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Zuerst veröffentlicht in: Die Neue Zeit, X (1891-1892), 4ff., 41ff., 76ff., 101ff.
Neuveröffentlichung: Pauls Lafargue, Essays zur Geschichte, Kultur und Politik (Hrsg. Fritz Keller), Karl Dietz Verlag, Berlin 2004.
Stellen, die mit einem Stern * versehen sind, sind Einfügungen des Herausgebers.
Transkription: Fritz Keller.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Eine ganz reizende, harmlose Manie grassiert in dem Clan der Pariser Schriftsteller: Jeder von ihnen hält sich für den Schöpfer eines literarischen Genres, der eine auf dem Gebiet der Lyrik, der andere auf dem des Romans; ein jeder von ihnen betitelt sich als Haupt einer Schule; jeder einzelne gilt in seinen eigenen Augen für so absolut originell, daß er sich als Antipode aller seiner übrigen werten Kollegen erachtet. Nichtsdestoweniger sind diese Messieurs miteinander eng und innig verbrüdert: die Verachtung, mit der sie gegenseitig ihre genialen Werke beehren, die Furcht, ihren Anspruch auf Originalität bestritten zu sehen, schlingt ein festes Band um alle; wenn sie miteinander zu tun haben, so verabsäumen sie nie, sich gegenseitig höchst höflich und ernsthaft „maître [Meister]“ zu titulieren. Die Gebrüder Goncourt [2], die es in der Kunst langweilig zu schreiben, zu einer ganz bedeutenden Meisterschaft gebracht haben, sind der Ansicht, daß die offizielle Akademie zu eng ist, um alle Genies aufzunehmen und so gründeten sie neben der „Freien Bühne“ des Monsieur Antoine [3] und in Nachäffung dieser Institution eine freie Fabrik „Unsterblicher“ [4], die sie mit einer Summe ausstatteten, die freilich erst nach dem Tod ausbezahlt werden soll. [5]
Um den Lorbeeren zu verdienen, die sie sich selbst aufs Haupt drücken – diejenige Schmeichelei, die man sich selbst zollt, ist am besten angebracht – haben sich die Lyriker und Romanciers nicht etwa mit einem unbequemen Gepäck von originellen Gedanken und Reflexionen beschwert, es ist ihnen auch nicht eingefallen, eine neue literarische Form einzuführen. Das große Publikum, nach dessen Beifall und klingender Münze es den Messieurs gelüstete, durfte nicht durch Originalitität verblüfft und aus der Fassung gebracht werden. Man begnügte sich also damit, die von den Vorgängern benutzten und abgenutzten Formen zu kultivieren. Die Geschichte wird einmal als die herausragende Eigentümlichkeit der „Häupter“ der verschiedenen „Schulen“ unserer Zeit den absoluten Mangel an schöpferischem Geist zu verzeichnen haben. All ihre Bemühungen und Bestrebungen haben sich darauf beschränkt, den Vers und den Roman – auf dem Gebiet des Dramas konnten sie sich nicht bahnbrechend beteiligen, weil sie vom Publikum aus den Theatern gepfiffen wurden – des jugendlichen Schwungs, der ausschweifenden Fantasie zu entkleiden, welche den Reiz der aus der Periode der Romantik von 1830 stammenden Werke ausmachten, an deren Stelle sie mit Ach und Krach zustandegebrachte Geduldsproben boten. Sie haben uns eine Literatur langweiliger, zotenreissender Schulmeister gegeben.
Die oberflächlichste Betrachtungsweise, die nie von der Wirkung auf die Ursache schließt, nie vom Augenblickserfolg zu einem Resümee fortschreitet, ist der Triumph der „Realisten“. Ihre Psychologie gipfelt in der unsäglichen banalen Analyse ihres albernen, uninteressanten „Ich“. Für alles, was ihnen abgeht, suchen sie sich an der Sprache schadlos zu halten. Die ganze Meisterschaft dieser „maîtres“ offenbart sich in einer höchst manierierten, abgequälten und den Leser quälenden Sprache. Einer von ihnen, zweifellos ein hervorragender „maître“, hat unter dem Titel Contes qui ni que [Erzählungen ohne welcher, welche, welches] einen Band herausgegeben, aus dem die unschuldigen Fürwörter „qui“ und „que“ streng verbannt sind. [6] Beim Schreiben beachten die modernen Dichter und Schriftsteller mehr die Worte als die Dinge, die sie darstellen, sie sind beständig auf der Suche nach neuen stilistischen Wendungen. Es liegt ihnen weniger daran, richtig zu sehen und richtig darzustellen, als vielmehr daran, eine unerhörte Wendung herauszuspintisieren oder ein pikantes „Licht aufzusetzen“. Für sie haben die Worte an und für sich einen ihnen eigentümlichen inneren Wert, der mit den Ideen, die sie ausdrücken sollen, nichts zu tun hat. Dieser Aufassung entsprechend kommt es ihnen weniger darauf an, ob die Worte einen richtigen oder falschen Gedanken einkleiden oder auch ohne jede Idee sind, vorausgesetzt nur, daß ihre Stellung und Zusammenstellung im Satz neu, unerwartet, verblüffend und packend ist. Dagegen martern die „maîtres“ auf dem Gebiet der Poesie und des Romans ihr armes Hirn ab, um Titel auszuklügeln, welche in passender und würdiger Weise ihren Mangel an Erfindungsgabe verzieren. So veröffentlichte zum Beispiel vor etlichen Monaten ein Neuling auf dem literarischen Markt eine sentimentale, im Genre von George Sand gehalten Erzählung und hatte natürlich nichts eiligeres zu tun, als sich mit dem Titel Haupt der Schule des „roman romanesque [romanhaften Romans]“ zu schmücken. Viele Titel und keine Leistungen, das ist die Schlußbilanz der „maîtres“ der modernen Literatur.
* * *
Auch Zola ist früher in den eben beschriebenen Fehler verfallen. Er gab sich für den Schöpfer des „experimentellen Romans“, des „naturalistischen Romans“ aus, und das nach Sorel [7], dem Abbé Prévost [8] und Balzac [9] in Frankreich, Fielding [10] und Smollet [11] in England, Quevedo [12], Cervantes [13] und Mendoza [14], dem Verfasser des Lazarillo de Tormes, in Spanien. Zola selbst maß übrigens dem Titel, den er sich beilegte, keinerlei Bedeutung bei, es war eine Kokarde, die er sich auf seinen Hut steckte, um die Blicke auf sich zu ziehen, nicht mehr. Heute, wo er die ihm anfangs entgegentretenden Schwierigkeiten erfolgreich überwunden hat, wo die Verbreitung seines Rufes über den ganzen Erdball ihm eine einzigartige Stellung unter den Schriftstellern der Gegenwart anweist, begnügt er sich damit, solche Romane zu schreiben, denen ein möglichst großer Erfolg – auch in klingender Münze – sicher ist: Er denkt nur noch an seine Schule, wenn es sich darum handelt, den Schriftstellern, die sich an seine Rockzipfel klammern, die Hand zu reichen.
Zola hat ebensowenig wie die anderen „maîtres“ Schule gemacht – keine Schüler zu haben ist das charakteristische Merkmal der modernen „maîtres“ – , aber er unterscheidet sich von dem großen Haufen unserer Häupter literarischer Schulen, denn er hat in den Romanen ein neues Moment eingeführt.
Die Romanciers möchten uns die Realität der von ihnen gezeichneten Personen glaubwürdig erscheinen lassen, und so taufen sie sie mit Namen, die dem Botin [15] entlehnt sind, sie legen ihnen Worte in den Mund, schreiben ihnen Handlungen zu, welche sie rechts und links aus ihrer Umgebung, ganz besonders aber aus Zeitungen zusammengetragen haben, die sie sorgfältig sammeln, zusammenstellen, vergleichen und gewissenhaft katalogisieren: Trotzdem rufen ihre Männlein und Fräulein nicht die Illusion hervor, daß sie gelebt haben, daß sie lebenswahr, Menschen aus Fleisch und Blut sind. Sie leben nicht unser Leben, sie sprechen nicht von den Interessen, die uns bewegen, sie hängen nicht an den Illusionen, die wir hervorbringen, sie leiden nicht an den Begierden, die uns quälen. Sie machen den Eindruck von Hampelmännern, deren Inneres mit Kleie vollgestopft ist, und deren Drähte der Verfasser in der Hand hält, um sie mit Rücksicht auf die Handlung und den beabsichtigten Effekt manövrieren zu lassen.
Die Victors und die Julien, die in den Romanen geboren werden, leben, lieben und sterben, sie alle folgen nur ihrem Kopf, ohne die zwingenden Macht der Bedürfnisse ihres eigenen Organismus und den Einfluß des sie umgebenden sozialen Milieus zu erfahren; es sind außergewöhnliche Geschöpfe, die über die gewöhnliche Menschennatur erhaben sind und die den sozialen Ereignisse befehlen.
