Paul Lafargue

 

Der Mythos von der unbefleckten Empfängnis

Ein Beitrag zur vergleichenden Mythologie [1]

(1893/1896)


Paul Lafargue, Der Mythos von der unbefleckten Empfängnis – Ein Beitrag zur vergleichenden Mythologie, Neue Zeit, XI/2, 1892-93, 844ff.
Paul Lafargue, Le mythe de l’Immaculée conception, Le Devenir Social, II, Paris, Nummer 5/Mai 1896.
Diese Version aus Paul Lafargue, Geschlechterverhältnisse, Hrsg. Fritz Keller, Hamburg 1995, S.153-60. (Die mit * gekennzeichneten Fußnoten stammen aus dieser Ausgabe.)
Transkription: Fritz Keller.
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In einem früheren Artikel, der in der Neuen Zeit [2] erschienen ist, sowie in einer anderen Arbeit, welche ich in einer Londoner Zeitschrift veröffentlichte, versuchte ich, aufgrund unlängst erforschten Tatsachen über die Urgesellschaft, die biblischen Legenden von Adam und Eva und den bei Homer gebräuchlichen Namen „tritogeneia“ („ter renata“, die dreimal Geborene), zu erklären, den die Ilias und die orphischen Hymnen [3] der Pallas Athene belegen. [4]

In der folgenden Studie werde ich aufgrund dieser Methode die christliche Legende von der Jungfrau Maria, der Mutter Christi, zu erklären versuchen.

 

I

Vor allem drängt sich die Frage auf, ob das Christentum die einzige Religion ist, welche den Mythos von der unbefleckten Empfängnis kennt. [5] Man muß diese Frage verneinen.

Man begegnet demselben Mythos bei den Religionen der wichtigsten Völker, welche rund um das Mittelmeer wohnen, man könnte vielleicht sogar behaupten, daß man den gleichen Mythos bei allen Völkern wiederfindet.

Drei griechische Göttinnen, Hera [6], Athene und Artemis [7], führten den Beinamen „partheneia“, jungfräulich. Trotzdem hat Hera mehrere Kinder, und Athene, die Jungfrau par excellence, wurde mehrmals Mutter. Nach Cicero [8] und Aristoteles [9] schenkte sie dem Apollon patroos (dem von den Vätern Verehrten) das Leben. Hepaistos [10] war ihr Gatte gewesen, oder richtiger: ihr Schänder; er hatte ihr Gewalt angetan, was jedoch keineswegs verhinderte, daß er mit ihr seinen Tempel auf der Akropolis zu Athen teilte. Die Feste der Lampadephorien (des Fackellaufes) wurden zu Ehren Athenes und Hephaistos’ gefeiert.

Poseidon erlaubte sich in seiner Eigenschaft als Gott des Meeres eine stattliche Anzahl von Vergewaltigungen, Athene war eines seiner Opfer, allein die Erde war so gefällig, den Sohn Athenes und Poseidons, den Erichthonius, in ihrem Schoß auszutragen. Trotz ihrer Kinder erhielt die Göttin Athene nach wie vor den Beinamen der „Jungfräulichen“, und ihr Tempel auf der Akropolis, das Erechtheum, war der Athene „metro-parthenos“ geweiht, d.h. der jungfräulichen Mutter. [11] Sie war sogar eine Schutzgöttin der vergewaltigten Frauen, deren Zahl bei den primitiven Stämmen Griechenlands, wie bei den australischen Völkern sehr groß war. Aethra, die von Poseidon auf der Insel Spheria vergewaltigt wurde, erbaute der Athene „apaturia“ (der Täuschenden, Betrügenden) einen tempel. Als Herkules die Königin der Amazonen besiegt hatte, weihte er den ihr entrissenen Gürtel der Athene. Die Bräute von Troizen [12] brachten an ihrem Hochzeitstag ihren Gürtel der Athene als Huldigung dar.

