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„Von den sichersten Dingen |
Bei den alten Griechen pflegte, wenn ein Kranker durchaus nicht gesund werden wollte, seine Familie sich vor die Haustür zu begeben und die Passanten über den hartnäckigen Fall zu befragen. [3] Ein jeder verschrieb da ein unfehlbares Heilmittel, das den Kranken im Nu wieder auf die Beine bringen sollte; aber so zahlreich und so verschieden waren die Ratschläge, daß einem die Wahl schwer wurde. Die Sage berichtet, Hippokrates habe die Heilkunde seiner Zeit dadurch erlernt, daß er auf diese Gelegenheitsärzte horchte. Der Pariser Figaro ging jüngst in ähnlicher Weise vor, um die heutigen Meinungen über die so alte und doch stets neue Frage des Verhältnisses der ehelichen Untreue des mannes zu der der Frau zu erfahren. In Frankreich spricht man offen über diese Fragen, die anderswo nur im engsten Kreis behandelt werden; so darf man wohl die zahlreichen Antworten, die das Pariser Journal erhielt, als die allgemeine Meinung der zivilisierten Nationen betrachten; sie werden dem deutschen Philister eine Idee davon geben, was er selbst über die Sache zu denken hat. Die eingelaufenen Antworten widersprechen einander so sehr, daß der Leser, der sich daraus eine eigene Meinung bilden will, in die Verlegenheit des griechischen Kranken kommt, der sich von den Passanten beraten ließ: so viele Glocken, so viele Töne. Man kann aus diesem Appell an die öffentliche Meinung eine große Lehre ziehen: in der Frage des Ehebruches, über die doch die Moral der Religion wie die der Welt entschieden geurteilt hat, ist man noch nicht zu einem alle befriedigenden Standpunkt gelangt. Die Unsicherheit der öffentlichen Meinung gibt vielleicht die bedeutsamste, wenn nicht interessanteste Beantwortung der Frage.
Hören wir lieber die Einsender im Figaro:
„Der Ehebruch ist ein Diebstahl, von welcher Seite er auch ausgehen mag“. „Die beiden Ehebrecher sind vom Standpunkt der absoluten Moral gleich zu beurteilen“. Diese trockenen und wie eine Rasierklinge scharfen Formeln fassen den allgemeinen Gedankengang der Einsender des Journals der Pariser „guten Gesellschaft“ zusammen. Abe rum zu beweisen, daß eine absolute Moral ebensowenig in Wirklichkeit existiert, wie die unendlichen Größen der Mathematiker, beeilen sie sich, Unterscheidungen zu machen.
Ein Moralist, der voll von Nachsicht ist für den Mann, „der es gerne mit dem Kuckuck hält und sein Ei in des Nachbars Nest legt“, erklärt: „Der Ehebruch der Frau ist ein Verbrechen, da sie sich der Gefahr aussetzt, einen Bastard in ihr Haus zu bringen; der Ehebruch des Mannes ist ein leichtsinniger Streich [...] Die Sitte, die nichts mit Moral gemein hat, entschuldigt den Mann und verurteilt die Frau. Im Grunde sind freilich die Schwüre auf beiden Seiten die gleichen und so auch das Vergehen“ [4] Ein anderer dieser Gelegenheitsmoralisten holt seine Argumente aus der Statistik und erklärt, die Natur habe den Mann zur Polygamie bestimmt, da es mehr Frauen als Männer auf der welt gebe, die Statistik zeigt jedoch gerade im Gegenteil, daß die Zahl der weiblichen Geburten geringer ist als die der männlichen; aber die Sterblichkeit im Kindesalter ist beim männlichen Geschlecht größer als beim weiblichen und daher stellt sich schließlich das Gleichgewicht zwischen den beiden Geschlechtern fast völlig her. [5]
Mac Lennan [6] wollte die Vielmännerei der Vorzeit damit erklären, daß die Wilden die Zahl der Frauen dadurch verminderten, daß sie mit Vorliebe weibliche Kinder töteten; dies ist jedoch ein Irrtum. Die Moralisten, die die Polygamie im Namen der Statistik rechtfertigen wollen, müssen sich schon anderweitig umsehen.