Die römischen Komödiendichter bedienten sich des „deus ex machina“, des plötzlich von oben herabsteigenden Gottes, um verwickelte Situationen aufzulösen. Ihr so naiver, genügend belächelter und bespöttelter Kunstgriff ist von den Romanciers benutzt und vervollkommnet worden: Diese lassen nämlich ihre Helden und Heldinnen den ganzen Roman hindurch die Rolle solcher Götter spielen. Zola hat sich in lobenswerter Weise bemüht, diese Art Hexenmeister aus dem Roman zu verbannen. Zumindest hat er den Versuch gemacht, die im Roman vorkommenden Gestalten eines Teiles ihrer Allmacht zu entledigen und ihre Handlungen mit bestimmten Ursachen in Verbindung und Zusammenhang zu bringen, ja er geht in diesem Bestreben so weit, die gezeichneten Personen ihres freien Willens zu berauben, sie der zwingenden Gewalt eines doppelten Verhängnisses, eines inneren physiologischen und eines äußeren sozialen, zu unterwerfen.
Die Gestalten, die Zola uns im Rahmen seiner Romane vorführt, werden von ihm in physiologischer Beziehung als erblich belastet dargestellt und das geschieht in der Absicht, dadurch einer Erklärung für ihr gesamten Tun und Lassen zu liefern. Manche seiner Helden sind Alkoholiker [16], andere mit erblichem Wahnsinn behaftet, in einigen Fällen werden sie durch einen Unfall aus den Geleisen geworfen, mehrere seiner Heldinnen werden für ihr ganzes Leben abnorme Geschöpfe, weil sie in brutalster Weise entjungfert worden sind. Die Ereignisse seiner Romane sind nur zu dem Zweck gruppiert und klassifiziert, um die Entwicklung dieses krankhaften Phänomens zu ermöglichen. [17]
Die pathologische Notwendigkeit, der Zolas Gestalten unterworfen sind, bestimmt nicht nur deren Charakter und Handlungen, sondern beeinflußt den Verfasser selbst. Sie macht ihn blind und hindert ihn zu sehen, wie sich die Dinge im wirklichen Leben zutragen und wie selbst die am tiefsten eingewurzelten erblichen Eigenschaften beständig durch das Milieu, in dem sich das Individuum entwickelt, verändert werden. An Beispielen für derartige Veränderungen besteht kein Mangel. Die geordnete Lebensführung und die Sparsamkeit, die seit Generationen den Philister charakterisieren, solange er in den engen, kleinbürgerlichen Verhältnissen lebt, verwandeln sich binnen einer einzigen Generation und schlagen in Hemmungslosigkeit und wahnwitzige Verschwendung um, sobald sich derselbe Philister in den Kreisen des Großhandels und der Hochfinanz einen Platz erobert hat.
Da heutzutage die Naturwissenschaft in Mode ist, versuchte Zola den Neuerungen, die er in den Roman einführte, einen naturwissenschaftlichen Anstrich zu geben. Er erklärte sich zum Schüler Claude Bernards [18] und machte den großen Physilologen für seine pathologisch-literarischen Fantasien verantwortlich. Der Entschuldigungsgrund, den Zola dafür anführen kann, ist seine absolute Unkenntnis der Theorien Claude Bernards, der dem organischen Milieu einen entscheidenden Einfluß auf das Leben der physiologischen Elemente beimaß. Die Theorie, an der sich Zola unbewußt orientiert, ist nicht die Claude Bernards, sondern die Lombrosos [19], eine Theorie, die Lombroso übrigens nicht selbst erfunden hat, die er aber ausbeutet, um sich, dank der Unwissenheit der sogenannten gebildeten Leute, einen europäischen Ruf zu schaffen.
Die Verbrechertheorie Lombrosos ist vulgär-fatalistisch. Wie der Held des Assommoir [Der Totschläger] aufgrund seiner erblichen Belastung unrettbar dem Alkoholismus verfallen mußte, so sind alle Verbrecher durch ihren Organismus für das Verbrechen prädestiniert. Mögen sie zehnmal in verschiedensten Verhältnissen und Umständen leben, sie müssen mit Naturnotwendigkeit, ob sie es wollen oder nicht, Verbrechen begehen. Die Gesellschaft muß folglich versuchen, sich ihrer wie giftiger Schlangen oder reißender Tiere zu entledigen. Offenbar führt diese fatalistische Theorie zum selben Schluß, wie die Theorie der Deisten vom freien Willen. Die eine wie die andere macht das Individuum alleine für seine Handlungen verantwortlich. Beide sprechen der Gesellschaft das Recht zu, das Individuum zu beseitigen, ohne Gewissensbisse und ohne Untersuchung, ob ihr nicht selbst ein Teil der Verantwortung für jede verbrecherische Tat zufällt. Wie bekannt legte der große Statistiker Quetelet [20] der Gesellschaft die Verbrechen zur Last, die jahrein jahraus mit fast mathematischer Regelmäßigkeit begangen werden. [21] Lombrosos Verbrechertheorie ist aus den Lehren Darwins abgeleitet, wie sie fälschlich von Häckel, Spencer [22], Galton [23] und Genossen ausgelegt wird, die es fertig bringen, unter Berufung auf sie die hohe soziale Stellung der Kapitalisten durch deren erblich übertragenen, ausgezeichneten individuellen Eigenschaft zu erklären.
Zola hat es vortrefflich verstanden, die Verbrechertheorie auszunutzen – sie vereinfacht seine Aufgabe als Darsteller der Sitten bedeutend; sie verhilft ihm zu neuen Effekten und enthebt ihn der Notwendigkeit, die Aktion und Reaktion des sozialen Milieus, in dem seine Helden leben, zu studieren, denn diese sind ja einer organischen Fatalität unterworfen, die zu einer neuen Art von „deus ex machina“ wird; und sie verhilft ihm, von der psychologischen Analyse abzusehen, für die er eine unverhohlene Verachtung an den Tag legt.
Psychologie treiben, sagt er irgendwo, das heißt Experimente mit dem Kopf des Menschen anstellen,
und er selbst beansprucht für sich, „Experimente mit dem ganzen Menschen anzustellen“. Die Ideen Zolas darüber, was er unter einem Experiment und unter der Rolle des Kopfes im menschlichen Organismus versteht, sind verworren und unklar. [24]
* * *
Auch in den Romanen Balzacs finden wir physiologische Notwendigkeiten, aber von einer ganz anderen Art, als die Zolas. Balzac knüpft an Geoffroy de Saint Hilaire an, den Schüler und Nachfolger Lamarcks, den genialen Vertreter der Theorie des Milieus, der Verhältnisse der Außenwelt und des Einflusses, den diese auf die in ihnen sich entwickelnden Wesen ausüben. An Geoffroy de Saint Hilaire, den Anhänger der Theorie von den Wechselbeziehungen, die zwischen den verschiedenen Organen besteht – eine Theorie, zu der sich auch Goethe bekannte. [25] Jeder Veränderung in der Außenwelt findet gleichsam ein Echo in einer entsprechenden Veränderung eines bestimmten Organs der von ihr lebenden Tiere und Pflanzen, und jede Veränderung eines bestimmten Organs eine Tieres beeinflußt notwendigerweise die Beschaffenheit seiner anderen Organe. Wenn es zum Beispiel möglich wäre, die Form der Zähne des Löwen zu verändern, so würde dies auch einer veränderte Form seiner Kiefer zur Folge haben, gleichzeitig würden sich auch seine übrigen Organe und seine Charaktereigenschaften wie Mut, Grausamkeit usw. ändern. Das Gleiche gilt von der Versetzung von Tieren aus ihren natürlichen in künstliche Verhältnisse, wie dies zum Beispiel bei den Haustieren der Fall gewesen ist. Der Wechsel zieht notwendigerweise eine Veränderung der Organe, des Geistes und Charakters der betreffenden Tiere nach sich.
Balzac, der von der Richtigkeit dieser Theorie durchdrungen war, verwendete unendliche Mühe auf die Beschreibung der Verhältnisse, in denen er seine Gestalten leben und weben ließ.
Er wich der Analyse der „tausenderlei komplizierten Ursachen“ nicht aus, die Zola einschüchtern, und die doch die Handlungen der Menschen bestimmen und deren Leidenschaften beeinflussen. Balzac analysiert diese Ursachen vielmehr mit solchem Behagen, daß er für den Leser, der in der Lektüre eines Romans ausschließlich Zerstreuung und nicht Belehrung sucht, recht langweilig wird. Flaubert [26], Zola, die Goncourt, überhaupt die meisten Romanciers, die literarische Bedeutung für sich beanspruchen, gefallen sich in glänzenden Beschreibungen, die an Kunststücke der Virtuosen auf dem Klavier erinnern. Allerdings sind ihre Beschreibungen meist kleine Genrebilder, die oft lange im voraus ausgearbeitet und im Schreibtisch für den etwaigen Gebrauch sorgfältig aufbewahrt worden sind. Sie werden hie und da im Roman angebracht wie Illustrationen oder die Ornamente am Ende des Textes. Solche Beschreibungen können wohl als Beweis für die große Darstellungskunst der Verfasser dienen, aber an und für sich sind sie müßiges, nutzloses Beiwerk, das das Interesse für den behandelteten Gegenstand beeinträchtigt. Wenn man diese Beschreibungen überblättert, entsteht den Werken dadurch kein Nachteil, im Gegenteil, oft gewinnen die Werke dadurch ganz wesentlich.
Die kunstvollen, eingehenden Schilderungen Balzacs dagegen fördern ganz erheblich unser Verständnis der Charaktäre und Handlungen, die er vorführen will; weil seine Helden und Heldinnen in diesen oder jenen Verhältnissen leben, darum müssen sie die bestimmten, diesen Verhältnisse adäquaten Leidenschaften entwickeln und entsprechend handeln.
