 6.100, und doch gab es nicht mehr als 514 amtliche Anordnungen! Und so ist es jedes Jahr. Das beweist deutlich die Notwendigkeit eines öffentlichen Organs für die Aufrechterhaltung der Volksgesundheit.
Aber es kommt noch schlimmer: Es gibt eine Statistik der gesundheitsschädlichen Häuser, welche die Tuberkulose, den Typhus und andere Infektionskrankheiten verbreiten, wie ein Gemischtwarenladen Zucker und Kerzen verkauft. Von diesen Häusern gibt es in Paris etwa 5.000, und sie werden von einer halben Million von Bürgerinnen und Bürgern bewohnt, die der Krankheit und dem Tod geweiht sind. Die Präfektur des Stadtteils Seine, die diese Statistiken besitzt, beeilt sich nicht etwa, sie zu veröffentlichen und bekannt zu machen, diese Herde der Pestilenz abzureißen und ihre Eigentümer zu verfolgen, weil sie verderbliche Örtlichkeiten zur Benützung freigegeben haben, wie sie die Gewerbetreibenden und Händler verfolgt, die verfälschte Nahrungsmittel verkaufen, sondern sie versteckt sorgsam die Liste dieser Todeshäuser, und der Bürger, der zufällig von ihr Kenntnis erlangen würde und den Mut hätte, die Messieurs Geier, die ihre Mieter mit ungesunden Unterkünften vergiften, der öffentlichen Empörung preiszugeben, würde wegen Verleumdung gerichtlich verfolgt.
Das Gesetz, das Monsieur Geier folgendes zu verkaufen verbietet: „Die Bettstatt des Gepfändeten und seiner Kinder; die Kleider, die sie am Leib tragen; Maschinen und Instrumente bis zur Summe von 300 Francs; das Mehl und die Lebensmittel, die für den Verzehr des Gepfändeten und seiner Familie für einen Monat notwendig sind“, liefert seiner Habgier zu viele Gegenstände des unmittelbaren Bedarfs aus: Es müßte durch ein Gesetz ersetzt werden, das jede Beschlagnahme in Wohnungen mit einer Miete von weniger als 1.000 Francs verbietet. Denn die Möbel, Kleider, Wäsche, Arbeitsinstrumente und Haushaltsgeräte, die sich darin befinden, sind keine Luxusgegenstände, sondern sind unumgänglich notwendig, um es dem Mieter zu erlauben, ordentlich zu leben und seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Von 1881 bis 1902 hat man in Paris pro Jahr 12 bis 15.000 Personen wegen Landstreicherei verhaftet, was einem Durchschnitt von 33 bis 40 pro Nacht entspricht. Die wegen Landstreicherei verhafteten Personen sind nur deshalb ohne Unterkunft, weil Monsieur Geier, der ein Monopol auf alle Wohngelegenheiten hat, ihnen deren Benützung durch überhöhte Mieten verweigert. Während Tausende von Bürgerinnen und Bürgern ohne Unterkunft durch die Nacht irren, gibt es Tausende von unbewohnten Lokalitäten, 26.610 im Jahre 1902 und 26.953 im Jahre 1906, laut den Annuaires statistiques de la Ville de Paris. Die Polizei und die Justizbehörde betrachten die Landstreicherei als Aufforderung zum Raub und zu nächtlichen Überfällen, daher bestraft die Justiz den Landstreicher, aber respektiert Monsieur Geier, der ihn hervorbringt.
Da das ebenso brutale wie widerrechtliche Vorgehen der Justiz dem Übel nicht abgeholfen hat, hat man beschlossen, zu philanthropischen Mitteln Zuflucht zu nehmen und Nachtasyle zu eröffnen, welche sofort die Anzahl der Verhaftungen wegen Landstreicherei verminderten; im Jahre 1906 betrug sie nur mehr 5.822. Diese Zahl ist immer noch zu hoch, und um sie an Null anzunähern, müßte man die unvermietenen Lokale nur besteuern, um die Nachtasyle zu vervielfältigen, damit es keine Bürgerin und keinen Bürger ohne anständiges Zimmer mehr gäbe, in dem sie oder er sich in der Nacht ausruhen können. Außerdem würde diese Steuer Monsieur Geier zwingen, die Miete zu senken.
