Paul Lafargue

 

Karl Marx, Persönliche Erinnerungen

(September 1890)


In: Die Neue Zeit, 9. Jahrg., l.Bd., 1890/1891, S. 10-17, 37-42.
Abgedruckt in Mohr und General, Erinnerungen an Marx und Engels, 2. Auflage, Berlin: Dietz Verlag, 1965, S. 318-47.
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Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem,
Ich werde nimmer seinesgleichen sehn.

 

I.

Es war im Februar 1865, als ich Karl Marx zum ersten Male sah. Die Internationale war am 28. September 1864 in der Versammlung der St. Martin's Hall gegründet worden: Ich kam von Paris, um ihm Nachrichten von den Fortschritten zu bringen, welche daselbst die junge Verbindung machte; Herr Tolain, heute Senator der Bourgeoisrepublik und einer ihrer Vertreter bei der Berliner Konferenz, hatte mir einen Empfehlungsbrief gegeben.

Ich zählte damals 24 Jahre; mein ganzes Leben lang werde ich den Eindruck nicht vergessen, den jener erste Besuch auf mich machte. – Marx war damals leidend und arbeitete an dem ersten Band des „Kapitals“, der erst zwei Jahre später, 1867, erschien; er befürchtete, sein Werk nicht bis zu Ende führen zu können; und er empfing mit Vergnügen junge Leute, denn, sagte er, „ich muß Männer heranbilden, die nach mir die kommunistische Propaganda fortsetzen“. Karl Marx ist einer jener seltenen Menschen, welche gleichzeitig in der Wissenschaft und der öffentlichen Tätigkeit in erster Linie stehen konnten; er verband sie so innig, daß es unmöglich ist, ihn zu verstehen, wenn man ihn nicht sowohl als Gelehrten wie auch als sozialistischen Kämpfer ins Auge faßt. Wenn er auch der Ansicht war, daß jede Wissenschaft um ihrer selbst willen gepflegt werden solle und daß man bei keiner wissenschaftlichen Forschung sich um ihre eventuellen Konsequenzen kümmern dürfe, so meinte er doch, daß der Gelehrte, wollte er sich nicht selbst herabdrücken, nie aufhören solle, am öffentlichen Leben tätigen Anteil zu nehmen und nicht immer in seiner Stube oder seinem Laboratorium eingeschlossen bleiben dürfe wie eine Ratte in ihrem Käse, ohne sich ins Leben und in die sozialen und politischen Kämpfe seiner Zeitgenossen zu mengen. „Die Wissenschaft soll kein egoistisches Vergnügen sein: diejenigen, welche so glücklich sind, sich wissenschaftlichen Zwecken widmen zu können, sollen auch die ersten sein, welche ihre Kenntnisse in den Dienst der Menschheit stellen.“ – „Für die Welt arbeiten“, war einer seiner Lieblingsaussprüche. Er war nicht durch sentimentale Erwägungen zum kommunistischen Standpunkt gelangt, obgleich er eine tiefe Sympathie für die Leiden der arbeitenden Klassen hegte, sondern durch das Studium der Geschichte und der politischen Ökonomie; er behauptete, daß jeder unparteiische Geist, der nicht von Privatinteressen beeinflußt und nicht durch Klassenvorurteile verblendet sei, unbedingt zu denselben Schlüssen gelangen müsse. Aber wenn er ohne vorgefaßte Meinung die ökonomische und politische Entwicklung der menschlichen Gesellschaft studierte, so schrieb er doch nur mit der entschiedenen Absicht, die Ergebnisse seiner Forschungen zu verbreiten, und mit dem festen und bestimmten Willen, der sozialistischen Bewegung, welche bis zu seiner Zeit in utopistischen Wolken sich verlor, eine wissenschaftliche Grundlage zu geben; öffentlich trat er nur auf, um an dem Triumph der Arbeiterklasse zu arbeiten, deren historische Mission es ist, den Kommunismus herzustellen, sobald sie zur politischen und ökonomischen Führung der Gesellschaft gelangt; so wie die zur Macht gelangte Bourgeoisie die Mission gehabt hat, die feudalen Fesseln zu sprengen, welche die Entwicklung der Landwirtschaft und der Industrie hemmten, den freien Verkehr der Produkte und Menschen, den freien Vertrag zwischen Unternehmern und Arbeitern herzustellen, die Produktions- und Tauschmittel zu zentralisieren und solchermaßen, ohne es gewahr zu werden, die materiellen und intellektuellen Elemente für die kommunistische Gesellschaft der Zukunft vorzubereiten.

Marx beschränkte seine Tätigkeit nicht auf das Land, in dem er geboren war: „Ich bin ein Weltbürger“, sagte er, „und wo ich mich befinde, dort bin ich tätig.“ In der Tat, in allen Ländern, wohin ihn die Ereignisse und die politischen Verfolgungen trieben, in Frankreich, Belgien, England, nahm er einen hervorragenden Anteil an den revolutionären Bewegungen, die sich dort entwickelten.