Daß die Natur, die den Mann dem Kuckuck ähnlich machte und einen Überfluß an Frauen hervorrief, für die eheliche Untreue der Männer verantwortlich sei, dieses Argument erscheint einem anderen Anwalt des bärtigen Geschlechtes nicht stichhaltig genug; er behauptet, wenn der Mann in der Ehe über die Schnur haut, sei bloß die Frau daran Schuld. Sie ist also der Sündenbock! Um seiner Argumentation mehr Nachdruck zu verleihen, zitiert der Einsender Alphonse Karr [7]: „Wenn es einem Mädchen gelungen ist, den seltenen Vogel, einen Gatten, in ihr Netz zu locken, dann glaubt sie, alles Nötige sei damit getan; allein da irrt sie. Sie weiß ihre Leimruten auszulegen, aber sie hat nicht gelernt, einen Käfig herzustellen, in dem der gefangene Vogel leben und sich wohlfühlen kann. Man zeige mir doch einen gutgemachten Käfig, ausgestattet mit allem, was einem Vogel einfällt [...] Meine Damen, lernen Sie daher, Käfige herzustellen und versehen sie diese vor allem reichlich mit Vogelkraut (mouron)“. Das mangelhafte Wissen der „anständigen Frauen“ in Liebensangelegenheiten hat Balzac überrascht (Cousine Bette, 33. Kapitel), und er verlangte die Einrichtung öffentlicher Spezialschulen zur Ausfüllung dieser Lücke. Eine Frau, die sich auf die Sache verstehen dürfte, da sie sich ungescheut als Großmutter bekennt, gleich der guten Alten Béranger’s [8], teilt Balzacs Meinung und glaubt, die Untreue der Gattin sei nützlich und wünschenswert: „Die Gattin, die ihre Illusionen während der Ehe verloren hat und daher unausstehlich geworden ist, beschenkt ihren Mann nach einem Versuch mit der koketten Erfahrung, die sie von ihrem Mitschuldigen gewonnen hat“.
Eine von Monsieur Alexandre Dumas’ [9] philosophischen Frauen, die Marquise de Rumerieres, empfiehlt dem Mann nicht, die Erziehung seiner Frau durch ihre Liebhaber vollenden zu lassen, dagegen rät sie seiner jungen Frau, die über die „ungesetzlichen Wege“, die die Zärtlichkeit ihres Gatten wandelt, entrüstet ist, seine Seitensprünge zu tolerieren, um den Hausfrieden zu bewahren: „Mein Mann war wie der Ihre; sie sind alle gleich, bis auf einige Nuancen! Er machte allen Frauen den Hof, aber nicht lang: So lange er sie anbetete, hatte er nur eine Idee, mir diese Damen vorzustellen. Ich glaube, er hielt etwas auf mein Urteil. Es lautete stets für ihn günstig. Machen Sie es ebenso, mein liebes Kind. In einer Zeit, wie der unsrigen, wird die Strenge von ehedem geradezu unmöglich“ (L’Etrangère, acte II, sc. III).
Da haben wir das andere Extrem derjenigen, die den Ehebruch „an sich“ verdammen, von wem immer er auch ausgehen möge; in der Praxis raten philosophische Geister ihn auf beiden Seiten zu tolerieren, um das eheleben friedlich und angenehm zu gestalten.