Balzacs Gestalten werden ausschließlich von einer einzigen Leidenschaft beherrscht, die für sie zu einem physiologischen Verhängnis wird. Wenn sie auch den Keim dazu mit auf die Welt gebracht haben, so entwickeln sie sich doch nur langsam, unter dem Einfluß der Verhältnisse der Umgebung. Hat diese einzige Leidenschaft jedoch einmal den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht, wie die Liebe bei Goriot [27], der Geiz bei Grandet [28], die Neigung zur wissenschaftlichen Forschung bei Balthasar Claëz [29], die Eitelkeit bei Crevel, die sexuelle Sinnlichkeit bei Baron Hulot [30], so wird sie zur ganz unumschränkten Herrscherin, die nacheinander alle übrigen Gefühle überlagert und erstickt und die betreffende Person zum Monomanen macht. Balzacs Romane sind Epen der triumphierenden Leidenschaft: in ihnen wird der Mensch zum Spielzeug einer ihn beherrschenden und marternden Leidenschaft wie er in der griechischen Tragödie das Spielzeug einer Gottheit war, die ihn durch ihre Befehle einmal zum Verbrechen, dann zu heroischen Taten trieb. Seit Aischylos [31] und Shakespeare, der seine Helden ebenfalls der Leidenschaft zum Opfer fallen läßt, hat kein Schriftsteller die bis zum Paroxysmus, bis zum Wahnsinn gesteigerte Leidenschaft mit der gleichen unerbitterlichen Schärfe, der gleichen Kraft der Darstellung gezeichnet, wie Balzac.
Zola behauptet an Balzac anzuknüpfen, nur würde er sich von diesem in allem und jedem unterscheiden: durch seine Philosophie, durch seine Sprache, durch die Art und Weise, wie er seine Beobachtungen macht, seine Romane ausarbeitet, seine Helden einführt und auftreten läßt und ihre Leidenschaften schildert. Außerdem würde er sich von Balzac durch ein seine Werke charakterisierendes neues Moment unterscheiden, das er als erster in die Romanliteratur eingeführt hat und das den Grund seiner unleugbaren Überlegenheit über die anderen modernen Romanciers bildet, obwohl er einigen von ihnen in manchem unterlegen ist – zum Beispiel Daudet in der künstlerisch vollendeten Darstellung und Halévy [32] beim Esprit und in der Feinheit der Beobachtung. Zolas Originalität besteht darin, daß er zeigt, wie ein Mensch von einer sozialen Macht zu Boden geworfen und zermalmt wird. Balzac hatte wohl, um mit Zola zu reden,
sich das ausgezeichnete Verdienst erworben, die ganze furchtbare Tragik, die mit Geld verbunden ist, offengelegt zu haben [33],
aber Zola ist der einzige moderne Schriftsteller, der bewußt den Versuch gewagt hat, darzustellen, wie ein Mensch von einer sozialen Notwendigkeit überwältigt und vernichtet wird.
Zur Zeit als Balzac schrieb (er starb 1850), befand sich die riesige Konzentration des Kapitals, das unsere Epoche prägte, erst in den Anfängen, auch in Frankreich. Warenhäuser [34], deren Ganglänge in Kilometern gemessen werden, in denen Verkäufer und Verkäuferinnen tätig sind, deren Zahl nach Tausenden beziffert wird, waren noch unbekannt; jene Warenhäuser, in denen alle möglichen Handelsobjekte zentralisiert sind und in besonderen Abteilungen feilgehalten werden, so daß man in ihnen ebensogut Schreibrequisiten und Parfümeriewaren wie Haushaltsartikel, Hüte und Anzüge, Handschuhe, Schuhe, Wäsche und Sattlerwaren findet. Damals gab es auch noch keine Spinnereien, Webereien, Hüttenwerke und Hochöfen, die ein ganz Volk von Arbeitern und Arbeiterinnen beschäftigten. Man wußte auch noch nichts von Finanzgesellschaften, die mit zehn- und hundertstelligen Millionenbeträgen operieren. Wohl existierte ein Kampf ums Dasein, den es ja immer gegeben hat – wenngleich damals seine Theorie noch nicht formuliert und der heute gebräuchliche Ausdruck für das Faktum noch nicht gefunden war – , aber der Kampf ums Dasein zeigte eine andere Form und andere charakteristische Eigentümlichkeiten als in unseren Tagen, wo er durch das Auftreten von ökonomischen Riesengebilden, wie die, von denen bereits die Rede war, wesentlich modifiziert worden ist. Damals war der Kampf ums Dasein noch nicht demoralisierend; er degradierte die Menschen nicht, sondern entwickelte in ihnen gewisse Vorzüge wie Mut, Ausdauer, Klugheit, Vorsicht und Voraussicht, Ordnungssinn usw. Balzac beobachtete folglich Menschen, die mit ihren eigenen physischen oder geistigen Kräften gegeneinander kämpfen. Der Kampf um Dasein, den die Menschen in jenen Tagen führten, wies eine große Ähnlichkeit mit dem Kampf ums Dasein der Tiere auf, die einander im körperlichen Ringen mit Klauen und Zähnen, mit Gewandtheit und List zu überwinden suchen.
In unseren Tagen hat hingegen der Kampf ums Dasein einen anderen Charakter angenommen, der in dem Maße schärfer und ausgeprägter sichtbar wird, als sich die kapitalistische Produktion entwickelt. Der Kampf der einzelnen Menschen unter- und miteinander wird durch den Kampf der ökonomischen Organisationen (Banken, Fabriken, Minen, Kaufhäuser) untereinander abgelöst und beseitigt. Die Kraft und die Klugheit des einzelnen verschwinden vor ihrer unwiderstehlichen Macht, die blind wie die Natur waltet. Der Mensch wird von ihrem Räderwerk erfaßt, in die Höhe gewirbelt, fortgeführt, wie ein Ball hin und her geschleudert, heute auf den Gipfel des irdischen Glücks gehoben, morgen aus seiner Höhe heruntergestürzt, wie ein armseliger Strohhalm sofort mit Füßen getreten, ohne daß er den ökonomischen Organismen mit Aufbietung all seiner Klugheit, mit Anspannung all seiner Energien den geringsten Widerstand entgegensetzen könnte. Die ökonomische Notwendigkeit tritt heute dem Menschen als Übermacht gegenüber. Die Kräfte, die die Menschen zu Balzacs Zeiten darauf verwendeten, auf die Schultern ihrer Konkurrenten zu klettern, um dadurch in der Gesellschaft hochzukommen, und über deren Leiber vorwärtszumarschieren, diese Zeit müssen sie heute verwenden, um elend und erbärmlich vegitieren zu können. Schritt für Schritt, wie sich der frühere Charakter des Kampfes ums Dasein verflüchtigt hat, hat sich auch die Natur des Menschen selbst notwendigerweise verändert, sie ist niedriger, kleinlicher geworden.
Diese Verkrüppelung der verzwergten Menschen spiegelt sich in der modernen Romanliteratur wieder. Der Roman strotzt nicht mehr von tollen Abenteuern, in die sich der Held stürzt, wie ein wildes Tier in die Arena, um seine Kräfte an den wunderbarsten, ungewöhnlichsten Ereignissen siegreich zu erproben, zur großen Befriedigung des gefesselten Lesers, der im eigenen Inneren die kühne Unerschrockenheit, die leidenschaftliche Glut der ihm vorgezauberten Gestalten nachfühlt, die vor keiner der anscheinend unüberwindlichen Schwierigkeiten zurückschrecken, mit denen ihr Weg absichtlich gepflastert worden ist. Wenn die modernen Romanciers das Interesse befriedigen wollen, das die Leser gewisser Klassen den Wechselfällen des Kampfes eines Individuums entgegenbringen, so wählen sie ihr Helden aus der Welt der Gauner und Gauckler, in der man noch Verhältnisse findet, die den Menschen der Zivilisation zwingen, mit der Verschlagenheit, dem Mut und der Grausamkeit eines Wilden um sein Dasein zu kämpfen. In den übrigen Kreisen der Gesellschaft ist der Kampf so farblos und einförmig, daß ihm jedes packendes Element fehlt. Die Romanciers, die für die sogenannten höheren und gebildeten Klassen schreiben, sehen sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, jede dramatische Situation aus ihren Werken zu verbannen; es gilt als höchste Kunst der neuen Schule, auf Handlung zu verzichten, und da ihre Jünger keinen Sinn mehr für Kritik und Philosophie besitzen, so sind ihre Werke bloße Übungen sprachlicher Akrobatik, sie sind vollendete Schüler der Rhetorik. [35]
* * *
Als sich Zolas Talent voll entfaltet hatte, besaß er den Mut sich an die großen sozialen Phänome und Vorgänge des modernen Lebens heranzuwagen; er machte den Versuch, die Auswirkung zu schildern, welche die ökonomischen Organismen auf die moderne Menschheit haben.
In seinem Au bonheur des dames [*Zum Damenglück, auch: Zum Paradies der Damen] führt uns der Verfasser in das Leben eines jener ökonomischen Ungeheuer, in ein Pariser Riesenwarenhaus ein. Er zeigt uns den Minotauros [36], wie er die kleinen, in seiner Nachbarschaft gelegenen Läden verzehrt, ihre Kundschaft verschlingt, ihre Besitzer aufsaugt, zu seinen Angestellten und Lohnarbeitern degradiert; wie er in seinen Untertanen, den Gehilfen, Verkäufern und Verkäuferinnen Interessen, Leidenschaften und Rivalitäten weckt, die in anderen Verhältnisse unbekannt sind; wie er ihnen in den Tagen der Saisonverkäufen das Fieber, um jeden Preis verkaufen zu wollen, einhaucht, gerade wie das Signal „Klar Schiff zum Gefecht!“ auf den Kriegsschiffen den Kampfesmut entflammt.