Aber nicht als der unermüdliche und unvergleichliche sozialistische Agitator, sondern als der Gelehrte erschien er mir zuerst in jenem Arbeitszimmer in der Maitland Park Road, wo von allen Richtungen der zivilisierten Welt die Parteigenossen zusammenströmten, um den Meister des sozialistischen Gedankens zu befragen. Dieses Zimmer ist historisch und man muß es kennen, will man in das Marxsche Geistesleben von seiner intimen Seite eindringen. Es war im ersten Stock gelegen und das breite Fenster, durch welches der Raum sein reichliches Licht erhielt, ging in den Park. Zu beiden Seiten des Kamins und dem Fenster gegenüber waren an den Wänden Bücherschränke, die mit Büchern gefüllt und bis zur Decke mit Zeitungspaketen und Manuskripten überladen waren. Gegenüber dem Kamin und an einer Seite des Fensters standen zwei Tische voll mit Papieren, Büchern und Zeitungen; in der Mitte des Raumes und im günstigsten Lichte befand sich der sehr einfache und kleine Arbeitstisch (3 Fuß lang, 2 Fuß breit) und der Lehnstuhl aus Holz; zwischen dem Lehnstuhl und dem Bücherschrank, dem Fenster gegenüber, stand ein Ledersofa, auf dem Marx sich von Zeit zu Zeit ausstreckte, um zu ruhen. Auf dem Kamin lagen noch Bücher, dazwischen Zigarren, Zündhölzchen, Tabaksbehälter, Briefbeschwerer, Fotografien seiner Töchter, seiner Frau, Wilhelm Wolffs und Friedrich Engels'. Er war ein starker Raucher: „Das ,Kapital' wird mir nicht einmal so viel einbringen, als mich die Zigarren gekostet, die ich beim Schreiben geraucht“, sagte er mir; aber er war ein noch größerer Zündhölzchenverschwender: Er vergaß so oft seiner Pfeife oder Zigarre, daß, um sie immer wieder anzuzünden, die Zündholzschächtelchen in unglaublich kurzer Zeit geleert wurden. Marx erlaubte niemandem, seine Bücher Und Papiere in Ordnung oder eigentlich in Unordnung zu bringen; die herrschende Unordnung war auch nur scheinbar: alles war eigentlich auf seinem gewünschten Platze und ohne zu suchen, nahm er immer das Buch oder Heft, dessen er eben bedurfte; selbst während des Plauderns hielt er oft inne, um ein eben erwähntes Zitat oder eine Ziffer im Buche selbst nachzuweisen. Er war eins mit seinem Arbeitszimmer, dessen Bücher und Papiere ihm ebenso gehorchten wie seine eigenen Glieder. In der Aufstellung seiner Bücher war keine äußerliche Symmetrie maßgebend: Quart- und Oktavbände und Broschüren standen dicht nebeneinander; er ordnete die Bücher nicht nach ihrer Größe, sondern nach ihrem Inhalt. Die Bücher waren ihm geistige Werkzeuge und nicht Luxusgegenstände. „Sie sind meine Sklaven und sollen mir nach meinem Willen dienen.“ – Er mißhandelte sie ohne Rücksicht auf ihr Format, ihren Einband, die Schönheit des Papiers oder Druckes; bog die Ecken ein, bedeckte die Ränder mit Bleistiftstrichen und unterstrich ihre Zeilen. Er notierte nichts hinein, doch konnte er sich manchmal ein Ausrufungs- oder Fragezeichen nicht versagen, wenn ein Autor über die Schnur haute. Das Unterstreichungssystem, dessen er sich bediente, erlaubte ihm, mit größter Leichtigkeit die gesuchte Stelle in einem Buche wiederzufinden. Er hatte die Gewohnheit, nach jahrelangen Pausen immer wieder seine Notizbücher und die in seinen Büchern bezeichneten Stellen zu lesen, um sie gut in seinem Gedächtnis zu behalten, das von einer außerordentlichen Schärfe und Genauigkeit war. Nach Hegels Rat hatte er es von Jugend an durch das Auswendiglernen von Versen in einer von ihm nicht gekannten Sprache geschärft. Heine und Goethe, die er oft im Gespräche zitierte, wußte er auswendig; er las stets Dichter, die er aus allen europäischen Literaturen wählte; jedes Jahr las er Äschylus im griechischen Urtext; ihn und Shakespeare verehrte er als die beiden größten dramatischen Genies, welche die Menschheit hervorgebracht. Shakespeare, für den seine Verehrung unbegrenzt war, hatte er zum Gegenstand eingehendster Studien gemacht; er kannte auch seine geringfügigsten Figuren. In der ganzen Familie wurde mit dem großen englischen Dramatiker ein wahrer Kultus getrieben; seine drei Töchter wußten ihn auswendig. Als er nach dem Jahre 1848 sich in der englischen Sprache, in der er früher schon lesen konnte, vervollkommnen wollte, suchte und ordnete er alle Shakespeare eigentümlichen Ausdrücke; dasselbe tat er mit einem Teil des polemischen Werks von William Cobbett, den er sehr hochschätzte. Dante und Burns gehörten zu seinen Lieblingsdichtern; es machte ihm große Freude, wenn er seine Töchter die Satiren oder Liebesgedichte des schottischen Poeten vortragen oder singen hörte.

Cuvier, ein unermüdlicher Arbeiter und ein Großmeister der Wissenschaft, hatte in dem Museum von Paris, dessen Direktor er war, eine Reihe von Arbeitsgemächern für seinen persönlichen Gebrauch herstellen lassen. Jeder Raum war für eine besondere Art der Beschäftigung bestimmt und enthielt die dazu notwendigen Bücher, Instrumente, anatomischen Behelfe etc. Wenn er sich von einer Arbeit ermüdet fühlte, so trat er in den benachbarten Saal und widmete sich einem andern Studium; dieser einfache Wechsel in der geistigen Beschäftigung bedeutete, wie man erzählt, für ihn ein Ausruhen. Marx war ein ebenso unermüdlicher Arbeiter wie Cuvier, aber er hatte nicht wie dieser die Mittel, sich mehrere Arbeitskabinette einzurichten. Er ruhte aus, indem er im Zimmer auf und ab schritt; von der Tür bis zum Fenster zeigte sich auf dem Teppich ein total abgenutzter Streifen, der so scharf begrenzt war wie ein Fußpfad auf einer Wiese. Zuweilen streckte er sich auf das Sofa und las einen Roman; er las bisweilen an zweien bis dreien zugleich, die er abwechselnd vornahm : wie Darwin war auch er ein großer Romanleser. Marx liebte namentlich diejenigen aus dem 18. Jahrhundert und besonders den „Tom Jones“ von Fielding; die modernen Schriftsteller, die ihn am meisten unterhielten, waren Paul de Kock, Charles Lever, Alexander Dumas Vater und Walter Scott – dieses letzteren „Old Mortality“ bezeichnete er als ein Meisterwerk. Für abenteuerliche und humoristische Erzählungen zeigte er eine ausgesprochene Vorliebe. An die Spitze aller Romanciers stellte er Cervantes und Balzac. „Don Quijote“ war für ihn das Epos des aussterbenden Rittertums, dessen Tugenden in der eben entstehenden Bourgeoiswelt zu Lächerlichkeiten und Narreteien wurden. Für Balzac war seine Bewunderung so groß, daß er eine Kritik über dessen großes Werk „La comédie humaine“ schreiben wollte, sobald er nur sein ökonomisches Werk vollendet hatte: Balzac war nicht nur der Historiker der Gesellschaft seiner Zeit, sondern auch der Schöpfer prophetischer Gestalten, die unter Louis-Philippe sich noch im embryonalen Zustande befanden und erst nach seinem Tode, unter Napoleon III., sich vollständig entwickelten.