Nach der Anschauung der Griechen schlossen sich die Begriffe der Jungfräulichkeit und der Mutterschaft nicht gegenseitig aus. Wir werden später sehen, daß der Ausdruck jungfräuliche Mutter besagt, daß eine Frau ohne Zutun des Mannes Mutter geworden ist, wie dies bei der jungfräulichen Mutter Maria der Fall war. Allein in den Urzeiten der Geschichte bedeutete dieser Ausdruck bloß, daß eine Frau Mutter war, ohne verheiratet zu sein. Diese Auffassung erklärt jene Stelle aus den Eumeniden des Aischylos [13], wo Athene sagt, „ die Männer lieb ich, die Ehe nicht“. In Griechenland wurde der Sohn einer Unverheirateten als „Sohn einer Jungfrau“ (partheneias) bezeichnet. Die Frau galt als Jungfrau, so lange sie unverheiratet war.

Die „Große Mutter der Götter“, deren in Vorderasien heimischer Kultus im Laufe des 2. Jahrhunderts vor Beginn unserer Zeitrechnung sich in Italien einbürgerte, war gleichfalls eine jungfräuliche Mutter wie Athene. „Die Mutter der Götter“ sagte der Kaiser Julian [14], „ist die Göttin, die gebiert, und mit dem großen Jupiter vertraut verkehrt, sie ist es, die mit dem Vater aller die Wesen zeugt und bildet; diese Jungfrau ohne Mutter setzt sich neben Jupiter, weil sie wirklich die Mutter aller Götter ist“. In Wirklichkeit nahm der große Jupiter (d.i. Zeus) ihr gegenüber eine sehr bescheidene Stellung ein, er war nicht ihr Gatte, sondern ihr Josef. Trotz ihrer zahlreichen Nachkommenschaft blieb „die Mutter der Götter“ immer Jungfrau, weil sie nicht verheiratet war.

Sicherlich entstand die Idee der jungfräulichen Mutter in der Zeit, wo, wie Morgan sagt [15], die Paarungsehe an Stelle der Gruppenehe oder Klanehe trat. Eine Frau blieb nach der damaligen Anschauung trotz etwaiger Mutterschaft Jungfrau, so lange sie nicht durch eine monogame Ehegemeinschaft gebunden war. Athene und die „Mutter der Götter“, welche der ältesten göttlichen Generation angehören, mußten Gottheiten der Griechen und der Phrygier [16] zu einer Zeit gewesen sein, wo deren Ehesitten denjenigen der polynesischen Völkerschaften entsprachen.

Später erhielt der Ausdruck „jungfräuliche Mutter“ ohne zweifel einen anderen Sinn und bedeutete „Mutter ohne Zutun eines Mannes“. Hera rühmte sich, Ares [17] und Hebe [18] geboren, aber von keinem Mann empfangen zu haben. Mit dem Hinweis auf diese außergewöhnliche Mutterschaft antwortete sie Zeus, welcher damit prahlte, daß er Athene geboren habe. Isis, die große ägyptische Göttin, setzte auf ihren Tempel die stolze Schrift: „Ich bin die Mutter des Königs Horus, und niemand hat mein Kleid aufgehoben“.

Wenn wir uns von den Ufern des Mittelmeeres nach dem hohen Norden wenden, nach Finnland, so finden wir dort den gleichen Mythos wieder. In der Kalevala, dem Nationalgedicht der Finnländer, ist von drei Jungfrauen die Rede, welche von der Luft befruchtet werden. Isnatar, die „schöne Jungfrau“, singt: „Ich bin die älteste der Frauen, ich bin die erste Mutter der Menschen, ich bin fünf Mal Gattin und sechs Mal Braut gewesen“. Trotz alledem blieb sie immer Jungfrau, sie brauchte sich nur zu trennen, um wieder Jungfrau zu werden. Die Bewohner von Argos [19] behaupteten, daß sich ihre „Polias [Schutzgöttin der Stadt]“ Hera alljährlich in der Quelle von Kanathos auf Nauplia badete, um ihre Jugfräulichkeit zurückzuerhalten. vielleicht war es üblich, daß die Frauen von Argos in der Quelle Kanathos badeten, wenn sie sich scheiden lassen wollten?

