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Der Jesuitenstaat in Paraguay |
Unter den klugen Augen Leos XIII. [2], der sich bescheiden der „Papst der Arbeiter“ betitelt, ist der katholische Klerus Europas und Amerikas ausgezogen, um seinen alten Einfluß auf das Volk zurückzuerobern. Um die Arbeiter dem sozialistischen Einfluß zu entziehen, sorgt er sich neuerdings die Verbesserung des Loses des Proletariers, um welche er sich bis jetzt wenig gekümmert hat, offenbar, weil seine ganze Kraft von den zahlreichen Leistungen aller Art beansprucht wurde, die die Kapitalistenklasse von ihm fordert, die ihn bezahlt. Gegenwärtig gibt es einen christlichen Sozialismus, der sich in großer Wandlungsfähigkeit den Ländern und den sozialen Bedingungen anpaßt, wo seine Apostel ihre Frohbotschaft verkündigen. [3] Es ist deshalb gewiß interessant, einen Einblick in das „Neue Jerusalem“ zu tun, nach welchem die Geistlichen die Menschheit führen wollen. Um diesen Einblick zu gewinnen, brauchen wir nicht in die Fußstapfen des armen Eugen Richter [4] zu treten, der sich unmenschlich abgequält hat, um den Beweis zu erbringen, daß ein Spießbürger seines Schlages unfähig ist, sich dazu aufzuschwingen, eine Moral zu begreifen, die nicht mehr den kapitalistischen Profit zur Grundlage hat, und eine Gesellschaft verstehen zu können, in der dem Produzenten nicht mehr täglich ein Teil der Früchte seiner Arbeit gestohlen wird. Um eine Vorstellung von dem gelobten Land des katholischen Klerus zu erhalten, haben wir auch nicht nötig, unserer Phantasie die Zügel schießen zu lassen und einen „Zukunftsstaat“ zu konstruieren, den uns die Katholisch-Sozialen mit gutem Recht abstreiten könnten. Wir brauchen vielmehr nur die „christliche Republik“ zu studieren, die die Jesuiten in Paraguay schufen.
Die Gesellschaft Jesu gründete mit einer Bevölkerung, die in sittlicher und geistiger Beziehung äußerst entwicklungsfähig war, einen „christlichen Staat“, der bis zu 150.000 Einwohner zählte und länger als eineinhalb Jahrhunderte bestand, nämlich von 1610 bis 1768.
Raynal [5] behauptet, daß „die Jesuiten die Methoden erfahren hatten, welche die Inkas anwendeten, um ihr Reich zu regieren und zu vergrößern, und daß sie sich diese zum Vorbild nahmen“. Funes [6], Dechant der Kathedrale von Córdoba [7] in Südamerika, protestierte jedoch energisch gegen die Behauptung und erklärte, „daß die Jesuiten ein weit erhabeneres Vorbild in den Lehren des Evangeliums gefunden hatten sowie in dem Vorbild der ersten Christen“. Die „Missionen von Paraguay“ [8] sind also für Funes eine Verwirklichung des christlichen Ideals, und als solche sollten sie die Bewunderung der Welt herausfordern. [9].
In dieser theokratischen Republik gab es kein geschriebenes Gesetz. „Das Gewissen vertrat die Stelle der Gesetzgebung“, sagt Funes. „Es gab keine Strafgesetze, sondern bloße Vorschriften, deren Übertretung durch Fasten, durch Gebete bestraft wurde [...], und über diese Art der Strafen wird man sich nicht wundern, wenn man weiß, wie schön und rein die herrschenden Sitten waren“. Don Pedro Farardo, Bischof von Buenos Aires, schrieb 1721 in seinem von Charlevoix [10] zitierten Brief an Philipp V. [11] von Spanien: „Unter diesen Völkerschaften herrscht eine so große Unschuld, daß ich glaube, daß im Jahre auch nicht eine einzige Todsünde begangen wird; die Wachsamkeit der Geistlichen beugt sogar den kleinsten Fehlern vor“. – „Es gab keine Zivilgesetze“, heißt es noch weiter bei Funes, „weil bei diesen Indianer das Eigentumsrecht sozusagen unwahrnehmbar war“.