Marx las alle europäischen Sprachen und schrieb drei, Deutsch, Französisch und Englisch, zur Bewunderung der dieser Sprachen Kundigen; er wiederholte gern den Ausspruch: „Eine fremde Sprache ist eine Waffe im Kampf des Lebens.“ Er besaß ein großes Sprachtalent, das sich auch auf seine Töchter vererbte. Er war schon 50 Jahre alt, als er noch daran ging, Russisch zulernen, und trotzdem diese Sprache in keinem nahen etymologischen Zusammenhang mit den von ihm gekannten alten und modernen Sprachen steht, war er ihrer doch nach sechs Monaten schon so weit mächtig, um sich an der Lektüre der russischen Poeten und Schriftsteller erfreuen zu können, die er besonders schätzte: Puschkin, Gogol und Schtschedrin. Der Grund, weshalb er Russisch lernte, war, die Dokumente der offiziellen Untersuchungen, welche die Regierung wegen ihrer schrecklichen Enthüllungen unterdrückte, lesen zu können; ergebene Freunde hatten sie Marx verschafft, der sicher der einzige politische Ökonom Westeuropas ist, zu dessen Kenntnis sie gelangten.

Marx hatte neben den Poeten und Romanciers noch ein anderes sehr merkwürdiges Mittel, um geistig auszuruhen; das war die Mathematik, für die er besondere Vorliebe hegte. Die Algebra gewährte ihm sogar einen moralischen Trost; zu ihr nahm er seine Zuflucht in den schmerzlichsten Momenten seines bewegten Lebens. Während der letzten Krankheit seiner Frau war es ihm unmöglich, sich in gewohnter Weise mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten zu beschäftigen; er konnte dem Druck, den die Leiden seiner Gefährtin auf sein Gemüt ausübten, nur entfliehen, wenn er sich in die Mathematik versenkte. Während dieser Zeit seelischen Schmerzes schrieb er eine Arbeit über die Infinitesimalrechnung, die nach den Mitteilungen von Mathematikern, die sie kennen, sehr bedeutend sein soll und in seinen gesammelten Werken veröffentlicht werden wird. In der höheren Mathematik fand er die dialektische Bewegung in ihrer logischsten und zugleich einfachsten Form wieder ; seiner Meinung nach war auch eine Wissenschaft erst dann wirklich entwickelt, wenn sie dahin gelangt war, sich der Mathematik bedienen zu können. Marx' Bibliothek, die mehr als tausend Bände enthielt, welche er im Laufe eines langen Lebens der Forschung sorgfältig gesammelt hatte, genügte ihm nicht, und durch Jahre war er ein eifriger Besucher des Britischen Museums, dessen Katalog er sehr hoch anschlug. Selbst seine Gegner haben sich gezwungen gesehen, sein ausgedehntes und tiefes Wissen anzuerkennen, das er nicht nur in seinem eigenen Fache, der politischen Ökonomie, besaß, sondern auch in der Geschichte, Philosophie und den Literaturen aller Länder.

Obgleich er sich immer erst zu sehr vorgerückter Stunde zu Bett begab, war er doch stets zwischen acht und neun Uhr morgens auf den Beinen, nahm seinen schwarzen Kaffee, durchlas seine Zeitungen und ging dann in sein Arbeitszimmer, wo er bis zwei oder drei Uhr nachts arbeitete. Er unterbrach sich nur, um seine Mahlzeiten einzunehmen und des Abends, wenn es das Wetter erlaubte, einen Spaziergang nach Hampstead Heath zu machen; unter Tags schlief er eine oder zwei Stunden auf seinem Kanapee. In seiner Jugend hatte er die Gewohnheit, ganze Nächte bei der Arbeit zu durchwachen. Das Arbeiten war bei Marx zur Leidenschaft geworden; es absorbierte ihn so, daß er oft des Essens darüber vergaß. Zu den Mahlzeiten mußte man ihn nicht selten wiederholt rufen, bis er in das Speisezimmer herunterkam; und kaum hatte er den letzten Bissen gegessen, als er schon wieder sein Zimmer aufsuchte. Er war ein sehr schwacher Esser und litt sogar an Appetitlosigkeit, die er durch den Genuß von scharf gesalzenen Speisen, Schinken, geräucherten Fischen, Kaviar und Pickles zu bekämpfen suchte. Sein Magen mußte für die kolossale Gehirntätigkeit büßen. Seinen ganzen Körper opferte er seinem Gehirn auf: Das Denken war ihm höchster Genuß. Oft habe ich ihn den Ausspruch Hegels, des Meisters der Philosophie seiner Jugend, wiederholen gehört: „Selbst der verbrecherische Gedanke eines Bösewichts ist großartiger und erhabener als die Wunder des Himmels.“