Aber es gibt Moralisten, die beim Ehebruch der Frau nicht mit sich handeln lassen, während sie die unvermeidlichen Seitensprünge des Mannes „reizende Kleinigkeiten“ nennen; man dürfe nicht „den gleichen Maßstab an die beiden Geschlechter anlegen, wenn man das Unheil in Betracht ziehe, daß der Ehebruch der Frau für sie, ihre Familie, die Gesellschaft hervorruft; wenn die allgemeine Meinung von Alters her den Ehebruch der Frau außerordentlich streng beurteile, so ist das nicht ein veraltetes Vorurteil, sondern das Ergebnis einer genauen Erkenntnis der physischen und moralischen Gesetze, denen sich die menschliche Natur nicht entziehen kann“. [10] Dieser dogmatische Moralist ist aufs höchste entrüstet über jene, die „leichtfertig behaupten, die Männer hätten die Gesetze zu ihrem Vorteil gemacht; in Wahrheit haben sie die Männer, wiederholen wir es, bloß entdeckt“. O du Tiefsinniger unter den männlichen Ehebrechern, der du die Gesetze der Gesellschaft mit denen der Natur in einen Topf wirfst und glaubst, sie hätten vor dem Menschen schon existiert, der sie bloß entdeckte; warum verfolgst du deine kühne Entdeckung nicht weiter und beweist uns, daß die Zylinderhüte der Männer und die Tournüren [11] der Damen und alle Moden der Zivilisation bereits im Schoße der Natur existierten und von den Schneidern und Hutmachern bloß entdeckt wurden?
Unser strenger Logiker, der vor keiner Konsequenz seiner Entdeckungen erschrickt, verlangt die Wiederherstellung der vollen väterlichen Autorität, der „patria potestas“ der Römer, von der wir noch reden werden, das Recht des Gatten, die Kinder seiner Frau zu töten, seien sie legitim oder ehebrecherisch gezeugt: der Gipfel der Offenherzigkeit!
Ehe wir uns der Frage der Kinder zuwenden, die nach vielen Moralisten des Ehebruches diesen, so er von der Frau begangen wird, zu einem todeswürdigen Verbrechen stempelt, wollen wir noch einige Verteidiger der Untreue der Gatten zu Wort kommen lassen: „In der Gesellschaft herrscht, abgesehen von einigen ausnehmend tugendhaften Familien, die Sitte, daß ein verheirateter Mann sich Mätressen hält“, schreibt einer, der seine Pappenheimer kennt. „Keine zu halten, wäre ein Geständnis physischer und finanzieller Schwäche, das vor allem die Frau unangenehm berühren müßte. Anders steht die Sache, wenn sie die Ehe bricht“. Ein eifriger Anwalt des männlichen Ehebruches steht nicht an, zu erklären, daß „die Frau nicht berechtigt ist, die Treue ihres Gatten zu fordern, da sie dieselbe nicht zu einer Bedingung ihrer Ehe gemacht hat“. Weil also das Mädchen unwissend oder nachsichtig gewesen ist, soll die Frau sich alle Seitensprünge des Mannes gefallen lassen. Alles erhält seinen Lohn bereits auf Erden: vor allem die Gutmütigkeit.
In dieser für sie so wichtigen Frage haben auch viele Frauen ihre Meinungen geäußert. Viele, vernünftig genug, sich nicht gegen das Unvermeidliche zu empören, suchen die Männer zu entschuldigen; andere, zu sich selbst überaus strenge (wozu sie unzweifelhaft das Recht haben) erklären, die „ungetreue Gattin sei viel schuldiger als der Mann, gegenüber der Moral und der Gesellschaft“. Eine Vicomtesse läßt das Kind sich einmischen und ruft seinen Richterspruch an: „Errötet es über die Seitensprünge seines Vaters? Nein. Tragen ihm die Fehltritte der Mutter nicht Schaden und Schande ein? Gewiß. Das entscheidet die Debatte“. Diese Art wie Alexander den Gordischen Knoten zu durchhauen, befriedigt nicht jedermann, wie die folgende Antwort des Grafen S. beweist: „Im Prinzip ist der Ehebruch ein Vergehen, ein Verbrechen, eine Niederträchtigkeit. Aber die Untreue der Frau ist vom menschlichen Standpunkt aus der des Mannes immer noch vorzuziehen. Der fremdgehende Mann verliert schnell jeden Halt; die ehebrecherische Frau der guten Gesellschaft bleibt immer mehr oder weniger Sklavin der Konventionen; auf die nimmt sie selbst dann noch Rücksicht, wenn sie schon ihre Skrupel verloren hat“. In der Tat, wie oft kommt es vor, daß ein Familienvater wegen einer solchen „Bagatelle“, eines solchen „reizenden Scherzes“ mit liederlichen Dirnen die Mitgift seiner Frau, das Erbe seiner Kinder durchbringt! Wenn das Kind über die Seitensprünge des Vaters nicht errötet, so leidet es unter dem Elend und den Krankheiten, die er nicht selten mit in die Familie bringt.