Dieser christliche Republik wurde das selten Glück zuteil, die skeptischen Philosophen des vorigen Jahrhunderts zu begeistern, die soweit gingen, „das Los der Indianer Paraguays zu beneiden“, berichtet Azara. [12] Montesquieu sparte mit seinem Lob nicht: „Es gereicht“, sagte er, „der Gesellschaft Jesu zum Ruhme, in jenen Gegenden zuerst die Idee der Religion, gepaart mit derjenigen der Humanität, gezeigt zu haben [...] Sie hat die zerstreuten Völkerschaften aus dem Wald gezogen, sie hat ihnen einen gesicherten Lebensunterhalt gegeben, sie hat sie gekleidet. [...] Es wird immer schön sein, die Menschen zu regieren, um sie glücklich zu machen“. [13].
Die „Missionen“, „Niederlassungen“ [14] oder „Lehren [doctrines]“ der Jesuiten, wie man die Ortschaften der theokratischen Republik nannte, wurden aber auch im 17. und 18. Jahrhundert von Gegner heftig angegriffen. Politiker beschuldigten die Gesellschaft Jesu, einen von der spanischen Krone unabhängigen Staat schaffen zu wollen. [15] Die Spanier der Kolonialländer warfen ihr vor, daß sie der Privatindustrie und dem Privathandel eine verderbliche und unlautere Konkurrenz mache, und daß sie Fremden den Zutritt zu ihren Niederlassungen verbiete, um allein im Besitz und in Nutznießung der im Lande gelegenen Gold- und Silberminen zu bleiben. Andere Gegner nahmen sich die Maske der Religion und Philanthropie vor und bezichtigten die Jesuiten, den Indianer ein verfälschtes Christentum zu lehren und sie mit Arbeit zu überbürden.
Da ich eine durchaus unparteiische Schilderung des paraguayschen Jesuitenstaates geben wollte, habe ich mich bemüht, aufs gewissenhafteste die Anklagen zu prüfen, aus denen vielfach Übelwollen spricht, und sie sich nur zu oft durch ganz bestimmte, sehr materielle Interessen erklären. Aber ebenso sorgsam habe ich die Werke geprüft, in denen eine übertriebene, geheuchelte oder einseitig kritiklose Bewunderung der Schöpfung der Jesuitenpatres zu Tage tritt. Meine Studien über die Organisation der christlichen Gesellschaften Paraguays liegen vor allem die Briefe der Missionare zugrunde, sowie die offiziellen Dokumente, welche der Jesuit Charlevoix in großer Zahl anführt, der seine Histoire du Paraguay nur zu dem Zweck verfaßt hat, das Werk der Gesellschaft Jesu zu verherrlichen. Ferner beschäftige ich mich eingehend mit der Histoire civile du Parguay von Funes, Dechant der Kathedrale von Córdoba in Südamerika, der sich bemüht, die Kritik zurückzuweisen, welche in Azara Voyage dans l’Amérique méridonale gegen die Republik der Jesuiten enthalten ist. Funes und Azara waren Zeitgenossen, und beide lebten in dem Land der „Missionen“ kurze Zeit nach der Vertreibung der Jesuiten. Die Tatsachen, welche sie berichten, sind ihnen also von Augenzeugen mitgeteilt worden.
Die christliche Republik der Jesuiten interessiert die Sozialisten in doppelter Hinsicht. Einmal gibt sie ein ziemlich genaues Bild der Gesellschaftsordnung, welches die katholische Kirche zu verwirklichen strebt, und dann ist sie ein soziales Experiment, und zwar eines der interessantesten und ungewöhnlichsten, welche je gemacht worden sind. Welcher Ansichten man immer in Bezug auf die geheimen Ziele der Gesellschaft sein mag: Man wird nicht umhin können, die hohe politische Einsicht zu bewundern, welche sie in ihrem Werk betätigte; man wird auch nicht umhin können, die Selbstverleugnung, den Mut, das Geschick, Menschen zu erziehen und zu leiten, und die geduldige Zähigkeit der Missionare zu bewundern, welche in den Jesuitenniederlassungen Paraguays die Indianer schulten und regierten.