In Germinal [Keimmonat, der siebente Monat des Kalenders der Revolution] tritt uns das Bergwerk, tritt uns das unter der Erde hausende Monster entgegen, das Menschen, Pferde, Maschinen hineinschluckt und Kohle ausspuckt; das die Natur verwandelt, rings um seinen gähnenden Rachen die Atmosphäre verdickt und verpestet und die Vegetation tötet; das Menschen herdenartig zusammendrängt, die früher vereinzelt als kleinbäuerliche Grundeigentümer lebten; das sie ihres letzten Fleckens Eigentum beraubt, sie dazu verurteilt, kein Tageslicht mehr zu sehen und bei der bleichen, zitternden Flamme eines Lämpchens inmitten von tausend Gefahren zu leben, denen sie tagaus tagein Trotz bieten, ohne sich auch nur ihres Mutes bewußt zu werden. In diesem Roman tritt uns das unter der Erde hausende Monster entgegen, das die Menschen durch gemeinsames Leid und Elend, durch gemeinsame Qualen gegen den Kapitalisten eint, der wie der Gott Pascals [37] überall und nirgends ist und sie zu Streiks, zu blutigen Kämpfen, zum Verbrechen treibt.
Mit der Schilderung und Analyse der ökonomischen Riesenorganismen der Neuzeit und ihrer Einwirkung auf den Charakter und das Schicksal der Menschen dem Roman neue Bahnen zu weisen, das war ein kühnes Unternehmen. Der bloße Versuch seiner Verwirklichung stempelt Zola zum Neuerer und weist ihm in unserer modernen Literatur einen hervorragenden Platz, eine Sonderstellung an.
Aber der Roman dieser Art stellt den Verfasser vor eine bei weitem schwierigere Aufgabe, als die Liebes- und Ehebruchsgeschichten, die die Tagesliteraten erzählen, die wohl vollendete Stilisten sind, sich hingegen durch eine ganz phänomenale Unkenntnis der Erscheinungen und Vorgänge des täglichen Lebens, das sie zu schildern behaupten, auszeichnen. Abgesehen von ihrer Grammatik, ihrem Wörterbuch, etlichen Klatschgeschichten, die auf den großen Boulevards oder von Salon zu Salon kolportiert werden, sowie den unter der Rubrik Verschiedenes in den Zeitungen stehenden Neuigkeiten und Polizeiberichten, wissen und kennen sie so wenig, daß man meinen sollte, sie wären soeben vom Mond gefallen. Um einen Roman der geschilderten Art zu schreiben, müßte sein Verfasser in nächster Nähe eines dieser ökonomischen Monsteren gelebt, er müßte seine Natur, sein innerstes Wesen erfaßt und durchdrungen, er müßte vor Zorn über die Greul, deren Urheber das Monster ist, gezittert haben. Ein derartiger Autor ist bis jetzt noch nicht aufgetreten, ja es scheint uns unmöglich, daß er auftritt. Die Menschen, die dem Räderwerk, den Produktionsmechanismen einverleibt werden, sind durch Überarbeit und Elend auf eine so niedere Stufe gesunken, so stumpfsinnig geworden, daß sie nur noch die Kraft besitzen, zu leiden, aber nicht die Fähigkeit, ihre Leiden zu erzählen. Die urwüchsigen Männer, die die Ilias und andere Heldengedichte schufen, die zu den schönsten Blüten des menschlichen Geistes zählen, waren unwissend und ungebildet – unwissender und ungebildeter als die Proletarier unserer Tage, die lesen und manchmal sogar schreiben können, aber sie besaßen poetisches Genie. Sie sangen von ihren Freuden und Leiden, von ihrer Liebe und ihrem Haß, von ihren Festen und Kämpfen. Dem zu einem Anhängsel des großindustriellen Produktionsmechanismus verkommenen Proletarier ist die glänzende Gabe des poetischen Darstellungsvermögens abhanden gekommen, eine Gabe, die den Wilden und Barbaren, ja sogar noch den nur halbzivilisierten Bauern der Bretagne auszeichnet. Die Sprache der modernen Lohnarbeiter ist in beklagenswerter Weise derart verarmt, daß sie heutzutage nur noch aus einigen hunderten Worten besteht, durch die die dringendsten Bedürfnisse und die einfachsten Gefühle zum Ausdruck gebracht werden. Seit dem 16. Jahrhundert wird das Französisch des Volkes wie der Literatur ärmer und ärmer an Worten und Ausdrücken; diese Tatsache ist ein charakteristisches Symptom für die zunehmende Verkümmerung des Menschen.
Der soziale Roman, wie wir ihn dargestellt haben, kann also nur von jemand geschrieben werden, der dem Leben der Lohnarbeiter, das er schildern soll, fremd, unbeteiligt, als bloßer Beobachter gegenübersteht. Ein Gelehrter, der sich längere Zeit mit dem Studium des Getriebes der modernen ökonomischen Mechanismen beschäftigt, der beobachtet hat, welche furchtbaren Auswirkungen sie für die Arbeiterklasse haben, könnte sich wohl an die Aufgabe machen, wenn heutzutage die Gelehrten von ihrem wissenschaftlichen Spezialistentum nicht quasi eingemauert wären und sich als unfähig erwiesen, ihren Forschungen zeitweilig den Rücken zu kehren, um die Phänomene des sozialen Lebens ihrer Zeit künstlerisch gestaltet darzustellen. Es ist daher unvermeidlich, unausbleiblich, daß diese Aufgabe Belletristen zufällt, die auf sie als Konsequenz ihrer geringen praktischen Kennntisse, der Art und Weise ihres Lebens und ihres Denkens in der Regel keineswegs vorbereitet sind. Es fehlt ihnen an Erfahrung, und sie beobachten die Menschen und Dinge der zu schildernden Welt nur oberflächlich. Obwohl sie sich damit brüsten, daß sie das wirkliche Leben malen, bleibt ihr Blick doch ausschließlich an der Außenseite der Dinge haften, sie erfassen das sich vor ihren Augen abrollende Schauspiel des alltäglichen Lebens nur in seinen oberflächlichsten, äußerlichsten Momenten. Brunetière [38], der Kritiker der Revue des deux mondes [Revue der zwei Welten], sagt mit Recht von ihnen:
Ihr Auge und ihre Hand sind derart beschaffen, daß sie nur das sehen, beobachten und wiedergeben, was sie für ganz besonders geeignet erachten, die Neugier des Publikums zu erregen, an das sie sich wenden.
Leider muß bemerkt werden, daß Zola in der Beziehung keine Ausnahme von seinen Kollegen macht.
* * *
Zola (geboren 1840) begann seine Karriere im Leben als Angestellter einer großen Pariser Buchhandlung, sagte aber bald der Existenz eines Kommis Lebewohl, um sich dem Journalismus zu widmen, und schrieb zuerst für die Tageszeitung La cloche [Die Glocke], die unter dem Kaiserreich der Versuch machte, der „republikanische Figaro“ zu werden. Nach dem Sturz Napoleons III. folgte Zola Gambetta [39] nach Tours und Bourdeaux. Als die wilde Jagd der Bourgeoisrepublikaner nach Ämtern und Würden begann, als das große Halali der unter sie zu verteilenden Beute geblasen wurde, da forderte er für sich eine Unterpräfektur. Sein Gesuch wurde abschlägig beschieden, was zu Folge hatte, daß er der Politik der Rücken kehrte und sich ausschließlich seiner literarischen Tätigkeit, der Abfassung seiner Romane widmete. Der Politik trägt er den Groll eines Menschen nach, der in seinem Ehrgeiz enttäuscht worden ist; anläßlich einer Bestechung Vallés [40] bezeichnete er sie verächtlich als ein „trübes Handwerk“. er lebt seither in äußerster Zurückgezogenheit, wie „ein Bär“, wie er selbst sagt. Kürzlich ist jedoch sein Ehrgeiz von neuem erwacht. Er ist aus seiner Einsamkeit herausgetreten, hat sich zum Präsidenten des Schriftstellerverbandes ernennen lassen und träumt davon, in die Akademie und den Senat einzutreten, diese beiden Versorgungshäuser für abgedankte, altersschwache, verkrüppelte Literaten und Politiker.
Um seinem literarischen Werk den Anschein der Einheitlichkeit zu geben, hat es Zola in Nachahmung Balzacs als [*Die Rougon-Macquart,] Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich betitelt. In der Folge arrangierte er es so, daß irgendein Mitglied dieser Familie in einem jeden seiner Romane eine hervorragende Rolle spielt. Aber die Einheitlichkeit, die erreicht werden sollte, entspricht mehr einer Konvention als der Realität. Die Einheitlichkeit seines Werkes beruht weniger darin, daß er die Geschichte einer ganzen Familie erzählt, als vielmehr in seinem Plan, die sozialen Organismen zu studieren, die quasi das Skelett der kapitalistischen Gesellschaft bilden.