Sein Körper mußte wohl von kräftiger Konstitution sein, um dieser ungewöhnlichen Lebensweise und dieser erschöpfenden geistigen Arbeit gewachsen zu sein. Er war auch in der Tat sehr kräftig, seine Größe ging über das Mittelmaß, die Schultern waren breit, die Brust gut entwickelt, die Glieder wohlproportioniert, obgleich die Wirbelsäule im Vergleich zu den Beinen etwas zu lang war, wie dies bei der jüdischen Rasse häufig zu finden ist. Hätte er in seiner Jugend viel Gymnastik getrieben, so wäre er ein äußerst kräftiger Mensch geworden. Die einzige Leibesübung, die er regelmäßig betrieben hatte, war das Gehen; er konnte stundenlang plaudernd und rauchend marschieren oder Hügel ersteigen, ohne die geringste Müdigkeit zu verspüren. Man kann behaupten, daß er in seinem Kabinett gehend arbeitete; er setzte sich nur in kurzen Zwischenräumen nieder, um das, was er während des Gehens ausgedacht, niederzuschreiben. Er liebte es auch sehr, im Gehen zu plaudern, indem er von Zeit zu Zeit stehenblieb, wenn die Erörterung lebhaft oder das Gespräch wichtig wurde. Jahre hindurch begleitete ich ihn auf seinen abendlichen Spaziergängen nach Hampstead Heath; bei diesen Gängen durch die Wiesen erhielt ich durch ihn meine ökonomische Erziehung. Ohne es selbst zu bemerken, entwickelte er vor mir den Inhalt des ganzen ersten Bandes des „Kapitals“ nach und nach in dem Maße, wie er ihn damals schrieb. Immer, wenn ich heimgekehrt war, schrieb ich, so gut ich konnte, das eben Gehörte nieder; im Anfange war es mir sehr schwer, dem tiefen und verwickelten Gedankengange von Marx zu folgen. Leider verlor ich diese kostbaren Notizen; nach der Kommune hat die Polizei meine Papiere in Paris und Bordeaux geplündert und gebrandschatzt. Hauptsächlich bedaure ich den Verlust jener Notizen, die ich mir an jenem Abend machte, als Marx mir mit jener Fülle von Beweisen und Reflexionen, die nur ihm eigen war, seine geniale Theorie von der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft dargelegt hatte. Es war, als zerrisse ein Schleier vor meinen Augen; zum ersten Male empfand ich klar die Logik der Weltgeschichte und konnte ich die dem Anscheine nach so widerspruchsvollen Erscheinungen der Entwicklung der Gesellschaft und der Ideen auf ihre materiellen Ursachen zurückführen. Ich war davon wie geblendet und jahrelang blieb mir dieser Eindruck. Dieselbe Wirkung hatte es auf die Madrider Sozialisten, als ich ihnen mit meinen schwachen Mitteln diese Theorie entwickelte, die großartigste der Marxschen Theorien und zweifellos eine der großartigsten überhaupt, die das menschliche Hirn je erdacht. Marx' Gehirn war mit einer unglaublichen Menge von historischen und naturwissenschaftlichen Tatsachen und philosophischen Theorien gewappnet und er verstand es ausgezeichnet, sich aller dieser in langer geistiger Arbeit gesammelten Kenntnisse und Beobachtungen zu bedienen. Man konnte ihn wann immer und über was immer für einen Gegenstand befragen und man erhielt die ausreichendste Antwort, die man wünschen konnte, und sie war immer von philosophischen Reflexionen von allgemeiner Bedeutung begleitet. Sein Gehirn glich einem Kriegsschiff, das unter Dampf im Hafen liegt; es war stets bereit, nach allen Richtungen des Denkens auszufahren. Sicherlich enthüllt uns das „Kapital“ einen Geist von erstaunlicher Kraft und hohem Wissen; aber für mich wie für alle, die Marx nahe gekannt haben, zeigt weder das „Kapital“ noch eine andere seiner Schriften die ganze Größe seines Genies und seines Wissens. Er stand hoch über seinen Werken. Ich habe mit Marx gearbeitet; ich war nur der Schreiber, dem er diktierte; aber ich hatte dabei Gelegenheit, seine Art zu denken und zu schreiben zu beobachten. Die Arbeit ging ihm leicht und doch wieder schwer vonstatten : leicht, da die das jeweilige Thema betreffenden Tatsachen und Reflexionen beim ersten Anstoß sofort in Fülle vor sein geistiges Auge traten; aber diese Fülle machte die vollständige Darlegung seiner Ideen langwierig und schwierig.

Vico sagte: „Das Ding ist nur ein Körper für Gott, der alles weiß; für den Menschen, der nur die Äußerlichkeiten erkennt, ist es bloß eine Oberfläche.“ Marx erfaßte die Dinge nach der Art des Gottes Vicos; er sah nicht bloß die Oberfläche, er drang ins Innere ein, er untersuchte alle Bestandteile in ihren Wirkungen und Rückwirkungen aufeinander; er isolierte jeden dieser Teile und verfolgte die Geschichte seiner Entwicklung. Dann ging er vom Ding auf seine Umgebung über und beobachtete die Wirkung der letzteren auf das erstere und umgekehrt; er ging zurück auf die Entstehung des Objekts, auf die Wandlungen, Evolutionen und Revolutionen, die es durchgemacht und drang schließlich bis zu seinen entferntesten Wirkungen vor. Er sah nicht ein einzelnes Ding für sich und an sich, ohne Zusammenhang mit seiner Umgebung, sondern eine ganze komplizierte, in steter Bewegung begriffene Welt; und Marx wollte das ganze Leben dieser Welt wiedergeben in seinen so mannigfachen und ununterbrochen wechselnden Wirkungen und Rückwirkungen. Die Belletristen der Schule von Flaubert und Goncourt klagen, wie schwer es sei, das genau wiederzugeben, was man sehe; und doch ist das, was sie wiedergeben wollen, nur die Oberfläche, von der Vico spricht, der Eindruck, den sie empfangen; ihre literarische Arbeit ist Spielerei, verglichen mit der von Marx; es bedurfte einer außergewöhnlichen Denkkraft, die Wirklichkeit zu erfassen, und einer nicht minder ungewöhnlichen Kunst, wiederzugeben, was er sah und gesehen haben wollte. Niemals war er mit seiner Arbeit zufrieden, immer wieder änderte er daran, und stets fand er, daß die Darstellung hinter der Vorstellung zurückbleibe. Eine psychologische Studie Balzacs, die Zola kläglich plagiiert hat, „Le Chef-d'ceuvre inconnu“, machte tiefen Eindruck auf ihn, weil sie zum Teil Gefühle beschrieb, die er selbst empfunden: Ein genialer Maler ist so von dem Drang gequält, die Dinge genauso wiederzugeben, wie sie sich in seinem Gehirn spiegeln, daß er an seinem Bild immer wieder feilt und retouchiert, bis er schließlich nichts geschaffen hat als eine formlose Farbenmasse, die jedoch in seinen befangenen Augen die vollkommenste Wiedergabe der Wirklichkeit ist.

Marx vereinigte die beiden Eigenschaften des genialen Denkers. Er verstand es unvergleichlich, einen Gegenstand in seine Bestandteile zu zerlegen und war ein Meister darin, den zerlegten Gegenstand mit allen seinen Details und seinen verschiedenen Formen der Entwicklung wiederherzustellen und deren inneren Zusammenhänge zu entdecken. Seine Beweisführung galt nicht Abstraktionen, wie Ökonomen ihm vorgeworfen haben, die unfähig sind zu denken; er wandte nicht die Methode der Geometer an, die, nachdem sie ihre Definitionen der sie umgebenden Welt entnommen, bei der Ziehung der Konsequenzen von der Wirklichkeit gänzlich absehen. Man findet im „Kapital“ nicht eine einzige Definition, nicht eine einzige Formel, sondern eine Reihe von Analysen von höchster Feinheit, die die flüchtigsten Nuancen und die unmerklichsten Gradunterschiede hervortreten lassen.