Die Sitten der Götter waren stets Abbilder der Sitten und Gepflogenheiten der Menschen – so auch in dieser Beziehung. Das wird dadurch bewiesen, daß sich auch Sterbliche des Vorrechts der unbefleckten Empfängnis rühmen konnten. In der Kalevala ist der alte Barde Waina moinen der Sohn der Jungfrau Luonnotar, die ihrerseits die Tochter jener Helden-Mutter Ilnas ist, welche vom Meer befruchtet wurde. Eine Inschrift Sargons, eines der ältesten Könige Chaldäas, welcher nach Lenormant aus der Zeit um 3800 vor Beginn unserer Zeitrechnung stammt [20], lautet: „Ich, Sargon, der mächtige König, der König von Akkad! – Meine Mutter empfing mich ohne das Zutun meines Vaters“.

Sogar weibliche Tiere wurden des Vorrechtes der unbefleckten Empfängnis teilhaftig. Die Rösser des Rhesos [21], „welche weißer als der Schnee und schneller als die Luft waren“, wurden vom Wind Zephyr am Gestade des Meeres befruchtet. Boreas, der Nordwind, leistete den Stuten des Erichthonius [22] den gleichen Dienst. Die Stuten von Kappadokien [23], vom Tejo [24] und anderen Orten wurden in der gleichen sonderbaren Weise befrucht“t.

Horapallo [25] erzählt uns, daß der Geier, welcher in der ägyptischen Hieroglyphen-Schrift den Sieg symbolisiert, gleichfalls das Sinnbild der Mutter ist, weil es unter den Geiern keine Männchen gibt, und die Weibchen sich befruchten lassen, indem sie ihre Geschlechtsteile dem Nordwind darbieten.

 

 

II

Diese Überheblichkeit der Frau, bei der Fortpflanzung auf den Mann verzichten zu können, weckte die Eifersucht des Mannes, und so behauptete er, daß auch er ohne Mitwirkung der Frau Kinder zeugen könne. Im Olymp gebar Zeus aus seinem Kopf die Athene. Der heilige Augustinus [26] hat in Der Gottesstaat einen Vers mitgeteilt, in dem dieser Gott als „der Vater und die Mutter der Götter“ [27] bezeichnet wird. Die Gedenkmünzen von Mylassa [28] stellen Zeus mit Bart und entblößten weiblichen Brüste dar.

Num, einer der Götter des ägyptischen Pantheons und eines der Elemente der Schöpfung, legte mit dem Munde ein Ei, aus dem Phatah geboren wurde, der Schöpfer der Gestirne.

Nach Clemens von Alexandrien [29] bedeutete in der Hieroglyphen-Schrift der Skarabäus [30] Sonne und Vater. „Er stellt das von einem einzigen Wesen stammende Wesen dar“, sagt Horapallo, „weil er sich selbst gezeugt hat und weil er nicht in einem weibliche Schoß getragen wird. Er verfährt bei der Zeugung folgendermaßen. Er nimmt Ochsendünger und rollt ihn mit seinen Hinterfüßen zusammen, damit er ihm die runde Form gibt, welche diejenige der Welt ist. Wenn er derart seine kleine Kugel gebildet hat, so verbirgt er sie unter der Erde [...] am 29. Tag scharrt er sie aus und wirft sie ins Wasser [...] und ein neuer Käfer kommt dann hervor [...] Der Skarabäus ist das Sinnbild des Vaters, weil er vom Männchen allein geboren wird; er ist das Sinnbild der Welt, weil das Kügelchen, in welchem der Embryo sich bildet, die Gestalt der Welt hat, und er ist das Sinnbild des Mannes, weil es keine weiblichen Käfer gibt, so sagen die Ägypter“.


Von dem Wunsche getrieben, der Frau ihre wichtige Rolle für die Fortpflanzung der Gattung abzusprechen, behauptete der Mann, daß die Frau bei der Zeugung nur die passive Rolle eines Fruchtbehälters spiele. In den Eumeniden des Aischylos vertritt Apollon diese Ansicht der Männer.

Erzeug’rin ihres Kindes ist die Mutter
Doch nicht, ist Pfleg’rin nur gesäten Keims;
Es zeugt der Vater, sie bewahrt das Pfand,
Dem Freund die Freundin, wenn’s kein Gott versehrt.
Ein Zeugnis nenn’ ich Euch zu diesem Wort:
Man kann doch Vater ohne Mutter sein.
Nah ist als Zeuge des Olympiers Tochter [Athene],
Die nie in Mutterschoßes Dunkel schlief.