„Die Frau bringt das im Ehebruch gezeugte Kind in die Familie hinein, der Mann bringt die Kinder, die er im Ehebruch zeugt, aus seiner Familie heraus“, dies ist das große Verbrechen der Frau. „Einen Menschen verurteilen, als sein Kind aufziehen, zu liebkosen, zu beweinen, was seine fleischgewordene Entehrung ist, dieser Schande droht nur dem Mann, nicht der Frau“. Die Antwort läßt nicht auf sich warten. „Man rede mir nicht von den bleibenden Folgen des Fehltrittes der Frau“ schreibt eine Dame, „denn diese Begründung gäbe den Frauen von 50 Jahren die absurdesten Privilegien“. Ein Doktor, dem das noch zu wenig ist, sieht keinen Unterschied zwischen „der Untreue des einen und des anderen Gatten, vorausgesetzt, daß die Frau unfruchtbar ist“. Wenn aber die Schwere der Schuld nur nach der Schwere der Folgen gemessen wird, dann „braucht man bloß die Befruchtung der Frau zu verhindern“ meinen einige Einsender, die die Frage des Ehebruches durch den Malthusianismus [12] lösen.
Aber das im Ehebruch gezeugt Kind geniert nicht alle Welt; es gibt welche, die behaupten, „vom Standpunkt der Verbesserung der Rasse, der geschlechtlichen Zuchtwahl, ist der Ehebruch ein notwendiges Übel, das seine guten Seiten haben kann“. Ebenso dachte Victor Hugo [13], wenn er Triboulet, dem Vater der vom König entführten Diana von Poitiers folgende Antwort geben ließ [14]:
Würde nicht Zorn Dich stracks erfassen, Legt’ sich der König nicht ins Zeug, er würde Dir |
Diese Ansicht datiert nicht erst von heute. Quintus Hortensius wollte Cato (von Utica) [15] bewegen, ihm seine Tochter abzutreten, die bereits an Bibulus verheiratet war, und suchte ihn dazu folgendermaßen zu bereden: „Es ist ebenso ehrenhaft als nützlich für die Republik, daß eine schöne Frau in der Blüte ihrer Jahre nicht ungenutzt bleibe und die Zeit, Kinder zu erhalten, nicht verstreichen lasse [...] Wenn die ehrbaren Bürger einander ihre Frauen überlassen, so wird die edle Kraft [virtus] wachsen und sich allen Familien mitteilen; das Gemeinwesen wird durch solche Verbindungen sozusagen zu einer einzigen Familie verschmolzen“. Und er fügte hinzu: „Wenn Bibulus durchaus seine Frau behalten will, dann erkläre ich mich bereit, sie ihm zurückzugeben, sobald sie Mutter geworden ist“. [16] Bibulus scheint durch diese starken Argumente nicht umgestimmt worden zu sein, und so blieb Cato, um seinen lieben Freund zu trösten, nichts übrig, als ihm seine eigene Frau abzutreten.