Es ist bedauerlich, daß ein Mann von dem unbestreitbaren und unbestrittenen Talent Zolas das Leben eines Einsiedlers führt und dadurch unfähig gemacht wird, das, was er darstellen möchte, richtig zu schildern. Der Naturforscher und der Chemiker ziehen sich vor der Welt zurück, sie schließen sich allein in Laboratorien ein, um die Wesen und Dinge, die sie interessieren, und die sie untersuchen wollen, aus allernächster Nähe studieren zu können. Wenn hingegen Zola in einsiedlerischer Zurückgezogenheit lebt und schafft, so entfernt er sich gerade von den Wesen und Dingen, die Gegenstand seiner Studien sind; er ist daher gezwungen, „de chic“ zu malen, um sich dieses charakteristischen Ausdrucks der Maler zu bedienen. [41]
Er glaubt diesen methodischen Mängeln dadurch beizukommen, daß er oberflächlich die Verhältnisse in der Wirklichkeit ansieht, die er beschreiben will. So legt er eine Fahrt von 50 oder 100 Meilen auf einer Lokomotive zurück, um sich mit den Empfindungen eines Lokomotivführers vertraut zu machen. [42] Er besucht die Kaufhäuser, beobachtet an den Tagen der Saison- und Räumungsverkäufe das hin- und herwogende Leben und Treiben, um die Leidenschaften kennenzulernen, die den Kaufmann und sein Personal bewegen. [43] Er verbringt acht Tage in einem Kohledistrikt oder in der Beauce [44], um die Lebensweise der Bergarbeiter und der Bauern [45] aufgrund seiner eigenen Anschauungen schildern zu können. Er vervollständigt diese en passant gemachten Beobachtungen und Studien durch Angaben, die er aus Büchern, Zeitungen und Privatgesprächen schöpft. Alles in allem geht Zola bei seinen Beobachtungen und Studien genauso vor, wie die Zeitungsreporter. Sobald ein Ereignis stattgefunden hat, eilen die Reporter gänzlich unvorbereitet an den Schauplatz; sie dürfen keine Zeit damit verlieren, den Gegenstand, über den sie schreiben sollen, gründlich kennenzulernen im Nu müssen sie alles gesehen haben und deshalb sehen sie nur die Oberfläche der gröbsten Phänomene, die so augenfällig sind, daß sie von jedermann bemerkt werden müssen. Sie sind nicht imstande, die Tatsachen in ihre wesentliche Momente zu zerlegen, zu ihren Ursachen zurückzugehen, die Mannigfaltigkeit der Wirkungen und Gegenwirkungen zu verfolgen und zu erfassen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn man in ihren Bemerkungen – wie in denen Zolas – nur wenige originelle Beobachtungen findet, die nicht schon früher mehrfach gemacht worden wären.
Zola, der mit den Augen des Künstlers die Äußerlichkeiten der Dinge im Fluge erfaßt und dann festhält und der ein großes Darstellungstalent besitzt, verbirgt die Banalität seiner Beobachtungen hinter Bildern von romantischen Kolorit, die den Leser packen und gefangennehmen, ihn aber nicht auf den Schauplatz der Handlung versetzen und davon eine genaue Vorstellung geben. Ein Maler kann mühelos ein Bild nach den Mitteilungen eines Reisenden entwerfen, der ohne belletristische Prätentionen einfach und schlicht erzählt, was er gesehen hat; hingegen ist es ebenso schwierig, ja fast unmöglich, nach der Schilderung eines Romanciers zu zeichnen, der nur danach trachtet, uns durch das Kolorit seiner Sprache und den Reichtum seiner Bilder zu blenden.
Zola sucht den Erfolg um des Erfolgs willen. Er schätzt das Talent eines Schriftstellers nach der Zahl der Exemplare, die dessen Verleger von seinen Werken absetzt. Da beim Bourgeoispublikum nichts mehr mißfällt als das Neue, hütet er sich wohl, ihm Neues aufzutischen. Scribe [46], der diese Schwäche des Bourgeoishirns gut kannte, antwortete einem Freund, der ihm ein Bonmot erzählte: „Wiederholen Sie es, drucken Sie es, lassen sie es herumgehen, und wenn es seinen Weg gemacht hat und von jedermann im Mund geführt wird, so werde ich es in einem Stück anbringen. Alle, die es gehört und wiederholt haben, werden Beifall klatschen“. Die Leser, die Balzac langweilig finden – und sie bilden die große Mehrheit des lesenden Publikums – würden sich nie mit einem tiefschürfenden Werk anfreunden, mit einer ernsten und wirklichen „dokumentarischen Studie“ – um den Ausdruck zu gebrauchen, den Zola und seine Freund so lieben. Ihren Wünschen entspricht es, daß Szenen und Gestalten schnell, wie die Bilder einer Laterna magica an ihren Augen vorbeiziehen und nicht die geringste Aufmerksamkeit erfordern; jedes Nachdenken bedeutet für sie höchst überflüssiges Kopfzerbrechen.
Zola versteht den Geschmack des Publikums, er ergeht sich in umfassenden Schilderungen. Hingegen zeichnet er seine Personen nur flüchtig und in groben Umrissen, die, da sie nur en passant beobachtet und studiert worden sind, sich selten gut in die Situation einfügen. Sie stammen meist aus zweiter Hand und sind nicht nach der Natur dargestellt worden. Man erzählt zum Beispiel, daß Zola einen Bergmann in Lebensgröße in allen Stellungen zeichnen ließ, die er bei seiner Arbeit einnimmt, damit er ihn im Germinal beschreiben konnte. Das erste Kapitel des Romans La terre [Die Erde] schildert nicht eine Szene, die Zola selbst erlebt hat, es enthält vielmehr die dichterische Wiedergabe eines berühmten Gemäldes von Millet [47] Le semeur [Der Sämann], verziert durch eingeflochtene Episode vom Bespringen der Kuh, die bereits vor Zola Rollinat [48] in dokumentarischen Versen beschrieben hat.
Paul Alexis [49], Zolas Geschichtsschreiber, hat uns durch seine Mitteilungen über Nanas Küche einen Einblick in die Arbeitsmethoden des „maître“ gewährt. [50] Zola häuft nach und nach Notizen an, die er aus Zeitungen, Bücher und Gesprächen sammelt und die er dann sorgfältig sichtet und klassifiziert, entsprechend etikettiert und in einem Katalog verzeichnet. Von Zeit zu Zeit entleert er den Inhalt seiner Notizensammlung in einer Handlung, näht die einzelnen Notizen zusammen und der Roman ist fertig. Brunetière glaubte Zola in Verlegenheit zu bringen, indem er nachwies, er habe den englischen Schriftsteller Otway [51] plagiiert. [52] Zola hätte ihm darauf erwidern können: „Wenn Sie die Zeitungen und Bücher kennen würden, aus denen ich meine dokumentarischen Notizen zusammentrage, so könnten Sie in meinen Romanen Hunderte von ähnlichen Plagiaten finden. Wie kann ich Plagiate umgehen, wenn ich Verhältnisse schildern will, die ich nicht kenne, und durch welche ich nur mit Schnellzugsgeschwindigkeit gefahren bin“.
Cervantes, d’Aubingé [53], Smollet, Rousseau und Balzac haben erst geschrieben, nachdem sie etwas erlebt und die Menschen durch Umgang mit Angehörigen der verschiedensten Gesellschaftskreise, durch Beobachtung ihres Lebens und Treibens in der Wirklichkeit gründlich kennengelernt hatten. Die Romanciers unserer Zeit hingegen, die sich Naturalisten und Realisten titulieren und behaupten, daß sie nach der Natur malen, sperren sich in ihrem Arbeitszimmer ein, türmen ganze Berge bedruckter und bekritzelter Papiere um sich auf, aus denen sie das frisch pulsierende Leben kennenlernen wollen und verlassen ihre behaglichen Wohnungen nur ab und zu, um als Dilletanten Örtlichkeiten zu besichtigen und eine Handvoll der notwendigsten, oberflächlichen Eindrücke zu sammeln. Die Goncourt und Flaubert, die diese sonderbare Methode der realistischen Beobachtung auf die Spitze getrieben haben, behaupten, daß ein Schriftsteller nicht nur an den politischen Kämpfen seiner Zeitgenossen keinen Anteil nehmen, sondern, daß er überhaupt keine menschlichen Leidenschaften empfinden dürfe, um sie desto besser schildern zu können, daß er von Marmor sein müsse, um das Leben richtig zu schätzen!
Ist es vorstellbar, daß Dante die Göttliche Komödie geschrieben hätte, wenn er als guter Spießbürger in seinen vier Pfählen [54] gehockt, dem öffentlichen Leben gleichgültig gegenübergestanden, an den politischen Kämpfen seiner Zeit keinen leidenschaftlich Anteil genommen hätte? [55]
Die Methode der Realisten ist eher bequem für die Schriftsteller als vorteilhaft für die Werke. Ihre „dokumentarischen“ Romane wimmeln von großen und ärgerlichen Ungenauigkeiten. Aurelien Scholl [56], die sich in fast allen übelbeleumundeten Lokalitäten von Paris herumgetrieben hat, hat sich damit amüsiert, die zahlreichen Irrtümer hervorzuheben, die sich in Zolas Nana [57] finden. Wenn das in diesem Roman vorgestellte Gemälde vom Leben der höher- und niedergestellten Freudenmädchen von einem jungen Provinzler, der zum ersten Mal Pariser Pflaster betritt, auch gläubig aufgenommen wird, so entlockt es einem echten Pariser, der dieses Leben von Grund aus kennt, nur ein Achselzucken.