Ein griechischer Mythos zeigt, mit welcher Verachtung die Männer und Götter über die Rolle der Frau bei der Zeugung dachten: Zeus, Poseidon und Hermes [31] wollten Oenopion, den Sohn des Dionysos [32] für die Gastfreundschaft belohnen, die er ihnen erwiesen hatte, und so forderten sie ihn auf, einen Wunsch zu äußern. Oenopion wünschte sich einen Sohn. Daraufhin urinierten die drei Götter in die Haut des Ochsen, den man für ihre Bewirtung geschlachtet hatte und vergruben sie in der Erde. Neun Monate darauf wurde daraus Orion geboren, den Zeus in den Himmel versetzte.


Diese Mythen enthüllen, daß die primitiven Völker äußerst unklare Vorstellungen über die Fortpflanzung hatten, ferner, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung die beiden Geschlechter miteinander um die Ehre stritten, welches von beiden die wichtigste Rolle bei der Zeugung spiele.

Die Götter begnügten sich nicht damit, die Mitwirkung der Göttinnen bei der Zeugung zu leugnen; sie nahmen ihre Gestalt, ihre Gewänder und ihre Geschlechtsmerkmale an. In Sparta gab es einen Apollon, der als Frau gekleidet war, und in seinen Händen die zweischneidige Axt, die Waffe der Amazonen trug. Für Zeus, den König des Olymps, war es nicht unter aller Würde, sich in eine Frau zu verwandeln, wie verschiedene Gedenkmünzen beweisen, auf denen er als Frau gekleidet ist, Bänder trägt und Brüste hat. Die Gegenwart des Adlers, eines symbolischen Vogels, sollte den durch die Verkleidung hervorgerufenen Augenschein des Weiblichen vervollständigen, sollte dem Zeus den Charakter der Mutter verleihen. Der Adler steht dem Geier, dem Sinnbild der Isis, der Mutter, sehr nahe; als der Mythos von einem Land in ein anderes überging, konnten beide Vogelarten sehr leicht miteinander verwechselt werden, die durch Zwischenglieder, wie der Lämmergeier, eng miteinander verbunden sind. Es ist eine Eigentümlichkeit der Adler, Geier und anderer Raubvögel, daß die Weibchen viel stärker und kühner als die Männchen sind.

Dieser Wechsel des Geschlechtes hatte nur den Zweck, die Göttinnen aus ihren Tempeln zu vertreiben. Der Gott schmuggelte sich schüchtern, als Frau verkleidet, in die heilige Städte, ließ sich hier verehren und vertrieb schließlich die weiblichen Gottheiten aus ihr. In dem Tempel von Herapolis stand die Statue des Zeus neben der der Hera, aber man zollte ihm geringere Verehrung, sein Kult war von geringerer Bedeutung, man brachte ihm schweigend Opfer dar, ohne die Gesänge und Flötenklänge, welche man zu Ehren seiner Gefährtin reichlich ertönen ließ, wenn man die Statuen der beiden Gottheiten außerhalb der heiligen Mauern durch die Straßen führte. Apollon hatte mehr Erfolg im Tempel in Delphi, der früher der Gaia [33] und ihrer Töchter, der Titanen Thetis und Phoibe geweiht gewesen war (Aischylos: Die Eumeniden). Nachdem ihm Pan [34] die Kunst des Weissagens gelehrt hatte, begab er sich nach Delphi, tötete die Schlange Python, welche die Höhle bewachte, schmückte sich mit dem Namen Phoibos und bemächtigte sich des Orakels.