Die Konkurrenz ist eines der Gesetze der kapitalistischen Produktions und des Handels: um das Monopol des Monsieur Geier diesem Gesetz zu entziehen, muß man versuchen, ihn unter dasselbe zu stellen, indem man ihn einer Konkurrenz gegenüberstellt, die, wenn sie ihm nicht von Privaten gemacht werden kann, so doch sehr wohl durch die Gemeinden. Diese könnten Baukredite nehmen, ähnlich wie sie es bereits getan haben, um die Städte so umzumwandeln, um dem Monsieur Geier den Mehrwert zuführen.
Die Schleifung der Stadtmauern, deren Länge 33.930 und deren Breite 150 Meter ausmacht und die gleichzeitige Aufhebung der sie umgebenden Militärzone, deren Breite 300 Meter entspricht, würden über 16 Millionen m2 an Baugrund ergeben, auf denen die Stadt Paris 50 bis 80.000 Häuser mit Grünflächen erbauen könnte, Plätze und Alleen sowie Parks und Sportplätze könnten dort ebenfalls errichtet werden.
Die Errichtung dieser Wohnungen dürfte nicht den philanthropischen Gesellschaften überlassen werden, denn diese sind in Wahrheit nur solche des Gewinns und der Spekulation, sondern müßte durch die Gemeinden durchgeführt werden; die Häuser sollten zum Selbstkostenpreis vermietet werden und dürften niemals verkauft werden.
Diese Reformen, die im kapitalistischen System selbst realisierbar sind, würden im Falle ihrer Durchführung den den Arbeitern und Angestellten jenes „bessere Leben“ ermöglichen, welches die reformistischen und revolutionären Gewerkschafter der C.G.T (* Confédération Génerale du Travail) [30] propagieren. Aber sie würden die Parti Socialiste nicht zufriedenstellen, denn wenn die Gewerkschaften an den Krallen des Geiers nagen, so wollen sie doch nicht das Privateigentum und das kollektive Eigentum der Aktiengesellschaften unterminieren; sie wollen diese Basis des kaptalistischen Gebäudes nicht angreifen und können somit die Werktätigen nicht wirklich befreien.
Die Parti Socialiste jedoch, welche eine Gesellschaft erbauen will, in der sich die Arbeiter die gemeinschaftlich produzierten Waren brüderlich teilen, denkt, falls ein neuer 18. März [31] käme, dann würde eine revolutionäre Regierung noch am Tage ihrer Machtergreifung selbst den Monsieur Geier enteignen, eine Bestandaufnahme der Häuser und Wohnungen würde durchgeführt werden, die Arbeiter und ihre Familien würden in jenen Luxusappartements untergebracht werden, welche die Kapitalisten durch ihre Faulheit und ihre Laster entehren, die baufälligen Häuser die gesundheitsschädlichen Unterkünfte und dreckigen Elendsquartiere würden endlich gesprengt werden, in denen die Arbeiter leben und leiden.
Das wäre (endlich) der Beginn einer neuen Ordnung.
Nachdem sie die Genossen Ducos de la Haille [32], Goudchaux-Brunschwieg [33] und Paul Lafargue angehört haben, gratulieren die hier im Saal am 13. Februar 1909 versammelten Bürgerinnen und Bürger der 10. Sektion der Föderation der Seine, da sie die Initiative für die Kampagne gegen Monsieur Geier ergriffen hat.