Zolas Talent ist jedoch so mächtig, daß trotz der Unvollkommenheit seiner Beobachtungsmethode und trotz seiner zahlreichen dokumentarischen Irrtümer seine Romane die bedeutendsten literarischen Zeugnisse unserer Epoche bleiben. Ihren ungeheuerer Erfolg hat er sich wohl verdient, und wenn sie nicht, wie Monsieur et Madame Cardinal und gewisse kleinere Romane, Meisterwerke sind, so erklärt sich das dadurch, daß der Stoff kolossal war, den sie zu bewältigen hatten, und daß es der Kraft eines Titanen bedurft hätte, um ihn aufzuheben, ihn zu drehen und zu wenden und mit ihm zu spielen. Und tatsächlich ist Zola im Vergleich zu den ihn umgebenden Pygmäen ein Riese.
L’argent [Das Geld], sein jüngster und vielleicht bedeutendster Roman stellt alle seine Vorzüge und Fehler ins helle Licht.
1. * Deutsche Version in der Neuen Zeit, X (1891-1892), 4ff., 41ff., 76ff., 101ff. Bei den französischen Veröffentlichungen des Textes handelt es sich samt und sonders um Rückübersetzungen dieser deutschen Fassung, deren originaltreue (auch, was den Anmerkungsapparat betrifft) zweifelhaft ist (vgl. dazu Jean Freville im Vorwort zu Paul Lafargue: Critques littéraires [Paris 1936, VIII]).
Zur Entstehungsgeschichte der Studie siehe Lafargues Briefe an Karl Kautsky vom 17., 21., 22. und 30. April 1891 (Kautsky-Archiv/IISG, DXV, 62-168).
2. * Die stets gemeinsam publizierenden Brüder Edmond Huot de (1822-1896) und Jules Huot de Goncourt (1830-1870) waren mit ihren minuziösen Dokumentationen („document humain“) der Wirklichkeit Wegbereiter des Naturalismus.
3. * Der Schauspieler André Antoine, ein Angestellter Zolas, gründete 1887 das „Théâtre libre“; auf ihm wurden Zolas Dramen (und die der anderen Naturalisten) aufgeführt. Nach diesem Vorbild erfolgte zwei Jahre später folgte die Gründung der „Freien Bühne“ in Berlin.
4. Die Mitglieder der Académie française werden bekanntlich als Unsterbliche bezeichnet.
5. * Die von Edmond Huot de Goncourt tatsächlich testamentarisch ins Leben gerufene „Academie Goncourt“ besteht aus zehn Schriftstellern, die nicht der Académie française angehören dürfen und verleiht seit 1903 den „Prix Goncourt“.
6. Die Verzopftheit des Stils ist soweit getrieben worden, daß sich sogar Goncourt gezwungen sah, dagegen zu protestieren: „Es wird behauptet“, sagt er, „daß man schlecht schreibt, wenn in einem Satz zwei einander regierende ‚de [von, mit]‘ vorkommen, wie dies zum Beispiel in dem berühmten Satz der Fall ist, der Flaubert zu Verzweilfung brachte: ‚une couronne de fleurs d’orangers [ein Kranz von Orangenblüten]‘. Man schreibt schlecht, wenn man in einem Satz, ziemlich nahe beieinander, zwei Worte gebraucht, die mit derselben Silbe beginnen. Man ist noch weiter gegangen und hat erklärt, daß man einen Satz nicht mit einem einsilbigen Wort anfangen dürfe, da die beiden armen Buchstaben nicht der würdige Mittelpunkt eines großen Satzes, einer ganzen Periode wären (Journal [*Tagebuch] de Goncourt, tome [*Band] V, 1891) [*145 / Reprint unter dem Titel Journal – Mémoires de la vie littérature, Paris 1856 (3 Bände)]“.
7. * Von Charles Sorel Sieur de Souvignys (1602-1674) Werk ist vor allem der pikareske Sittenroman La vraye histoire comique de Françion [Wahrhaftige und lustige Historie vom Leben des Françion] heute noch bekannt.
8. * Vom vielbändigen Werk des Abbé Prevost (1697-1763) ist lediglich die packende Geschichte von Liebe und Tod der Kurtisane Manon Lescaut bekannt geblieben (Reprint: Stuttgart 1977).
9. Balzac, der ein Schüler des großen Naturforschers Geoffroy de Saint Hilaire war, und sich selbst „Doktor der Sozialwissenschaften“ titulierte, spricht in der Vorrede zur Comédie humaine [menschlichen Komödie] von seinem Plan, „eine Naturgeschichte der Menschheit“ zu schreiben. -Am Ende des vorigen Jahrhunderts wollte der fruchtbare Romanschriftsteller Restif de la Bretonne „Buffons Werk fortführen und eine Naturgeschichte schreiben“. Er sprach nicht bloß von einem experimentellen Roman, sondern stellte auch wirklich Experimente an. „Ich bin“, schrieb er, „manchmal dem Vergnügen nachgegangen, aber ich darf wohl behaupten, daß alle meine Ausgaben dafür als nützliche bezeichnet werden können. Um über gewisse Gegenstände schreiben zu können war ich gezwungen, mich zu belehren, und man kann sich nur durch die eigenen Erfahrung vollkommen belehren“ (*Monsieur Nicolas, 1, 236f.).
Restif trieb den Realismus so weit, daß er seinen Romanen ganze Liebesbriefe einfügte, Antworten auf zarte Episteln, die er nur zu dem Zweck geschrieben hatte, solche „menschliche Dokumente“, wie sich die neue Schule ausdrückte, zu provozieren.
Bereits im 18. Jahrhundert formulierte Crébellion die Theorie des experimentellen und naturalistischen Romans, welche Zola erfunden zu haben glaubt. Er sagt in Les egarements du coeur et de l’esprit [Die Verirrungen des Herzens und des Geistes]: „Der von verständigen Personen – und zwar oft zu Recht – so verachtete Roman wäre vielleicht von allen literarischen Gattungen diejenige, die am nützlichsten werden könnte [...], wenn man [...], anstatt ihn mit unheimlichen, überspannten Situationen und Helden vollzupfropfen, deren Charaktäre und Abenteuer stets unwahrscheinlich sind, wenn man ihn statt dessen zum Bild des menschlichen Lebens machte [...]. Der Mensch würde dann den Menschen so sehen, wie er wirklich ist, man würde ihn weniger blenden, aber dafür mehr belehren“ (*Œuvres, 1772, 1, V-VI).
* Der Buchdrucker, Schriftsteller und Pornograph Nicolas Restif de la Bretonne (1734-1806) gilt mit seinem über 200 Bände umfassenden Werk als der typische Vertreter des intellektuellen Proletariats der Aufklärung. Der zu den Aufklärern gehörende Graf Buffon (George Lois de Leclerc [1707-1788]) verfaßte umfangreiche botanische, zoologische und geologische Werke in klassizistischer Sprache. Françoise Crébellion lebte von 1707-1777.
10. Henry Fielding (1707-1754) verfaßte 1748 seine History of Tom Jones, foundling [Geschichte vom Findelkind], ein von Homer und Cervantes inspiriertes „komisches Epos in Prosa“.
11. * Tobias Smollet (1721-1771) verfaßte 1748 Roderick Random, ein Roman voller derber Spässe und grotesker Charaktäre.
12. * Francesco Gomez de Quevedo y Viilégas (1580-1645) verfaßte den Schelmenroman Buscón [Der Spitzbube].
13. * Miguel de Cervantes Saavedras (1547-1616) Roman Don Quijote ist ein Unterhaltungsbuch, das durch seine vielfältigen Auslegungsmöglichkeiten zum Angelpunkt der spanischen Literatur wurde.
14. * Inigo Lopez de Mendoza Marqués de Santillana (1398-1458) war Staatsmann, Heerführer und Schriftsteller. Sein Schelmenroman wurde vom Papst auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt.
15. Der Botin ist das Pariser Adreßbuch (*heute Telephonbuch).
16. L’Assommoir [Der Totschläger] dreht sich um die Erblichkeit des Akoholismus. Der Held des Romans, seines Zeichens Dachdecker, ist ein ausgezeichneter Arbeiter, ein ordentlicher Mensch, guter Gatte und Vater, aber der Hang zu Trunksucht schlummert in ihm. Er weiß das und meidet mit äußerster Vorsicht jede Gelegenheit, welche die verhängnisvolle Neigung entwickeln könnte. Er besucht nie die Schenke, sein Leben ist mustergültig. Da passiert ihm einer jener Unfälle, wie sie in seinem Gewerbe so häufig vorkommen: Als er nach seiner kleinen Tochter schauen will, stürzt er vom Gerüst und renkt sich die Schuler aus. Während der unfreiwilligen Muße, die eine Folge seines Sturzes ist, fängt er an, die Weinstuben zu besuchen, um sich die Zeit totzuschlagen, und die in ihm schlummernde Leidenschaft entwickelt sich nun plötzlich mit rasender, unwiderstehlicher Gewalt: Er wird zu einem Trunkenbold der übelsten Sorte. Das ist etwas an den Haaren herbeigezogen, doch es ist möglich.