In der Tat, um die Frauen ihrer Güter und ihres höheren Ranges in der mutterrechtlichen Familie zu berauben, spielten die Männer und nach ihnen die Götter die Komödie der Geschlechtsumwandlung vor, und führten die Couvade (wobei sich der Mann als Wöchnerin gebärdet) auf. [35]

Die Frauen beantworteten diese Attentate auf ihre Rechte und ihre Güter, indem sie die Merkmale des anderen Geschlechtes vortäuschten. In Cypern gab es eine Statue einer bärtigen Aphrodite [36]; die Männer opferten ihr als Frauen und die Frauen als Männer gekleidet. Der heilige Augustinus berichtet [37], daß man in Rom eine Fortuna barbata [38] verehrte. Isis und mehrere andere ägyptische Gottheiten wurden mit männlichen Geschlechtsorganen dargestellt. Isis hatte als Symbol den Geier und den Skarabäus erkoren, um zu beweisen, daß sie sowohl männlichen wie weiblichen Geschlechts ist. Die orphischen Hymnen geben der Athene die Beinamen „männlich“ und „weiblich“ (arsen kai thelys). Baal, zu dem die Israeliten beteten, war gleichfalls eine zweigeschlechtige Gottheit, deshalb wird in der Übersetzung der Septuaginta [39] bald der Baal, bald die Baal genannt. Die Gottheit wurde schließlich ein Hermaphrodit [40] gleich dem Hasen, der nach Plinius [41] sowohl männlichen wie weiblichen Geschlechts ist. Die dritte religiöse Kirchenhymne von Synessios, dem Bischof von Ptolemais [42], sagt von dem unendlichen Geist [43]:

Du bist der Vater, Du bist die Mutter,
Du bist der Mann, Du bist die Frau.

 

 

III

Der Kirchenlehrer Eusebius [44] behandelte den ägyptischen Kultus geringschätzing als „Käferweisheit“ und doch ist der Mythos von der Jungfrau Maria nur ein nachklang der Mythen, die an den ufern des Nils heimisch waren.

Osiris wurde auf Erden durch den Stier Apis vertreten. Wenn nun Osiris selbst von seiner Mutter, ohne das Zutun eines Gottes, empfangen worden war, so mußte auch sein irdischer Stellvertreter von einer jungfräulichen Kuh, ohne das Zutun eines Stieres, geboren werden. Herodot [45] berichtet uns, daß die Mutter des Apis von einem Sonnenstrahl befruchtet wurde, nach Plutarch [46] befruchtet sie ein Mondstrahl. Hieroglyphische Schriften bestätigen den himmlischen Ursprung des Apis: „Sei mir gnädig“ heißt es auf einer Stele [47] zu Memphis, „o lebendiger Apis, der Du keinen Vater hast“.

Wie der Apis so hatte auch Jesus keinen Vater, er war von einem himmlischen Lichtstrahl gezeugt worden. Der Apis war ein Stier, aber er symbolisierte einen Gott; Jesus war ein Gott, der durch ein Lamm dargestellt wurde. Nun wurde aber Osiris oft mit einem Widderkopf abgebildet. Der ägyptische Gott Osiris war unter den Namen Adonis und Atys ein internationaler Gott der um das Mittelmeer herum ansässigen Völkerschaften geworden, als Thammuz war er bei den Juden bekannt, und sein Tod wurde in dem Tempel Jehovas von den Frauen Jerusalems beweint (Ezechiel VIII, 14).

Die syrische Göttin, deren Kultus sich so gut wie überall einbürgerte, sollte vom Himmel in einem Ei gefallen sein, das eine Taube ausbrütete. Zur Zeit, wo sie die Berge Phrygiens bewohnte, lebten viele der ursprünglichen Göttinnen noch in den Wäldern und den Felsen, so z.B. Minerva. Die syrische Göttin hieß Ma, was auf phrygisch Mutter und Schaf bedeutet. Die Rolle, welche die Taube in dem christlichen Ritus spielt, weist auf asiatischen Einfluß hin und drückt der Legende ein asiatisches Gepräge auf; in Kleinasien stand die Taube in hoher Verehrung zur Erinnerung an Semiramis [48] und ihre Mutter Decerto.

Die neue Religion, welche zum Christentum werden sollte, bildete sich aus den Mythen aller Völker, welche durch die römische Herrschaft als selbständige Nationen zertrümmert und bunt durcheinander gewürfelt worden waren. Das Christentum nahm die Symbole dieser verschiedenen Mythen an, so z.B. den Baum, der in Ägypten durch eine Zypresse, im äußersten Orient dagegen durch ein Kreuz dargestellt wurde. Gerade weil die christliche Religion ein Gemisch der verschiedenen, im Umlauf befindlichen Mythen war, konnte sie verschiedenen Völkern zusagen.