Er beginnt mit der Konstatierung der offenbaren Tatsache, daß der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, als eine ungeheure Warensammlung erscheint: die Ware, etwas Konkretes, keine mathematische Abstraktion, ist also das Element, die Zelle des kapitalistischen Reichtums. Marx hält nun die Ware fest, dreht und wendet sie nach allen Seiten, kehrt das Innere nach außen und entlockt ihr eines ihrer Geheimnisse nach dem andern, von denen die offiziellen Ökonomen nicht einmal eine Ahnung gehabt und die doch zahlreicher und tiefer sind als die Mysterien der katholischen Religion. Nachdem er die Ware von allen Seiten untersucht, betrachtet er sie in ihren Beziehungen zu ihresgleichen, im Tausch; dann geht er über zu ihrer Produktion und zu den historischen Vorbedingungen ihrer Produktion. Er betrachtet die Erscheinungsformen der Ware und zeigt, wie sie aus einer Form in die andere übergeht, wie eine notwendigerweise die andere erzeugt. Die logische Entwicklungsreihe der Phänomene ist mit so vollendeter Kunst dargestellt, daß man glauben könnte, Marx habe sie erfunden ; und doch entstammt sie der Wirklichkeit und ist eine Wiedergabe der tatsächlichen Dialektik der Ware. Marx arbeitete stets mit der äußersten Gewissenhaftigkeit; er gab keine Tatsache oder Zahl, die sich nicht auf die besten Autoritäten stützen konnte. Er begnügte sich nicht mit Mitteilungen aus zweiter Hand; er ging stets an die Quelle selbst, so mühsam das auch sein mochte; er konnte um einer untergeordneten Tatsache willen ins Britische Museum eilen, um sich aus den dortigen Büchern darüber zu vergewissern. Seine Kritiker sind auch nie imstande gewesen, ihn auf einer Unachtsamkeit zu ertappen oder ihm nachzuweisen, daß er seine Beweisführung auf Tatsachen stütze, die keine strenge Prüfung vertrügen. Diese Gewohnheit, zu den Quellen selbst aufzusteigen, hatte ihn dahin gebracht, die am wenigsten gekannten Schriftsteller zu lesen, die von ihm allein zitiert wurden. Das „Kapital“ enthält eine solche Menge von Zitaten aus unbekannten Schriftstellern, daß man meinen könnte, das geschehe, um mit der Belesenheit zu prahlen. Marx dachte anders darüber: „Ich übe historische Gerechtigkeit; ich gebe jedem, was ihm gebührt“, sagte er. Er hielt es für seine Pflicht, den Schriftsteller zu nennen, wie unbedeutend und ungekannt derselbe auch sein mochte, der eine Idee zum ersten Male geäußert oder bei dem sie ihren exaktesten Ausdruck gefunden.

Sein literarisches Gewissen war ebenso streng wie sein wissenschaftliches. Er hätte sich nicht nur nie auf eine Tatsache berufen, deren er nicht ganz sicher war, er erlaubte sich nicht einmal, über einen Gegenstand zu sprechen, ehe er ihn gründlich studiert hatte. Er veröffentlichte nichts, das er nicht wiederholt umgearbeitet hätte, bis es die ihm entsprechende Form gefunden hatte. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, unvollständig vor dem Publikum zu erscheinen. Es wäre ihm eine Marter gewesen, seine Manuskripte zu zeigen, ehe er den letzten Strich daran getan. So stark war dies Gefühl bei ihm, daß er mir eines Tages sagte, er würde lieber seine Manuskripte verbrennen als sie unvollendet hinterlassen.

Seine Arbeitsmethode stellte ihm oft Aufgaben, deren Größe der Leser seiner Schriften sich kaum vorstellt. So hatte er, um die ungefähr zwanzig Seiten im „Kapital“ über die englische Arbeiterschutzgesetzgebung zu schreiben, eine ganze Bibliothek von Blaubüchern durchgearbeitet, die die Berichte der Untersuchungskommissionen und der Fabrikinspektoren von England und Schottland enthielten; er las sie von Anfang bis zum Ende, wie die zahlreichen Bleistiftstriche bezeugen, die er darin anbrachte. Er zählte diese Berichte zu den wichtigsten und bedeutendsten Dokumenten zum Studium der kapitalistischen Produktionsweise und hegte eine so hohe Meinung von den Männern, die damit betraut waren, daß er zweifelte, ob es gelänge, in einer andern Nation Europas „ebenso sachverständige, unparteiische und rücksichtslose Männer zu finden, wie die Fabrikinspektoren Englands sind“. Er hat ihnen diese glänzende Anerkennung in dem Vorwort zu seinem „Kapital“ gezollt.

Marx schöpfte ein reiches Tatsachenmaterial aus diesen Blaubüchern, die viele Mitglieder des Unterhauses, wie des Hauses der Lords, an die sie verteilt werden, nur als Scheiben benutzen, auf die man schießt, um nach der Zahl der Seiten, die das Geschoß durchdringt, die Perkussionskraft der Waffe zu messen. Die andern verkaufen sie nach dem Gewicht; und das ist das Gescheiteste, was sie tun können; denn dieser Usus ermöglichte es Marx, sie bei einem Händler mit altem Papier in Long Acre billig zu kaufen, zu dem er sich von Zeit zu Zeit begab, um dessen Bücher und Papierabfall zu mustern. Professor Beesly erklärte, Marx sei der Mann gewesen, der die offiziellen Enqueten Englands am meisten verwertet, ja, der sie der Welt bekanntgemacht habe. Professor Beesly wußte jedoch nicht, daß vor 1845 Engels den Blaubüchern zahlreiche Dokumente entnommen hatte, die er bei der Abfassung seines Buches über die „Lage der arbeitenden Klasse in England“ verwendete.

II.

Um das Herz kennen und lieben zu lernen, das unter der Hülle des Gelehrten schlug, mußte man Marx, wenn er seine Bücher und Hefte zugeschlagen hatte, im Schoße seiner Familie und sonntagabends im Kreise seiner Freunde sehen. Er erwies sich dann als der angenehmste Gesellschafter, voll Humor und Witz, der so recht von Herzen lachen konnte. Seine schwarzen, von dichten Brauen überwölbten Augen funkelten vor Freude und spöttischer Ironie, wenn er ein witziges Wort oder eine schlagfertige Antwort hörte.