Wenn man sich aber in die Rolle eines Beobachters versetzt, dann hätte man eine andere Beobachtung machen müssen. Der Genuß des Alkohols ist für die moderne Arbeiterklasse zur Notwendigkeit geworden; in den Industriezentren steigt sein Verbrauch Schritt für Schritt mit der industriellen Entwicklung. Die kapitalistische Produktion zwingt den Arbeiter beinahe, im Alkohol eine augenblickliche künstliche Belebung und Stärkung seiner Kräfte zu suchen. Die Art und Weise mancher Beschäftigungen bringt es mit sich, daß die Notwendigkeit des Alkoholgenusses für die in ihnen tätigen Arbeiter ganz besonders stark merkbar ist. Andere Kategorien von Arbeitern treibt ein anderer Umstand dem Alkoholismus in die Arme. Die Dachdecker, Buchdrucker, Zimmermaler zum Beispiel werden bei uns nicht für die Woche, sondern für den Tag, den halben Tag oder sogar stundenweise eingestellt. Meist ist es ein glücklicher Zufall, der ihnen Beschäftigung bringt, und diesen glücklichen Zufall warten sie notgedrungen in gewissen Gastwirtschaften ab, die „pumpen“, d.h., die ihnen Speise und Getränk auf Kredit ausfolgen, ihnen wohl auch Geld vorschießen. Diese unfreiwilligen Besuche, die die Arbeiter der genannten Kategorien den Gastwirten abstatteten müssen, liefert eine so schlüssige Erklärung dafür, wie sich bei einem von ihnen die Trunksucht entwickeln kann, daß man es wahrhaftig nicht nötig hat, dabei einen Unfall eine entscheidende Rolle spielen zu lassen. Hätte Zola die Umstände, unter denen Dachdecker und andere Beschäftigung suchen müssen, die Umstände, unter denen sie angeworben werden, als äußeren, gelegentlichen Anlaß zur Trunksucht seines Helden hingestellt, so hätte er damit dem Assommoir eine soziale Tragweite verliehen, die jetzt dem Werk fehlt.
Darüber hinaus muß der Assommoir geradezu als schlechte Tat bezeichnet werden. Einige Zeiten nach der Commune, zur Zeit der schlimmsten Reaktion veröffentlicht, als der Bestand der republikanischen Staatsform noch in Frage gestellt war, wurde der Roman von den Reaktionären höchst beifällig aufgenommen. Sie machten es zu ihrer Aufgaben, seinen Erfolg zu sichern, denn sie waren überglücklich, die Arbeiterklasse, vor der sie gezittert hatten, durch die Gestalten widerlicher Säufer repräsentiert zu sehen. – Als Zola in seinem Pot-bouille [*Der häusliche Herd, auch: Ein feines Haus] den Schmutz der Bourgeoiskreise hervorholte, gerieten dieselben Elemente, die Assommoir mit Jubel begrüßt hatten, in sittlich-ästhetische Entrüstung und wehklagten in allen Tonarten, daß dieser Roman eine Entweihung der Kunst bedeute. Sie hatte sich mit innigem Wohlbehagen daran ergötzt, daß die Arbeiterklasse mit Schmutz beworfen wurde, wollten aber nichts von einer wahrheitsgetreuen Schilderung der Sitten der Bourgeoisie wissen.
* Bei L’assommoir handelt es sich um den siebenten, bei Pot-bouille um den zehnten Band der Rougon-Macquarts. L’assommoir heißt Der Totschläger; da „assommoir“ auch ein veralteter Argot-Ausdruck für „Kneipe“ ist, erschienen deutsche Ausgaben auch mit dem Titel Die Schnapsbude.
17. Im „Assommoir“ kann man die Art und Weise, wie Zola seine Romane komponiert, deutlich beobachten. Der Verfasser hat aus Zeitungen und verschiedenen Werken Redensarten zusammengetragen, die in den niederen Volksschichten üblich sind, und, um sie verwerten zu können, arrangiert er ganze Szenen. Assommoir ist nicht das Produkt unmittelbarer Beobachtungen; der Roman ist vielmehr komponiert, um die Sprache der Pariser Arbeiter ausgiebig anbringen zu können.
18. * Claude Bernard (1813-1870) war einer ersten Physilologen, der experimentell forschte.
19. * Der italienische Mediziner, Gerichtspsychiater und Anthrophologe Cesare Lombroso (1836-1909) propagierte die Theorie vom „geborenen Verbrecher“.
20. * Der belgische Astronom, Mathematiker und Statistiker Lambert Adolphe Jacques Quetlet (1796-1874) begründete die Sozialstatistik.
21. * Lafargue hat sich mit diesem Phänomen in der Studie Die Kriminalität in Frankreich 1840-1886 (in: Neue Zeit, VIII [1889-90], 11ff., 56ff., 106ff.) eingehend beschäftigt.
22. * Über Herbert Spencer (1820-1903) siehe die Studie Rousseau und die Gleichheit.
23. * Der britische Naturforscher Francis Galton (1822-1911), ein Vetter Darwins, ist der Begründer der Zwillingsforschung und gilt durch seine Schrift Herditary genius, its laws and consequences [Genie und Vererbung] als Mitbegründer der Eugenik.
24. Zola sagt in einem Buch, das er über den „experimentellen Roman“ geschrieben hat (*Le roman expérimental, Paris 1880, 12): „Die Romanschriftsteller haben zu beobachten und Experimente anzustellen, und ihre ganze Aufgabe erwächst aus dem Zweifel, in welchem sie sich angesichts wenig bekannter Wahrheiten so lange befinden, bis eine experimentelle Idee plötzlich ihr Genie weckt und sie antreibt, ein Experiment zur Analysierung und Beherrschung der Tatsachen vorzunehmen“. Dieser Satz ist in dreifacher Hinsicht verworren. Wie kann man sich im Angesicht einer Wahrheit befinden, die doch weder Kopf noch Schwanz, weder vorne noch hinten hat? Was mag wohl eine experimentelle Idee sein? Vielleicht die Idee, ein Experiment anzustellen? Und welcher Romanschriftsteller hat je mit einem menschlichen Wesen ein Experiment vorgenommen? Höchstens Restif de la Bretonne, der mit sich selbst experimentierte, wovor Zola sich wohl gehütet hat, der das ruhigste und platteste Leben eines Spießbürger führt, das man sich nur ausdenken kann.
In seinem Roman Das Geld kritisiert Zola einmal mit Recht „die psychologische Spielereien, die als Ersatz für das Klavier und die Stickereien dienen sollen“ und die der schönfärbende Bourget, der Lieblingspsychologe der Damen der Bourgeoisie, zur Mode gemacht hat. „Frau Caroline“, heißt es an derselben Stelle des Romans, „war eine Frau von klarem, gesundem Menschenverstand, sie nahm die Gegebenheiten des Lebens hin, ohne sich mit dem Versuch abzumühen, eine Erklärung für die tausend vielschichtigen Ursachen zu finden. Die Zergliederung von Herz und Hirn, diese verfeinerte, haarspalterische Analyse war in ihren Augen nur eine Zerstreuung für unbeschäftigte Weltdamen, die keinen Haushalt zu führen und kein Kind zu lieben hatten, die nach Entschuldigungen für ihre Fehltritte suchten und mit ihrer Wissenschaft von der Seele die Begierden des Fleisches bemäntelten, die den Herzoginnen und Kellnerinnen gemeinsam sind“ (*zit. nach Émile Zola: Das Geld, hrsgg. von Rita Schober, Gütersloh-Stuttgart-Wien o.J., 237)
Zola legt hier Frau Caroline seine eigene Philosophie in den Mund. Wie er selbst, so verwechselt auch sie das sich für Psychologie ausgebende sentimentale Geschwätz der Salondamen über ihre angenehmen Schwächen mit der Erforschung der komplizierten Ursachen der Phänomene.
* Paul Bourget (1852-1935) verfaßte1886 Nouveaux essais de psychologie contempraine [Neue Essays zur zeitgenössischen Psychologie].
25. * Siehe Die Metamorphosen der Tiere; in: Gedichte III (Goethes Werke 2/6), Wien o.J., 124.
26. * Gustave Flaubert (1821-1880), ein Klassiker des französischen Romans.
27. * Hauptfigur des Romans Le père Goriot [Vater Goriot] (Paris 1834/1835).
28. * Père Grandet ist eine Figur aus Balzacs Roman Eugénie Grandet (Paris 1834).
29. * Balthasar Claëz ist eine Figur aus Balzacs Roman La recherche de l’absolu [Die Suche nach dem Absoluten, auch: Der Alchemist] (Paris 1834).
30. * Celestine Crevel und Baron Hulot d’Ervy sind Figuren aus Balzacs Roman La cousine Bette [Kusine Lisbeth, auch: Tante Lisbeth] (Paris 1846).
31. * Aischylos von Eleusis (525-455) ist der Vertreter der klassischen griechischen Tragödie.
32. * Ludovic Halèvy (1834-1908) schrieb Lustspiele und Operettenlibretti (u.a. für Jacques Offenbach).
33. * Le roman expérimental, Paris 1880, 342
34. * Der deutsche Text verwendet hier den Begriff „Riesenmagazine“; wie aus dem Sinnzusammenhang ersichtlich, handelt es sich dabei offensichtlich um eine falsche Übersetzung von „magasin grand“.