In den ersten Jahrhunderten nach der Entstehung des Christentums war es schwer, die Christen von den Sektierern anderer Religionen zu unterscheiden. Ein Irrtum in dieser Beziehung war leicht möglich. So schrieb z.B. der Kaiser Hadrian [49] einem seiner Präfekten: „Dieses Ägypten, daß Du mir gelobt hast, habe ich leichtfertig und unbeständig gefunden [...]. Die, welche Serapis [50] anbeten, sind Christen, und die christlichen Bischöfe sind Serapis ergeben [...]. Nach Ägypten ist ein Patriarch gekommen, der nach den einen ein Anbeter der Serapis, nach den anderen ein Anbeter Christi ist“. Wie Jesus hat auch Osiris leiden und sterben müssen, damit er der Ehre würdig werde, mit seiner Mutter zusammen, Huldigungen der Sterblichen teilhaftig zu werden.

Der Mythos von der unbefleckten Empfängnis lebte zu dem Zeitpunkt wieder auf, als die antike Gesellschaft in ihren Grundlagen wankte, als die patriarchalische Familie zusammenbrach, und als die Frau der griechisch-lateinischen Welt sich vom Ehejoch emanzipierte, das seit Jahrhunderten auf ihr lastete. Die weiblichen Religionen aus der Zeit des Mutterrechtes, in denen die Göttinnen über Götter herrschten, und die sich in Ägypten und Kleinasien erhalten hatten, faßten wieder unter den Völkern Fuß, wo schon seit langem männlichen Gottheiten die Göttinnen gestürzt und ihrer Vorrechte beraubt hatten. Es war dies die Vergeltung, welche Prometheus [51] angekündigt hatte, wodurch Zeus seines Szepters und seiner Ehre beraubt werden sollte (Aischylos). [52]

Aber der Triumph war von kurzer Dauer. Die Frauen verloren abermals ihre Rechte, die zurückzuerobern sie kaum begonnen hatten. Die christliche Religion, welche den Mythos von der Jungfrau Maria wieder aufgenommen und zu hoher Ehre gebracht hatte, schien ganz geeignet, das Emanzipationsbestreben der Frauen zu fördern, jedoch wurde sie zum Werkzeug der Unterdrückung des weiblichen Geschlechtes umgestaltet. Man bestritt der Frau nicht länger ihre wichtige Rolle beim Zeugungsakt, dafür aber versuchte man, sie der Eigenschaften eines menschlichen Wesens zu beraubt. Ein Konzil trat zusammen, um zu entscheiden, ob die Frau nicht möglicherweise ein niederes Tier sei, daß keine Seele besäße. Und die auf dem alten weiblichen Mythos von der unbefleckten Empfängnis gegründete christliche Kirche entschied nur mit einer Stimme Mehrheit, daß die Frau ebenso wie der Mann eine Seele habe. [53]

 

 

Anmerkungen

1. * Die Studie erschien zunächst in der Neuen Zeit, XI/2, 1892-93, 844ff., dann unter dem Titel Le mythe de l’Immaculée conception in der Zeitschrift Le Devenir Social, II, Paris, Nummer 5/Mai 1896. Bearbeiter: Kurt Lhotzky. – Georges Sorel übt in Die Auflösung des Marxismus (Jena 1930) heftige, teilweise unberechtigte Kritik an dieser Studie.

2. * Gemeint ist die Studie Der Mythos von Adam und Eva, in Paul Lafargue, Geschlechterverhältnisse, Hrsg. Fritz Keller, Hamburg 1995, S.133-52.

3. * Die Griechen schrieben dem Sänger und Saitenspieler Orpheus jene Strophen zu, in denen die Lehren des Orphik, der griechischen Mystik, verkündet wurden.