Er war ein zärtlicher, sanfter und nachsichtiger Vater. „Die Kinder müssen die Eltern erziehen“, pflegte er zu sagen. Nie hat sich in dem Verhältnis zwischen ihm und seinen Töchtern, welche ihn ungemein liebten, auch nur ein Schatten väterlicher Autorität geltend gemacht. Er befahl ihnen nie, sondern bat sie um das Gewünschte wie um eine Gefälligkeit, oder er legte ihnen nahe, das zu unterlassen, was er verbieten wollte. Und doch dürfte nur selten ein Vater mehr Gehör gefunden haben als er. Seine Töchter betrachteten ihn als ihren Freund und gingen mit ihm wie mit einem Kameraden um; sie nannten ihn nicht „Vater“, sondern „Mohr“, ein Spitzname, den er wegen seines brünetten Teints und seines ebenholzschwarzen Haupt- und Barthaares erhalten. Dagegen nannten ihn die Mitglieder des Kommunistenbundes vor 1848 „Vater Marx“, obgleich er damals noch nicht sein dreißigstes Lebensjahr erreicht hatte. Er brachte stundenlang damit zu, mit seinen Kindern zu spielen. Diese erinnern sich noch jetzt der Seeschlachten und Brände ganzer Flotten von Papier Schiffchen, welche er für sie fabrizierte, und die er dann zu ihrem hellen Jubel in einem großen Wassereimer den Flammen überlieferte. Sonntags ließen seine Töchter nicht zu, daß er arbeitete, er gehörte ihnen dann für den ganzen Tag. Bei schönem Wetter brach die ganze Familie zu einem langen Spaziergang über Land auf, unterwegs ward in einfachen Schenken haltgemacht, um Ingwerbier zu trinken und Brot mit Käse zu verspeisen. Als seine Töchter noch klein waren, verkürzte er ihnen den langen Weg, indem er ihnen nicht enden wollende phantastische Feenmärchen erzählte, die er beim Gehen erfand, und deren Verwicklungen er der Länge des Weges entsprechend weiterspann und steigerte, so daß die Kleinen über dem Zuhören ihre Müdigkeit vergaßen. Marx besaß eine unvergleichlich reiche poetische Phantasie ; seine literarischen Erstlingswerke waren Poesien. Frau Marx bewahrte sorgfältig die Jugendverse ihres Mannes auf, zeigte dieselben jedoch niemand. Die Familie Marx hatte für ihren Sohn die Laufbahn eines Literaten oder Professors erträumt, ihres Erachtens nach erniedrigte er sich dadurch, daß er sich der sozialistischen Agitation hingab und sich mit der damals in Deutschland noch geringgeschätzten Nationalökonomie beschäftigte. – Marx hatte seinen Töchtern versprochen, für sie ein Drama zu schreiben, dessen Sujet die Gracchen sein sollten. Leider konnte er sein ihnen gegebenes Wort nicht halten: es wäre interessant gewesen, zu sehen, wie der, den man den „Ritter des Klassenkampfs“ genannt, diese furchtbare und großartige Episode aus dem Klassenkampf der antiken Welt behandelt hätte. Marx trug sich mit vielen Plänen, die nicht verwirklicht worden sind. Er beabsichtigte unter anderem, eine Logik und eine Geschichte der Philosophie zu schreiben, welch letztere in der Jugendzeit sein Lieblingsstudium gewesen war. Er hätte hundert Jahre leben müssen, um seine schriftstellerischen Pläne ausführen und die Welt mit einem Teil der Schätze beschenken zu können, die sein Gehirn barg.

Sein ganzes Leben hindurch war ihm seine Frau eine Gefährtin im wahrsten und vollsten Sinne des Worts. Beide hatten sich als Kinder kennengelernt und waren miteinander aufgewachsen. Marx zählte nicht mehr als 17 Jahre, als er sich verlobte. Die jungen Leute warteten sieben Jahre, ehe sie sich 1843 verheirateten, und von da an haben sie sich nie mehr getrennt. Frau Marx ist kurze Zeit vor ihrem Manne gestorben. Niemand hat je in höherem Maße das Gefühl der Gleichheit besessen als Frau Marx und dies, obgleich sie in einer deutschen Aristokratenfamilie geboren und erzogen war. Für sie existierten keine sozialen Unterschiede und Klassifikationen. In ihrem Hause, an ihrem Tische empfing sie Arbeiter im Werktagsanzuge mit der nämlichen Höflichkeit und Zuvorkommenheit, als ob es Fürsten und Prinzen gewesen wären. Viele Arbeiter aller Länder haben ihre liebenswürdige Gastfreundschaft kennengelernt, und ich bin überzeugt, keiner von ihnen allen hat vermutet, daß die Frau, welche sie mit so schlichter und ungeheuchelter Herzlichkeit aufnahm, in weiblicher Linie von der Familie der Herzoge von Argyll abstammte und daß ihr Bruder Minister des Königs von Preußen gewesen war. Frau Marx kümmerte das nicht, sie hatte alles verlassen, um ihrem Karl zu folgen und nie, sogar in den Zeiten harter Not nicht, bedauerte sie, was sie getan hatte.

Sie besaß einen heiteren und glänzenden Geist. Die an ihre Freunde gerichteten Briefe, welche ihr mühe- und zwanglos nur so aus der Feder flossen, sind wahrhaft meisterliche Leistungen eines lebhaften und originalen Geistes. Es galt für ein Fest, einen Brief von Frau Marx zu erhalten. Johann Philipp Becker hat mehrere von ihnen veröffentlicht. Heine, der unerbittliche Satiriker, fürchtete Marx' Spott, aber er hegte eine große Bewunderung für den scharfen und feinfühlenden Geist von dessen Frau; als sich das Ehepaar Marx in Paris aufhielt, war er ein fleißiger Gast in dessen Hause. Marx hatte so hohe Achtung vor der Intelligenz und dem kritischen Sinn seiner Frau, daß er mir 18C6 sagte, er habe ihr alle seine Manuskripte mitgeteilt, und er lege großen Wert auf ihr Urteil. Frau Marx schrieb die Manuskripte ihres Mannes für den Druck ab. Frau Marx hat viele Kinder gehabt. Drei davon starben in zartem Alter, in der Periode der Entbehrungen, welche die Familie nach der Revolution von 1848 durchzumachen hatte, als sie, nach London geflüchtet, in zwei kleinen Zimmerchen der Dean Street, Soho Square, lebte. Ich habe nur die drei Töchter der Familie kennengelernt. Als ich 1865 bei Marx eingeführt ward, war die jüngste, die jetzige Frau Aveling, ein reizendes Kind mit dem Charakter eines Knaben. Marx behauptete, seine Frau habe sich im Geschlecht geirrt, als sie dieselbe als Mädchen zur Welt gebracht. Die beiden anderen Töchter bildeten den reizendsten und harmonischsten Gegensatz, den man bewundern konnte. Die älteste, Frau Longuet, hatte wie der Vater einen brünetten, kräftigen Teint, schwarze Augen und rabenschwarzes Haar; die jüngere, Frau Lafargue, war blond und rosig, ihr üppiges krauses Haar glänzte goldig, als ob sich die untergehende Sonne hineingebettet hätte; sie ähnelte ihrer Mutter.