2. * Leo XIII. der von 1878-1903 amtierte, erließ als „Arbeiterpapst“ am 15. Mai 1891 das Rundschreiben „Rerum novarum“, in dem er Arbeiterfürsorge, Schutz der Werktätigen, Sonntagsruhe, gerechten Lohn und dergleichen forderte. Offensichtlichtes Ziel dieser Enzyklika war die Zurückdrängung des sozialdemokratischen Einflusses auf die Arbeiter.
3. * Mit diesem christlichen Sozialismus, personifiziert durch den französischen Abgeordneten Albert de Mun, der seit 1871 Arbeiterzirkel organisierte und eine katholisch-monarchistische Partei, „l’Alliance catholique“ gründete, befaßte sich Lafargue auch in dem Artikel Un discours du pompier [Eine Rede des Feuerwehrmannes], (L’Egalité, 8. Dezember 1882; Reprint in Jacques Girault [Hrsg.] Textes chioisis, Paris 1970, 167ff.; vgl. auch Correspondance Friedrich Engels – Paul et Laura Lafargue, Paris 1959, 3, 151ff.). Jahre später stellte er sich dem Repräsentanten des christlichen Sozialismus in einem öffentlichen Meeting in Bordeaux (Teile dieser Diskussion wurden veröffentlicht: Messieur l’abbé Naudet et le citoyen Paul Lafargue a l’Hippodrom lillois – Conférence contradictoire, Lille 1892).
4. * Der Jurist Eugen Richter (1838-1906) gehörte als Linksliberaler seit 1867 dem deutschen Reichstag, ab 1869 dem preußischen Abgerodnetenhaus an.
5. Raynal: Histoire philosophique et politique des (* établissements et du commerce des Européens dans les) deux Indes, Paris 1820. * Guilleaume Thomas François Raynal (1713-1796), Historiker und Philisoph, Angehöriger der Gesellschaft Jesu.
Wie bei allen folgenden Literaturangaben werden in der deutschsprachigen Erstveröffentlichung lediglich einmal das „Quellenwerk“ ohne detaillierte Zitierung angegeben. Diese Vorgangsweise wird beibehalten. Die Verwendung folgender von Lafargue als Quelle angeführter Werke konnte dabei im Text nicht festgestellt werden: Rengger und Longchamp: Essai historique sur la révolution du Paraguay, Stuttgart 1829 und Dr. Bourgade La Dardye: Le Paraguay, Paris 1889.
6. Don Gregorio (*de) Funes: Ensayo de la historia civil de Paraguay, Buenos Aires a Tucuman, Buenos Aires 1816. * Don Gregorio de Funes (1749-1829), seit 1800 Dechant.
7. * In der 1573 gegründeten Stadt Córdoba war ein politischer und kultureller Mittelpunkt im spanischen Vizekönigreich Rio de la Plata: Bereits ab 1621 exisiterte hier eine Universität und ab 1782 war die Stadt Zentrum einer „intendencia [Intendatur]“, eines Amtsbezirkes.
8. * Die argentinische Provinz „Misiones“, die erst 1874 nach kriegerischen Auseinandersetzungen von Paraguay gewonnen wurde, erinnert heute noch mit ihrem Namen an den Jesuitenstaat.
9. Erst nachdem vorliegende Studie niedergeschrieben und in Satz gegangen war, las ich in der Neuen Zeit, XI/1 (* 1892-93), 684 ff. den Artikel Zukunftsstaaten der Vergangenheit, in dem K(*arl) Kautsky trefflich zeigt, daß die christliche Republik von Paraguay nur eine Ausbeutungsorganisation kapitalistischer Kolonialpolitik war, und daß die Jesuiten, diese geschickten Politiker, es verstanden, die kommunistischen Gewohnheiten der Indianer zu Bereicherung des Ordens auszunützen. In einigen Punkten weicht Kautsky Auffassung von der meinen ab, doch ist hier nicht der Ort zu einer Auseinandersetzung darüber.