4. * „Die Bezeichnung ‚tritogeneia‘ bedeutet, daß Athene drei Mal geboren wurde, da sie ursprünglich zu den sich selbst gebärenden alten Göttern gehörte, aber, im Laufe der Zeit, als ihre wilden Verehrer jenes Entwicklungsstadium erreichten, in dem die matriarchalische Familie sich konstituierte, wurde sie mit einer Mutter ausgestattet, die verschiedene Namen trug, entsprechend den Menschen, die Athene verehrten; zuletzt, als die Männer die führende Rolle in der Familie auf der Erde und später im Himmel bekommen hatten, erklärte sie sich, zum Gaudium der Götter, einverstanden, die Autorität Zeus’ anzuerkennen, was durch die alberne Zeremonie einer vorgetäuschten Geburt geschah, wie es im Fall von Adoption Brauch war. Um Herakles [den größten Helden des Altertums] zu adoptieren ging Hera zu Bett, versteckte das Kind unter ihrem Gewand und brachte es wie bei einer natürlichen Geburt hervor [...]. So führt uns die Bezeichnung ‚tritogeneia‘ nicht nur in die Anfänge der griechischen Geschichte zurück, sondern sie markiert auch die drei wichtigsten Epochen der prähistorischen Entwicklung der Menschheit“ (Paul Lafargue, The myth of Athene, in Time, September 1890, 927ff.

5. Papst Pius IX. erklärte 1854 in seiner Bulle Ineffabilis Deus: „Die Lehre, daß die allerseligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch einzigartiges Gnadengeschenk und Vorrecht des allmächtigen Gottes, im Hinblick auf die Verdienste Jesu, des Erlöser des Menschengeschlechtes, von jedem Fehler der Erbsünde rein bewahrt blieb, ist von Gott geoffenbart und deshalb von allen Gläubigen fest und standhaft zu glauben“.

6. * Gattin des Zeus, Hüterin der Ehe.

7. * Zwillingsschwester des Apollon, Göttin der Jagd.

8. * Marcus Tullius Cicero (106-43) war ein römischer Politiker; in seinen Schriften begründete er das Ideal einer toleranten Menschlichkeit.

9. * Aristoteles (384-322[?]) war der Begründer der wissenschaftlichen Philosophie und Erzieher Alexander des Großen.

10. * Gott des Feuers, Schmied der Götter.

11. Die Kirchenväter bezeichnen mit demselben Namen die Jungfrau Maria – Die Redaktion.

12. * antike Stadt im Osten Griechenlands.

13. * Das Werk des Dramatikers Aischylos (525-456) markiert den Höhepunkt der griechischen Tragödie.

14. * Der Kaiser Flavius Claudius Julianus (331-363) versuchte – trotz seiner christlichen Erziehung – eine Renaissance eines mit Neuplatonismus versetzten Heidentums und wurde deshalb von den Christen „der Abtrünnige“ genannt.

15. * Zum amerikanischen Ethnologen Lewis Henry Morgan (1818-1881) siehe die Studie Das Mutterrecht, in Paul Lafargue, Geschlechterverhältnisse, Hrsg. Fritz Keller, Hamburg 1995, S.25-60.

16. * Ein Volk, das um 1200 v.u.Z. nach Inner-Kleinasien einwanderte und wahrscheinlich an der Zerstörung Trojas und der Zerstörung des Hethiterreiches beteiligt war. Die von phrygischen Amazonen angebliche getragene Zipfelhaube ist der Vorläufer der Jakobiner-Mütze.

17. * Kriegsgott.

18. * Göttin der Tugend.

19. * Stadt auf dem Peloponnes.

20. * Charles Lenormant war französischer Archäologe und Numismatiker (1837-1883). Seine Datierung ist falsch: Sargon I. von Akkad eroberte 2350-2300 die vier Erdteile Mesopotamien, Teile Syriens, Kleinasiens und Elan.

21. * sagenhafter König von Thrakien, dem Odysseus und Diomedes seine Pferde raubten

22. * sagenhafter König von Athen, Kind von Hephaistos und Athene, begründete den Kult seiner Mutter.

23. * Landschaft im antiken Kleinasien, zuerst von den anatolischen Völkern, dann von den Hethitern bewohnt.

24. * längster Strom der iberischen Halbinsel.

25. * Verfaßte um ca. 550 n.u.Z. die Hieroglyphica, eine Deutung der ägyptischen Schrift.

26. * Kirchenlehrer (354-430).

27. * Vgl. Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat, Salzburg 1951, 1, VII, 11, S. 377 (unter Berufung auf den Dichter Valerius Soranus).