Im Süden Frankreichs, wo heute noch der Einfluß der Liebeshöfe [17] aus der Zeit der Troubadours nachwirkt, ist die eheliche Moral so tolerant, daß die im Ehebruch gezeugten Kinder liebevoll großgezogen werden. Man hält sie für besonders begabt und vom Glück begünstigt: Wenn in einer Familie ein Kind vor seinen Geschwistern durch Intelligenz oder Schönheit sich auszeichnet, dann zögern die Freunde und Bekannten nicht, lächelnd zu sagen: „Gott straf’ mich, wenn das nicht ein Kind der Liebe ist“. In Europa scheint sich durch das ganze Mittelalter hindurch die Idee zu erhalten, daß das ohne gesetzliche Erlaubnis gezeugte Kind besonders begabt sei: In seinem König Lear läßt Shakespeare den Bastard Edmund sagen [18]:
[...] Why bastard? wherefore base? [...] Was Bastard? Weshalb unecht? |
Um die Serie der konträren Meinungen voll zu machen, die uns die vom Figaro veranstaltete Enquete bietet, weist der Einsender auf eine sonderbare Stelle in dem Werkchen Pascals [20] über Die Leiden der Liebe hin. Der Erfinder der Wahrscheinlichkeitsrechnung zeigt sich da als kühner Psychologe: Er predigt den Wechsel, um „das Vergnügen der Liebe frisch zu erhalten [...] und das heißt nicht, eine Untreue begehen, denn man liebt nicht eine andere; es heißt, seine Kräfte wiedergewinnen, um besser zu lieben“. Das Sprichwort: „Frisches Fleisch, besserer Appetit“ bestärkt Pascal’s Meinung. Charles Fourier [21], dieser prophetische Geist, der im chaos der Anfänge unseres Jahrhunderts bereits die tendenzen der modernen gesellschaftlichen Entwicklung erkannte, stellte folgende Frage: „ Nehmen wir an, man könnte ein Mittel ersinnen, alle Frauen, ohne Ausnahme auf die Keuschheit zu beschränken, die man von ihnen verlangt, so daß keine Frau sich vor der Heirat der Liebe hingäbe und auch nach der Eheschließung keinem Mann außer ihrem eigenen gehöre; daraus folgte, daß jeder Mann ein Leben lang nur die Hausfrau besitzen würde, die er geheiratet hätte. Nun, was halten die Männer von der Aussicht, sich ihr ganzes Leben lang nur ihrer Gattin zu erfreuen, die ihnen vielleicht schon am Tag nach der Hochzeit mißfällt? Gewiß, jeder einzelne Mann würde dafür stimmen, den Autor einer solchen Erfindung umzubringen, die jede Galanterie zu vernichten drohte“. [22] Was denkt ihr darüber, ihr Moralisten des Ehebruches?
Auf Wunsch des Figaro hat sich auch Monsieur Alexandre duma in die Debatte eingemischt. Unter allen modernen Schriftstellern Frankreichs hat er sich am brilliantesten mit diesem Problem beschäftigt; er hat darus sozusagen seine spezialität gemacht: Der Ehebruch lieferte das Sujet seiner durchdachtesten und feinst ausgearbeiteten Theaterstücke, mit denen er seine größten Erfolge verbuchte. In seinem Hochzeitsbesuch [Visite des noces] hat er einen der gewagtesten Fälle auf die Bühne gebracht und ihm durch seine kunst glücklich über die Runden gebracht. Aber das Theater genügt ihm nicht, denn, sagte er uns, dort „herrscht, waltet und triumphiert schließlich die Frau“.(Vorrede zu Die Frau des Claudius), und man muß die Tatsachen verdrehen, um sie zufrieden zu stellen. Er hat die Frage wieder und immer wieder von allen Seiten erörtert in Romanen, Broschüren und Vorreden, die weitverbreitet sind. Er hat die Frage des Ehebruches nicht als Einsiedler studiert, dem die Welt und ihre Versuchungen unbekannt sind, nicht als metaphysischer Philosoph, der von der Wirklichkeit absieht, sondern als Mann von Welt, der die Schwächen von Mann und Frau ebenso kennt wie die Veranlassung zu ihren „Fehltritten“, die in der Gesellschaft, in der sie leben, ihnen begegnen. Für die in Rede stehende Frage müssen wir daher nicht bloß seinen Brief an den Figaro in Betracht ziehen, sondern auch seine anderen Schriften.