35. Ein belgischer Romancier, Camille Lemonnier (*1844-1913), der die französische Sprache mit besonderer Virtuosität mißbraucht, ausrenkt und verrenkt, hat soeben aus einem seiner Romane, Un mâle [Der Mann], der einen großen literarischen Erfolg hatte, eine Drama in vier Akten gemacht. Dieser Roman erzählt die Liebesgeschichte eines Wilddiebes, und es muß dem Autor schwer gefallen sein, zum Helden einen „outlaw“, einen außerhalb der Gesetze stehenden Menschen zu wählen, der von stürmischen Leidenschaften bewegt wird und einen erbitterten Kampf gegen die Autoritäten und gegen das Eigentum führt. Der Wilddieb symbolisiert die Erde. Und um das Drama durch einen heiteren Ton zu beleben, fügte der Autor eine Szene aus Henri Monnier ein – die modernen Schrifsteller selbst sind nämlich traurig wie orientalische Klageweiber – , die darstellt, wie zwei Bauern einen Kuhhandel abschließen, miteinander um den Preis feilschen und sich gegenseitig übers Ohr hauen. Die Szene erregte Heiterkeit und Lachen. Die Konsequenz davon war, daß Lemonnier bedauerte, sie in sein Drama aufgenommen zu haben. Sein Protest gegen ihre Akzeptanz durch das Publikum enthält eine für die neue literarische Schule charakteristische Stelle:
„Dies ist“, äußert er sich, „eine Konzession an die aktuelle Mode, an den Geschmack des Publikums für das Materielle, für die Handlung voller Bewegung und Lärm [...]. Diese Handlung bleibt meines Erachtens der wunde Punkt des Stückes, denn sie stört die innige Harmonie zwischen der Erde und dem Geschöpf. Man mußte jedoch die Handlung dulden und sich mit der Hoffnung auf bessere Zeiten trösten, in denen es möglich sein wird, ein Stück ohne Handlung zu schreiben, das nur aus Nuancierungen, Bildern und schneller Entwicklung von Gefühlen und Gedanken besteht, ein Stück, welches das einheitlich und einfache Leben ohne die Verwicklungen darstellt, die wir darin anzubringen für nötig erachten“.
* Henri Monnier (1799-1877) schuf in den von ihm selbst illustrierten Dialogen die Figur des Joseph Prudhomme, den Prototyp des Spießbürgers seiner Tage.
36. * Nach der griechischen Sage wurde dem König von Kreta ein Kind mit Stierkopf geboren, der Minotauros, den er in einem Labyrinth einschloß. Alljährlich mußten die Athener dem König als Tribut neun Jünglinge und neun Jungfrauen liefern, die dem Minotauros geopfert wurden.
37. * Nach Meinung Blaise Pascals (1623-1662) gibt es auf die durch Mathematik und Rationalismus nicht beantwortbaren Fragen nur eine Antwort, die Gnade des subjektiven Erlebnisses mystischer Gottesbezeugung.
38. * Der Literaturhistoriker Ferdinand Brunetière (1849-1906) vertrat gegenüber den Naturalisten die klassische Tradition.
39. * Als Advokat und radikaler Abgeordneter bekämpfte Lèon Gambetta (1838-1882) das zweite Kaiserreich. Nach dessen Sturz 1870 hatte er in der Regierung der nationalen Einheit die Funktionen des Innen-, später auch Kriegs- und Finanzminister inne und war an der Niederschlagung der Commune beteiligt. 1871 Rücktritt aus der Regierung, parlamentarische Tätigkeit als Führer der gemäßigten Republikaner.
40. * Vielleicht ist hier der Schriftsteller und Communarde Jules Vallés (1832-1885) gemeint.
41. „Peindre de chic“ bedeutet nicht nach der Natur, sondern nach Erinnerungen und Beschreibungen malen.
42. * Für den 17. Band der Rougon-Macquarts: La bête humaine [Die Bestie im Menschen].
43. * Für den 11. Band der Rougon Macquarts: Au bonheur des dames.
44. Die Beauce ist die südlich von Paris gelegene Hochebene, auf der besonders Getreideanbau betrieben wird.
45. * Für den 15. Band der Rougon Macquarts: La terre [Die Erde]“
46. * Der Dramatiker Augustin Eugenè Scribe (1791-1861) schrieb über 400, den Erwartungen eines breiten Publikums entsprechende Bühnenstücke.
47. * Jean-François Millet (1814-1857) teilte die realistische Naturauffassung, überhöhte sie jedoch durch Zeitlosigkeit und Distanz seiner Darstellung.
48. * Maurice Rollinat (1846-1903), Schriftsteller.
49. * Paul Alexis (1847-1901), Schriftsteller.
50. Émile Zola – Notes d’un ami – Avec des vers inédits de Émile Zola [*Émile Zola – Notizen eines Freundes] par[*Paul] Alexis [*Paris 1882, Abschnitt „méthode de travial“, 156ff.]
51. * Thomas Otway (1652-1685) war zunächst Soldat und Schauspieler. Als Schriftsteller schrieb er von Racine beeinflußte Tragödien.
52. Wir lassen an dieser Stelle das von Brunetière aufgedeckt Plagiat folgen, weil es charakteristisch ist. In Nana ist zu lesen:
„Manchmal war er [Nanas Liebhaber (*Muffat)] ein Hund. Sie warf im ihr parfümiertes Taschtuch in die äußerste Ecke des Raumes, und er mußte, auf Händen und Knien kriechend, hinlaufen und es mit den Zähnen aufheben.
‚Apport, César! – Warte, du kriegst gleich was ab, wenn du bummelst! – So ist’s schön, César! Brav! Artig! Mach schön!‘
Und er liebte seine Niedrigkeit und kostete den Genuß aus, ein Vieh zu sein . Er lechzte danach, noch tiefer zu sinken und schrie:
‚Schlag stärker zu! – Hu, hu! Ich bin tollwütig, schlag doch zu!‘“ (*zit. nach Nana, München 1981, 381-382 [13. Kapitel]).
In dem berühmten Werk Thomas Otways Das gerettete Venedig [*Venice preserv’d, 1682] ist der Senator Antonio der Liebhaber einer Kurtisane namens Aquilina.
„Sie jagt ihn fort, nennt ihn einen Idioten, sagt ihm, daß das einzig Gute an ihm sein Geld sei.
‚Ich bin also ein Hund?‘
‚Jawohl, ein Hund Monsignor!‘
Darauf kriecht er unter den Tisch und bellt.
‚Wie, Du beißt! Dafür sollst Du Fußtritte bekommen‘.
‚Was tut’s! Ich lasse sie mir herzlich gerne gefallen! Fußtritte will ich! Noch mehr Fußtritte! Wau, wau, wau! Stärker, so schlag doch stärker!‘“
Zola hat diesen Zug zur hündischen Unterwerfung nicht durch die Lektüre von Otways Werk selbst gefunden, sondern der Histoire de la littérature anglaise [Geschichte der englischen Literatur] von (*Hippolyte) Taine (3, 656) entnommen.
53. * Théodore Agrippa d’Aubingé (1552-1630) war literarischer Wortführer der Hugenotten und Waffengefährte des späteren Königs Heinrich IV.
54. * Anspielung auf die „Pfahlbürgerschaft“ im Mittelalter (Leibeigene, die hinter die Palisaden der ersten Städte flüchten konnten, galten als freie Bürger).
55. Die Goncourts erzählen in ihrem Journal (*V, 28) folgendes Geständnis Turgenews (*Iwan Sergejewitsch [1818-1883], Vertreter des russsichen Realismus), das diesen literarischen Vertreter einer Epoche der Tatkraft treffend charakterisiert:
„Und da Flaubert und ich die Bedeutung der Liebe für den wissenschaftlich gebildeten Mann bestritten, ließ der russische Schriststeller mit einer Bewegung die Arme herabsinken und rief: ‚Was mein Leben anbetrifft, so hat darin das weibliche Geschlecht eine große Rolle gespielt! Weder Bücher, noch irgend etwas auf der Welt hat mir die Frau ersetzen können [...]. Wie soll ich Euch das sagen? Ich finde, daß die Liebe allein ein gewisses Aufblühen des Menschen zur Folge hat, das durch nichts anderes bewirkt werden kann, nicht? [...] Seht, ich habe als ganz junger Mann eine Müllerin aus der Umgebung von Petersburg geliebt; ich traf mit ihr auf meinen Jagden zusammen. Sie war allerliebst, ganz weiß und hatte einen dunklen Strich im Auge, was bei uns häufig vorkommt. Sie wollte nie etwas von mir annehmen. Eines Tages jedoch sagte sie zu mir:
‚Du mußt mir ein Geschenk machen [...]. Bringe mir aus St. Petersburg ein Stück wohlriechende Seife mit‘.
Das nächst Mal bringe ich ihr die Seife mit, sie verschwindet, kommt mit vor Erregung rosig angehauchten Wangen zurück und murmelt mir ins Ohr, während sie mir ihre wohlriechenden Hände entgegenstreckt:
‚Küsse mir die Hände, wie Du in den Salons die Hände der St. Petersburger Damen küßt‘.
Ich kniete nieder vor ihr [...] und ich kann Euch sagen, daß kein anderer Augenblick meines Lebens diesen Moment aufwiegt“.
* Iwan Turgenjew war der Vermittler und Förderer Zolas in Rußland.
56. * Aurelien Scholl (1833-1902), überaus begabte Caféhausliteratin.
57. * Nana ist der neunte Band der Rougon Macquarts.
Zuletzt aktualisiert am 6.2.2004