Sie verpflichten die Mieter, sich den Sozialisten anzuschließen, um in Paris, Puteaux, Saint-Denis, Saint-Ouen und den anderen Städten an der Seine eine kraftvolle Bewegung auszulösen, um damit folgende Forderungen gegenüber der republikanischen Regierung und der bürgerlichen Justiz durchzusetzen:
1) die Anwendung des Gesetzes von 1807, das Monsieur Geier zwingt, die Hälfte seines seit 1855 durch seinen Besitz erworbenen Mehrwerts wieder auszuspucken;
2) die Ernennung einer frei gewählten Bezirkskommission zum Schutz der Mieter gegen die Delogierung und die Pfändung, welche die Regierung und Justiz dem Monsieur Geier erlauben und um die Mietshöhe zu prüfen und um sie durch Sonderkommissionen zu fixieren, wie es beim Fleisch, beim Brot und und Geldzins der Fall ist;
3) die Besteuerung der unvermieteten Lokalitäten, um dem Vagabundieren ein Ende zu setzen und den nächtlichen Raubzügen vorzubeugen, indem man den vom Monsieur Geier beraubten Bürgerinnen und Bürgern reine und anständige Zimmer verschafft, in denen sie die Nacht verbringen können;
4) Monsieur Geier soll es verboten werden, das Mobiliar aus den Wohnungen unter 1.000 Francs Miete zu beschlagnahmen und überhaupt Pfändungen ohne Gerichtsurteil durchzuführen;
5) die Veröffentlichung und das Aushängen einer Liste von gesundheitsschädlichen Häusern, die ohne jeden Schadenersatz zu erfolgende Zerstörung jener Totenhäuser und die Verurteilung ihrer Besitzer, denn sie haben jahrelang Wohnungen vermietet, von denen sie wußten, daß sie Tuberkoloseherde waren und daher die Krankheit und den Tod von Hunderten und Tausenden von Mietern verursacht haben;
6) die Schleifung der Stadtmauern von Paris, welche sich als militärisch zwecklos erwiesen haben, die Aufhebung der Militärzone und die Errichtung von 50 bis 60.000 Häusern mit Grünflächen auf dem nun freiwerdenden Areal, die für Fabriksarbeiter und Büroangestellte bestimmt sein sollen. Diese Mietshäuser sollen zum Selbstkostenpreis vermietet werden und dürfen nicht verkauft werden.
Die Humanité und andere sozialistische Zeitungen laden alle ein, mit allen ihren Kräften zum Triumph dieser notwendigen Kampagne gegen den Volksfeind, den Monsieur Geier, beizutragen.
1. * Erschienen als Broschüre unter dem Titel Monsieur Vautour et la réduction des loyers in der „Libraire de Parti Socialiste (S.F.I.O. [*Section Française de l’Internationale Ouvrière])“ (o.O., o.J.). Deutschsprachige Erstveröffentlichung. Übersetzerin: Anna Donninger.
2. Diese Artikel, die ursprünglich in L’Humanité erschienen sind, wurden auf Wunsch der Parteigenossen und der Leser dieser Zeitschrift zu der vorliegenden Broschüre zusammengefaßt, um ihnen Waffen für den nunmehr begonnenen Krieg gegen Monsieur Geier zu liefern. * Die 1901 von Jean Jaures gegründete L’Humanité [Die Menschheit] wurde 1921 zum Zentralorgan der Kommunistischen Partei Frankreichs.
3. * Ort im Arrondissement von Valenciennes, im 18. Jahrhundert Bergbauzentrum.
4. * Am 23. Mai 1793, in der Schlußphase des Duells zwischen Gironde und Montagne, dekretierte der Konvent eine Zwangsanleihe, die am 3. September 1793 aufgelegt wurde (vgl. dazu Markov [siehe Anm. 550], 1, 302ff. und 2, 415ff.).
5. * 1901 formierte sich aus dem in jakobinischen Traditionen stehenden, weniger kompromißbereiten und stärker auf eine soziale Öffnung hin orientierten Flügel der bürgerlichen Republikaner die Parti Republicain Radical et Radical-Socialiste.
6. * Im Französischen „les arrhes [Anzahlungen]“.
7. * Im Französischen „nichée [Brut]“.
8. * Nach dem Hund Zerberos der griechischen Mythologie, der den Eingang zur Unterwelt bewacht, grimmiger Wächter.
9. * Im Französischen „juridiction prud’homale“.
10. * Im Französischen „le maître“.
11. * Armand Fallières (1841-1931), Abgeordneter des linken Flügels der Republikaner, oftmaliger Minister, 1906 Präsident der Republik.
12. * Aristide Briand (1862-1932), Rechtsanwalt und Journalist, 1901-1905 Generalsekretär der Parti Socialiste Français, 1905-1906 Mitglied der Section Française de l’Internationale Ouvriere (SFIO), oftmaliger Minister, 1909-1910 Ministerpräsident, 1910 Gründer der Parti Républicain Socialist. Als Ministerpräsident unterstellte er streikende Eisenbahner durch Einberufungsbefehle der Militärgerichtsbarkeit.
13. * Die erste Linie der Pariser Untergrundbahn wurde 1898 eröffnet.