28. * Diese Münze aus dieser antike Stadt im Südwesten Kleinasiens ist hier abgebildet.

Gedenkmünze von Mylassa

Gedenkmünze von Mylassa

29. * Kirchenlehrer (150-215[?]).

30. * Mistkäfer des Mittelmeeres, auch Pillendreher genannt.

31. * Götterbote und Gott des Handels.

32. * Gott des Weines

33. * Göttin der Erde.

34. * bockfüßiger Hirtengott.

35. * Siehe dazu die Studien Das Mutterrecht und Der Ehebruch [...] in Paul Lafargue, Geschlechterverhältnisse, Hrsg. Fritz Keller, Hamburg 1995, S.25-60 und S.107-32.

36. * Göttin der Schönheit und der Liebe.

37. * Augustinus, Gottesstaat (siehe Anm. 26), 1, IV, 11 und 1, VI, 1, S. 226 und 325

38. * ursprünglich Göttin der Frauen, später Glücksgöttin.

39. * alteste und bedeutendste Übersetzung des Alten Testaments in das vom alexandrinischen Judentum gesprochene griechisch.

40. * Zwitter, benannt nach dem zweigeschlechtigen Sohn von Hermes und Aphrodite.

41. * Gaius Plinius Secundus (23 od. 24-79) verfaßte eine „naturalis historia [Naturgeschichte]“.

42. * Synessios von Kyrene (370-413[?]) war vom Neuplatoniker zum Christentum konvertiert.

43. * im Französischen „l’esprit infini“.

44. * Eusebius von Caesarea (264-340[?]) verfaßte Abhandlungen über die bedeutenden Völker der Antike.

45. * Begründer der griechischen Geschichtsschreibung (490-425[?]).

46. * Der griechische philosophische Schriftsteller Mestrius Plutarchus (46-125[?]) setzte sich besonders mit Fragen der sittlichen Lebensführung auseinander.

47. Eine freistehende Säule.

48. * Legendäre assyrische Königin, die in Babylon gewaltige Bauten errichten ließ (Herodot I, 184); nach Diodorus von Sizilien ermordete sie die Liebhaber, derer sie überdrüssig war.

49. * Publius Aelius Hadrianus (76-139) war hochgebildet, mit einer ausgeprägten Neigung zur griechischen Literatur und Philosophie.

50. „Die meisten ägyptischen Priester“, sagt Plutarch, „behaupten, daß der Name Serapis aus den Namen Apis und Osiris zusammengesetzt sei. Sie gründen ihre Ansicht auf die Lehre, daß Apis das schönste Bild der Osiris sei“ (De Iside).

51. * Die Titanen, zu denen Prometheus gehört, kämpften gegen das Göttergeschlecht unter Zeus. Prometheus hielt sich zunächst aus dem Kampf heraus, verfeindete sich jedoch später mit Zeus, überlistete ihn und wurde zur Strafe an einen Felsen geschmiedet.

52. * Lafargue hat sich in Le mythe de Promethée (La Revue des Idées, Nr.12/15. Dezember 1904, 5ff.) ausführlich mit diesem Mythos auseinandergesetzt: „Der Titan, der mitten im Kampf seine Brüder verläßt und die Sache des Matriarchats verrät, der Zeus seine Hilfe leiht, um den Olymp zu erobern und eine neue Ordnung einzuführen, der den Vater der Götter lächerlich macht und der konspiriert, um ihm die Macht zu entreissen, gibt der patriarchalischen Familie den Gandenschuß, indem er das heilige Feuer stiehlt und es den Sterblichen übergibt, damit sie die Einzel-Familien der bürgerlichen Klasse gründen“ (26 [Übersetzerin: Elisabeth Spiola]).

53. * Gemeint ist die Synode von Macon (585), „wo man die Frage verhandelte, ob verdienstvolle Frauen bei der Wiederauferstehung des Fleisches nicht zuerst in Männer verwandelt werden müßten, ehe sie das Paradies betreten könnten, und ein Bischof mit der Erklärung brillierte, Weiber seien keine Menschen (mulier hominem vocitari non posse)“ (Karlheinz Deschnet, Der Kreuz mit der Kirche – ein Sexualgeschichte des Christentums, Düsseldorf-Wien 1973, 217).

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003