Neben den Genannten zählte die Familie Marx noch ein wichtiges Glied: Fräulein Helene Demuth. In einer Bauernfamilie geboren, war sie noch ganz jung, fast ein Kind, lange vor der Verheiratung der Frau Marx, als Dienstmädchen zu ihr gekommen. Als sich dieselbe verheiratete, verließ Helene sie nicht, sie widmete sich vielmehr der Familie Marx mit einer solchen Hingabe, daß sie sich selbst völlig vergaß. Sie begleitete Frau Marx und deren Mann auf all ihren Reisen durch Europa und teilte ihre Ausweisungen. Sie war der praktische Hausgeist, der sich in den schwierigsten Lebenslagen zurechtzufinden wußte. Ihrem Ordnungssinn, ihrer Sparsamkeit, ihrem Geschick ist es zu verdanken, daß die Familie wenigstens das Allernötigste nie zu entbehren hatte. Sie verstand alles: sie kochte und besorgte das Hauswesen, sie kleidete die Kinder an und schnitt die Kleidungsstücke zu, welche sie zusammen mit Frau Marx nähte. Sie war gleichzeitig Wirtschafterin und Majordomus des Hauses, das sie leitete. Die Kinder liebten sie wie eine Mutter, und sie besaß über diese eine mütterliche Autorität, weil sie eine mütterliche Zuneigung für sie empfand. Frau Marx betrachtete Helene wie eine intime Freundin, und Marx hegte für sie eine besondere Freundschaft ; er spielte Schach mit ihr und es geschah oft, daß er die Partie verlor. Helenes Liebe für die Familie Marx war blind; alles, was die Marxens taten, war gut und konnte nicht anders als gut sein; wer Marx kritisierte, der hatte es mit ihr zu tun. Jeden, der in den vertraulichen Umgang der Familie gezogen worden, nahm sie unter ihre mütterliche Protektion. Sie hatte sozusagen die ganze Familie Marx adoptiert. Fräulein Helene hat Marx und seine Frau überlebt, ihre Sorgfalt hat sie jetzt auf Engels' Haus übertragen, den sie in der Jugend kennenlernte, und auf welchen sie die Zuneigung erstreckte, die sie für die Marxsche Familie hegte. Übrigens war Engels sozusagen auch ein Familienmitglied; Marx' Töchter nannten ihn ihren zweiten Vater, er war der alter ego [das andere Ich] von Marx; längere Zeit hindurch trennte man in Deutschland nie ihre beiden Namen, welche die Geschichte für immer vereint auf ihren Blättern verzeichnen wird. Marx und Engels haben in unserem Jahrhundert das Ideal der Freundschaft verwirklicht, das die antiken Dichter malen. Von Jugend auf haben sie sich zusammen und parallel entwickelt, in der innigsten Gemeinschaft der Ideen und Gefühle gelebt, an der gleichen revolutionären Agitation teilgenommen, und solange als sie vereint bleiben konnten, haben sie auch zusammen gearbeitet. Wahrscheinlich hätten sie ihr ganzes Leben lang weiter zusammen gewirkt, wenn nicht die Ereignisse sie gezwungen, ungefähr zwanzig Jahre lang getrennt zu leben. Nach der Niederlage der Revolution von 1848 mußte Engels nach Manchester gehen, während Marx gezwungen war, in London zu bleiben. Sie fuhren dennoch fort, ihr gemeinsames Geistesleben fortzuleben, indem sie sich fast täglich ihre Ansichten über die politischen und wissenschaftlichen Tagesereignisse, sowie ihre geistigen Arbeiten brieflich mitteilten. Sowie sich Engels von seiner Arbeit freimachen konnte, beeilte er sich, Manchester zu verlassen und sein Heim in London aufzuschlagen, wo er sich nur zehn Minuten entfernt von seinem teuren Marx niederließ. Von 1870 an bis zum Tode seines Freundes ist nicht ein Tag verstrichen, an dem sich die beiden Männer nicht bald bei dem einen, bald bei dem andern gesehen hätten. Es war ein Fest für die Familie Marx, wenn Engels anzeigte, daß er von Manchester herüberkommen werde. Man sprach lange im voraus von seinem bevorstehenden Besuch, und am Tage seiner Ankunft ward Marx so ungeduldig, daß er nicht arbeiten konnte. Die beiden Freunde saßen dann rauchend und trinkend die ganze Nacht zusammen, um alle seit ihrem letzten Beisammensein vorgefallenen Ereignisse durchzusprechen. Engels' Meinung stellte Marx höher als jede andere, denn Engels war der Mann, den er für fähig hielt, sein Mitarbeiter zu sein. Engels war für ihn ein ganzes Publikum; um ihn zu überzeugen, um ihn für eine seiner Ideen zu gewinnen, war für Marx keine Arbeit zu groß. Ich habe z.B. gesehen, daß er ganze Bände von neuem durchlas, um die Tatsachen wieder aufzufinden, deren er bedurfte, um eine Ansicht von Engels über irgendwelchen, mir nicht erinnerlichen, nebensächlichen Punkt des politischen und religiösen Kriegs der Albigenser zu ändern. Engels' Meinung zu gewinnen war ihm ein Triumph.

Marx war stolz auf Engels. Er zählte mir mit Genugtuung alle moralischen und geistigen Vorzüge seines Freundes auf, er reiste mit mir eigens nach Manchester, um ihn mir zu zeigen. Er bewunderte die außerordentliche Vielseitigkeit seiner wissenschaftlichen Kenntnisse, er beunruhigte sich wegen der geringsten Ereignisse, die ihn betreffen konnten. „Ich zittere stets“, sagte er mir, „daß ihm ein Unglück auf einer der Hetzjagden zustoße, an denen er sich, mit verhängtem Zügel durch die Felder galoppierend und alle Hindernisse nehmend, mit Leidenschaft beteiligt.“

III.