„Alle Männer betrügen ihre Frauen“: Das ist für Monsieur Alexandre Dumas ein Axiom; dagegen „gibt es nicht so viele betrogene Ehemänner, als man glaubt und als die Gerechtigkeit vielleicht erfordern würde“. „Der Mann hat zwei Arten von Moral gemacht: eine für sich selbst, eine für die Frau; eine, die ihm die Liebe mit allen Frauen gestattet, und eine, die der Frau als Ersatz für ihre für immer verlorene Freiheit die Liebe mit bloß einem Mann gestattet“ (Vorrede zu Monsieur Alphonse). In der Tat, wessen macht sich der ehebrecherische Gatte schuldig? „Einer blinden Verirrung, bei der bloß die Sinne beteiligt sind und die nur dem augenblicklichen Überwiegen des Tiers entspringt“ (Vorrede zu Prinzessin George). Der Ehebruch der Frau dagegen ist eine so schwerwiegende Sache, daß Diane de Lys, die sympathischste seiner Heldinnen, zusehen muß, wie ihr Liebhaber gleich einem tollen Hund durch einen Pistolenschuß niedergestreckt wird. Im Theater tötet Dumas den Li„bhaber, aber im Roman verhärtet sich sein Herz: Clemenceau tötet seine ehebrecherische Frau, und in seiner bekannten Schrift ruft er dem Gatten zu: „Tötet sie!“ Allerdings bemerkt er in seinem Brief an cuvillier-Fleury, daß die Frau, deren Tötung er dem Gatten rät, in Wirklichkeit „kein Weib ist; außerhalb des Plans der Gottheit stehend, ist sie rein tierisch, die Äffin des Landes Nod, das Weibchen [femelle] Kains: töte sie!“ Dieses „Töte sie!“ Dumas’ Rat ist also nur dann eine Lösung der Frage, wenn es sich um eine Frau handelt, die außerhalb des "Planes der Gottheit" steht, außerhalb der Gesetze der natur, wenn sein freund, doktor robin sich ausgedrückt hätte; aber ein solcher Fall ist noch nicht vorgekommen. Trotz seines dröhnenden "Tötet sie!" hält also Dumas den Ehebruch der Frau nicht für ein todeswürdige Verbrechen.
Den Ehebruch des Mannes sieht er in der ewigen Orndung der Dinge begründet, und er empfiehlt den Frauen bei jeder Gelegenheit, sich christlich in das Unvermeidliche dreinzufinden: Und wenn er jemals eine seiner Heldinnen so weit treibt, daß sie auf Rache sinnt, dann läßt er sie entsetzt zurückschaudern vor dem Gedanken der Tötung des ungetreuen Gatten, wie z.B. Prinzessin George. Oder wenn sie Untreue mit Untreue vergelten wollen, wie Francine, dann wagen sie nicht, ihr Vorhaben auszuführen. „Was immer kommen möge“, empfiehlt er, „meidet das Recht der Vergeltung im Ehebett, setzt an die Stelle des entsetzlichen Rechtes, zu töten, das göttliche Recht, freizusprechen“.
Wir haben bereits oben den Rat zitiert, den eine von Monsieur Dumas’ philosophischen Frauen einer jungen Freundin erteilt; in der Prinzessin George wiederholt die Frau von Perigny ihrer Tochter, die voll von Entrüstung über die Untreue ihres Gatten ist, die Ratschläge der Marquise de Rumières, denen sie das Wort einer müde gewordenen Frau hinzufügt: „Das Leben ist nicht möglich, wie du siehst, ohne viel Gleichgültigkeit und noch mehr Vergeßlichkeit“ (Akt I, Szene II). Und wenn Francine entrüstet das haus des Gatten verlassen will, moralisiert therese: „Du hast ganz recht, dein Mann hat dich verraten, er hat kein Herz, hasse ihn, verachte ihn [...] aber behalte ihn“ (Francillon, Akt III, Szene III), denn „die Scheidung, die einzig befriedigende Lösung, die die Philosophen und Gesetzbücher finden konnten, befreit nur die Leiber und die Interessen, nicht die Herzen und die Seelen“ (Vorrede zu Prinzessin George). In seinem Brief im Figaro verweist Dumas die betrogene frau auf „das Gesetzbuch und das Evangelium; da diese zwei Bücher, wie jeder weiß, die beiden Pfeiler der Gesellschaft bilden, mögen die, welche in der Ehe leiden, bei dem einen Schutz oder bei dem anderen Trost suchen“. Ist das genügend, um alle die Beteiligten zu befriedigen, die anderswo die Lösung suchen, die so unauffindbar scheint, wie die Quadratur des Kreises? „Man ist versucht zu glauben“, schrieb Charles Fourier über die Ehe, deren Wechselfälle er so gut kannte, die Dumas und die modernen Romanschriftsteller so oft geschildert haben, „man ist versucht zu glauben, diese Ordnung sei das Werk eines dritten Geschlechtes, das die beiden anderen zu diesen Unannehmlichkeiten verurteilen wollte“. [23]