* Kautsky präzisierte diese Vorwürfe im Vorwort zur 1921 erschienen Neuauflage der Vorläufer des neueren Sozialismus, 3, Stuttgart-Berlin 1922: „Unsere Meinungsverschiedenheiten lassen sich im wesentlichen darauf zurückführen, daß ich nicht der Meinung bin, die Jesuiten hätten sich vorgenommen, in Paraguay ‚das Ideal des Christentums‘ zu verwirklichen“, sondern sie hätten versucht, den urwüchsigen amerikanischen Kommunismus für sich auszubeuten, der seine höchste Form im Inkastaat Perus gefunden hatte, dessen Einrichtungen den Jesuiten bekannt waren. Andererseits scheint mir die Unterdrückung, die die Jesuiten ausübten, gemessen an anderen kolonialen Methoden nicht so hart, wie Lafargue sie auffaßt. [...]“ (8).
Im Zuge der Volksfrontpolitik näherten sich die Kommunisten später den Einschätzungen Kautskys an (vgl. C. Lugon: La république communiste chrétienne des Guaranís [1610-1768], Paris 1949, insbes. 11).
10. Xavier Charlevoix: Histoire du Paraguay, Paris-Didot-Giffon-Lyon 1757. (* Deutsche Übersetzung unter dem Titel Geschichte von Paraguay und der Missionen der Gesellschaft Jesu in diesem Gebiet von einem Ex-Priester der Societas Jesu [Wien 1835]; Brief zitiert nach 330. Pierre François Xavier de Charlevoix lebte von 1682-1761.).
11. * Der Bourbone Philipp von Anjou regierte nach dem spanischen Erbfolgekrieg von 1701-13/14 das Land als Philipp V.
12. Don Felix de Azara: Voyage dans l’Amerérique méridonial, Paris 1809 (*Reprint: Descripción general del Paraguay – Ed., introd. y notas de Andres Galera Gómez, Madrid 1990). Don Felix de Azara war von 1781 bis 1801 Kommandant an der spanischen Grenze von Paraguay.
13. Montesquieu: Geist der Gesetze, 4. Buch, 6. Kapitel. (* De l’Esprit des Lois [Œuvres Complétes de Montesquieu par Ed. Laboulaye, Paris 1876, 3, 155]). Montesquieu sah in Paraguay den schönen Traum seiner Zeit von einer bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht, die „[...] nos arts sans notre luxe et nos besoins sans nos dèsirs [unsere Künste ohne unseren Luxus, unsere Bedürfnisse, ohne unsere Wünsche besitzt]“; allerdings – fügt er einschränkend hinzu, lasse sich dieses Ideal nur in einem kleinen Kreis durchführen, wo „[...] où l’on peut élever tout un peuple comme une famille [man ein ganzes Volk wie eine Familie erziehen kann]“ (156, 158). Auch Diderot, d’Alembert und Voltaire sahen im Jesuitenstaat einen Triumph der Humanität, argwöhnten jedoch, daß der herrschsüchtige Orden sein System über ganz Europa ausdehnen wolle.
14. * Die christlichen Indianerdörfer hießen, solange sie noch keine Pfarreien waren, Reduktionen, weil die Eingeborenen „ad ecclesiam et vitam civilem essent reducti [zur Kirchen und dem zivilisierten Leben zurückgeführt werden]“ (Adam Schirmbeck: Messis l’araqualensis a patribus S.J. per sexennium collecta (1638-1643), Monachii 1649, 108). Vgl. Charlevoix (siehe Anm.10), 282.
15. Vgl. Charlevoix (siehe Anm.10), 280.
Zuletzt aktualisiert am 25.6.2004.