14. * Auf das Kaisertum Napoleon III. folgte 1870 unter dem Druck eines in Paris ausbrechenden Arbeiteraufstandes die Proklamation der Dritten Republik. Die von der Nationalversammlung 1875 festgeschriebenen republikanischen Verfassungsgesetze galten bis 1940, dem fomellen Ende der Dritten Republik.
15. * Mit zur Arbeitsbeschaffung und Revolutionsprophylaxe dienenden Bauprogrammen verwandelte Baron George Eugène Haussmann (1809-1891) in seiner Funktion als Präfekt der Stadt ab 1856 Paris in die „Capital du monde“, wo sich Frankreich mit den Weltausstellungen 1855 und 1867 als führende Industrienation präsentierte.
16. * Im Französischen „Chambre des notaires“.
17. Maurice Halbwachs: La Politique Foncière des Municipalités. Diese interessante Broschüre wird zum Preis von 15 Centimes bzw. 20 Centimes inkl. Porto in der Buchhandlung der Sozialistischen Partei verkauft.
18. * Diese Wälder in einem nordöstlichen Vorort von Paris sind im Französischen ein Synonym für die Verstecke von Wegelagerern.
19. * Theoretische Zeitschrift, ab 1907 von Jules Guesde herausgegeben.
20. * Charles Léon Rappoport (1865- 1941), französischer Publizist, seit 1901 Leiter der russichen Bibliothek in Paris, Mitglied der Parti Socialiste und der SFIO, 1918 Mitbegründer der Ecole socialiste marxiste.
21. * Paul Brouardel (1837-1906), Mediziner, Mitglied der französischen Akdademie der Wissenschaften.
22. * Léon Bourgeois (1851-1925), oftmaliger Minister.
23. * Anspielung auf Henrik Ibsens Schauspiel „Ein Volksfeind“ (1882).
24. * Bezeichnung für 1) Kehlkopfdiphterie und 2) die falsche Bräune, ein Kehlkopfkatarrh bei kleinen Kindern mit bellendem Husten durch Einatmen von kalter Luft, Staub oder durch Erkältung entstanden.
25. * Thédore Steeg (1868-1950), Abgeordneter der Radikal-Sozialisten.
26. * Tageszeitung, gegründet 1882, seit 1884 unter amerikanischer Leitung.
27. * Die Brücken befanden sich in Privatbesitz, für die Benützung mußte Maut bezahlt werden.
28. * Maurice Halbwachs (1877-1945/ im KZ Buchenwald), Mathmatiker und Soziologe, Schüler von Durkheim.
29. * Karl VII.. führte während seiner Regentschaft (1422-1461) eine direkte Grund- und Kopfsteuer ein (Taille royale).
30. * Die 1895 gegründete Confédération Générale du Travail sah im Generalstreik die beste Waffe, um die kapitalistische Gesellschaft zu überwinden und das Tor zu öffnen für eine auf Arbeiter-Syndikaten basierende Wirtschaft. Grundsätzlich anti-parlamentarisch lehnte die CGT jede Verbindung mit politischen Gruppierungen ab.
31. * Der Versuch der Regierung unter Ministerpräsident Thiers am 18. März 1871 das Volk von Paris zu entwaffnen führte zur Machtergreifung des Zentral-Komités, womit der Commune-Aufstand begann (vgl. Die Geschichte der Kommune von 1871 von Lissagray, Stuttgart 1920, 73ff.).
32. * Georges Ducos de la Haille (1869-?), Advokat, sozialistischer Militanter.
33. * Sozialistischer Militanter des Seine-Distrikts, Delegierter auf dem Vereinigungsparteitag in Paris (1905) und auf dem Parteikongress von Nancy (1907).
1*. Das Veröffentlichungsdatum dieser Schrift ist ungewiss, da die vorliegende Broschüre ohne Jahresangabe erschienen ist. Da wir keinen Zugang zu einem Archiv haben, wo die gesamten Ausgaben von l’Humanité zur Verfügung stehen, können wir nicht die ursprünglichen Artikel aussuchen, um das Datum festzustellen. Wir wären dankbar, wenn einer von unseren LeserInnen uns weitere Informationen geben könnte.
Zuletzt aktualisiert am 27.8.2004