Die Enquete des Figaro zeigt mehr als zur Genüge, daß eine bestimmte öffentliche Meinung in der Frage noch nicht fixiert ist. Ist der Ehebruch, von wem auch immer begangen, ein Diebstahl? Ist er ein Bagatelldelikt, wenn es sich um den Man handelt, und ein Verbrechen, wenn ihn die Frau begeht? Ist der Ehebruch des Mannes oder der der Frau verderblicher für die Harmonie, den Ruf, das Wohlbefinden und die Gesundheit der Familie? Ist das Kind, das aus einem Ehebruch hervorgeht, ein Übel, eine tödliche Schmach, oder vielmehr ein wirksames Mittel, die Rasse zu verbessern? Soll der Mann das Recht über Leben und Tod seiner Gefährtin haben, soll diese sich gegen ihn empören nach dem Recht der Vergeltung, soll sie zur Scheidung greifen oder sich im Interesse der Kinder und des Rufes der Familie ins Unvermeidliche in christlicher Demut fügen und dahin leben, Kummer im Herzen, wenn sie Gemüt besitzt, unbekümmert, wenn sie phlegmatisch ist? So viele verwickelte Fragen hat die Enquete aufgeworfen und auf keine von ihnen eine befriedigende Antwort gegeben, denn auf eine, die in eine Richtung zielte, kamen zehn entgegengesetzte. Ist es den Einsendern im Figaro nicht gelungen, die Frage bei den Hörnern zu fassen? Oder muß man gestehen, daß jeder einzelne Fall seine besondere Lösung hat und sich resignierend dem Skeptizismus des spanischen Sprichwortes überlassen, das wir an die Spitze fdieser Arbeit gestellt:
„Von den sichersten Dingen |
Angesichts dieser Verwirrung in den Ansichten der Zeitgenossen ist es interessant, zu forschen, ob in der Vergangenheit die öffentliche Meinung ebenso unsicher und widersprüchlich war.
2. „De las cosas mas seguras, / La mas segura es dudar“.
3. * Herodot (I, 197) berichtet einen ähnlichen Brauch von den Babyloniern.
4. * Hier findet sich in der französischen Fassung der Refrain eines Volksliedes, das die Flatterhaftigkeit der Frauen zum Inhalt hat: „Ah! Der heilige Schwur der Frauen von Avignon und Umgebung“.
5. In Paris wurden 1882 31.828 Knaben geboren und 30.753 Mädchen. Auf 1.000 Mädchen kommen also 1.035 Knaben. Aber die Sterblichkeit im Alter unter 15 Jahren betrug 191 bei den Knaben und 156 bei den Mädchen. Die Ziffern sind dem Annuaire statistique de la ville de Paris, Jahrgang 1882, entnommen. Die anderen Jahre liefern entsprechende Verhältniszahlen. In ganz Frankreich kommen auf 1.000 männliche Geburten 942 weibliche, in Europa auf 1.000 neugeborene Mädchen 1.050 Knaben. Man glaubte, das Gegenteil in Asien konstatieren zu können. Aber die offiziellen Publikationen der indischen Regierung zeigen, daß dort auf 1.000 Männer 813, in manchen Gegenden nur 756 Frauen kommen. Die Bevölkerung Japans besteht aus 19.451.491 männlichen und 19.015.686 weiblichen Personen (Resume statistique du Japon 1887, eine Publikation der Regierung von Japan mit französischem Text neben dem japanischen).
6. * Der schottische Ethnologe John Ferguson Mac Lennan (1827-1871) gelangte in seinem Buch: Primitive Marriage – An inquiry into the origin of the form of capture in marriage ceremonies, Edinburgh 1865, unabhängig von Bachofen und Morgan (siehe Anmerkung 36) zu der Hypothese, daß die patriarchalische Familie nicht die ursprüngliche Grundeinheit der Gesellschaft war.