Marx war ein ebenso guter Freund als zärtlicher Gatte und Vater, aber er fand auch in seiner Frau, seinen Töchtern, in Helene und Engels Wesen, welche verdienten, von einem Manne wie er geliebt zu werden.

Marx, welcher damit begonnen hatte, einer der Führer der radikalen Bourgeoisie zu sein, sah sich verlassen, sobald seine Opposition zu entschieden wurde, und er ward als Feind behandelt, sobald er Sozialist geworden. Gehetzt und aus Deutschland ausgewiesen, nachdem man ihn beschimpft und verleumdet hatte, organisierte man gegen seine Person und seine Arbeiten eine Verschwörung des Totschweigens. „Der achtzehnte Brumaire“, welcher beweist, daß von allen Geschichtsschreibern und Politikern des Jahres 1848 Marx der einzige ist, welcher den wahren Charakter der Ursachen und Folgen des Staatsstreichs vom 2. Dezember 1851 verstand und klarlegte, ward völlig ignoriert. Nicht eine einzige bürgerliche Zeitung erwähnte das Werk trotz seiner Aktualität. „Das Elend der Philosophie“, eine Antwort auf die „Philosophie des Elends“, ebenso wie „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, wurden gleichfalls ignoriert. Allein die Internationale und die ersten Bände des „Kapitals“ brachen diese Verschwörung des Totschweigens, die gegen fünfzehn Jahre gedauert hatte. Es war nicht länger möglich, Marx zu ignorieren; die Internationale wuchs und erfüllte die Welt mit dem Ruf ihrer Taten. Obgleich sich Marx im Hintergrund hielt, andre handeln ließ, entdeckte man bald, wer der Regisseur war; in Deutschland ward die sozialdemokratische Partei gegründet und erstarkte zu einer Kraft, um welche Bismarck warb, ehe er sie angriff. Der Lassalleaner Schweitzer veröffentlichte eine Reihe von Artikeln, welche Marx sehr beachtenswert fand, und die das Arbeiterpublikum mit dem „Kapital“ bekannt machten. Der Kongreß der Internationale faßte auf den Antrag J.Ph. Beckers hin den Beschluß, die Aufmerksamkeit der internationalen Sozialisten auf das Werk als auf die Bibel der Arbeiterklasse zu lenken. Nach dem Aufstand des 18.März 1871, in welchem man die Hand der Internationale sehen wollte, und nach der Niederlage der Kommune, deren Verteidigung der Generalrat der Internationale gegen die entfesselte Bourgeoispresse aller Länder ergriff, ward der Name Marx weltberühmt. Marx ward nun als der unwiderlegbare Theoretiker des wissenschaftlichen Sozialismus und als Organisator der ersten internationalen Arbeiterbewegung anerkannt. Das „Kapital' wurde zum Lehrbuch der Sozialisten aller Länder, alle sozialistischen und Arbeiterzeitungen popularisierten seine gelehrten Theorien, und in Amerika, während eines großen in New York stattfindenden Strikes, veröffentlichte man Stellen aus dem Werk in der Form von Flugblättern, um die Arbeiter zum Aushalten anzufeuern und ihnen die Berechtigung ihrer Forderungen zu beweisen. Das „Kapital“ wurde in die Hauptsprachen Europas, ins Russische, Französische, Englische übersetzt; es erschienen Auszüge daraus in deutscher, italienischer, französischer, spanischer und holländischer Sprache. Und sooft in Europa oder Amerika Gegner den Versuch machten, seine Theorien zu widerlegen, so fanden die Ökonomen sofort eine sozialistische Antwort, die ihnen den Mund stopfte. Das „Kapital“ ist heutzutage in Wahrheit geworden, was der Kongreß der Internationale es genannt, die Bibel der Arbeiterklasse. Allein, der tätige Anteil, den Marx an der internationalen sozialistischen Bewegung nehmen mußte, ließ seine wissenschaftlichen Arbeiten zu kurz kommen. Der Tod seiner Frau und seiner ältesten Tochter, Frau Longuet, sollte geradezu verhängnisvoll für dieselben werden. Marx war mit seiner Frau durch das Gefühl tiefer Anhänglichkeit aufs innigste verbunden; ihre Schönheit war seine Freude und sein Stolz gewesen, die Sanftmut und Hingebung ihres Charakters hatten ihn das mit seinem bewegten Leben als revolutionärer Sozialist unvermeidlich verknüpfte Elend leichter ertragen lassen. Das Leiden, welches Frau Marx ins Grab brachte, sollte auch die Lebenstage ihres Gatten verkürzen. Während ihrer langen und schmerzhaften Krankheit zog sich Marx, geistig infolge der Aufregungen ermattet, körperlich infolge von Schlaflosigkeit, Mangel an Bewegung und frischer Luft erschöpft, die Lungenentzündung zu, die ihn hinwegraffen sollte.

Frau Marx starb am 2. Dezember 1881, wie sie gelebt hatte, als Kommunistin und Materialistin. Der Tod hatte keine Schrecken für sie. Als sie fühlte, daß der Moment der Auflösung gekommen, rief sie aus: „Karl, meine Kräfte sind gebrochen.“ Dies waren ihre letzten, deutlich vernehmbaren Worte. Sie wurde am 5. Dezember auf dem Friedhof zu Highgate in der Abteilung der „Verdammten“ (unconsecrated ground = in ungeweihter Erde) bestattet. Entsprechend den Gewohnheiten ihres ganzen Lebens und dessen von Marx hatte man sorgfältig vermieden, das Begräbnis zu einem öffentlichen zu gestalten, nur einige intime Freunde begleiteten die Verstorbene zu ihrer letzten Ruhestätte. Ehe man auseinanderging, sprach Marx' alter Freund, Friedrich Engels, am Rand des Grabes ...

Nach dem Tode seiner Frau war Marx' Leben nur noch eine Kette stoisch ertragener physischer und moralischer Leiden, die sich noch verschärften, als ein Jahr darauf auch seine älteste Tochter, Frau Longuet, plötzlich starb. Er war gebrochen und erholte sich nicht wieder. Er entschlummerte, vor seinem Arbeitstisch sitzend, am 14.März 1885, in seinem fünfundsechzigsten Jahre.

 


Zuletzt aktualisiert am 25.6.2008