7. * Der französische Romancier und Journalist Alphonse Karr (1808-1890) gründete zum publizistischen Kampf gegen die mit dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 beginnende Herrschaft Louis-Napoleons die Zeitung Journal.
8. Der populäre Liederdichter Pierre Jean de Béranger (1780-1857) kämpfte gegen die Wiedereinsetzung der Bourbonen nach der Abdankung Napoleons am 31. März 1814 und wurde deshalb als Nationalheld gefeiert.
9. * Alexandre Dumas der Jüngere (1824-1894) schrieb Sittenromane und Gesellschaftsstücke (Die Kameliendame).
10. * Hier findet sich in der französischen Fassung der Satz: „Uff! Es steckt ein bißchen von allem in dem Satz!“
11. * Von hinten unter dem hohen Rockansatz gezogener Polster oder Halbreifengestell, das als Stütze für jene Bauschungen des Rockes dienten, wie sie die Damenmode in den Jahren von etwa 1865 bis 1875 vorschrieb.
12. * In einer Replik auf anarchistisch-rationalistische Utopien erklärte Thomas Robert Malthus (1766-1834), daß nur der Eigennutz im institutionellen Rahmen von Privateigentum, Ehe und klaren Klassengrenzen das explosive Bevölkerungswachstum und die damit verbundene komplette Auflösung der Gesellschaftsordnung verhindern könne.
13. Der Dichter Victor Hugo (1802-1885) war der Hauptexponent der französischen Romantik. Seine bekanntesten Werke sind Notre-Dame de Paris (1831) und Les Misérables (1862). Aus Anlaß seines todes schrieb Lafargue im Gefängnis Saint Pelagie (vgl. Friedrich Engels/Paul und Laura Lafargue, Correspondence, I, 290ff.): eine Studie (Die Legende von Victor Hugo, Neue Zeit, VI, 1887-1888, 169ff., 215ff., 263ff.) über seine Gesinnungslumperei – der Wandlung vom Ultra-Royalisten zum glühenden Repunblikaner
14. * Le roi s’amuse – Der König amüsiert sich (1832); eine überarbeitete Fassung ist das Libretto zu Verdis Oper Rigoletto.
15. Marcus Porcius Cato (234-149) führte als Zensor (184) in Rom ein strenges Sittenregiment ein; als Senator forcierte er die Zerstörung Karthagos („Ceterum censeo Carthaginem esse delendam [Im übrigen bin ich der Meinung, daß Karthago zerstört werden muß]“).„
16. Plutarch: Cato Uticensis, XXIX.
17. * „Cours d’amour waren im mittelalterlich-ritterlichen Frankreich jene meist unter Vorsitz einer edlen Dame stehenden Gerichtshöfe, die Liebeszwiste und Fragen der Liebesetikette zu beantworten hatten. Die Institution der Liebeshöfe stammt [...] aus der Provence. Da die Provence in hohem Maß unter dem Einfluß der Katharer stand, die das Fleisch verachteten und den Geschlechtsverkehr nur dann duldeten, wenn er nicht zur Fortpflanzung diente, fielen die Richtersprüche [...] oft außerordentlich zwiespältig aus. Liebesbeziehungen aller Art, einschließlich des gemeinsamen Schlafens eines Ritters mit seiner Herrin in nacktem Zustand waren erlaubt. Eigentlicher Geschlechtsverkehr wurde hingegen nur selten befürwortet“ (Ernest Borneman, Lexikon der Liebe – Materialien zur Sexualwissenschaft, Wien 1984, 173).
18. * In der französischen Fassung wird das Shakespeare-Zitat mit folgender Begründung nicht wiedergegeben: „Shakespeare gibt die Begründung dafür im König Lear (I, sc. II), aber seine Sprache ist dermaßen unanständig, daß ich ihn zu meinem großen Bedauern nicht übersetzen kann“. „
19. * Anstelle der hier in der deutschen Version eingesetzten Shakespeare-Übersetzung unbekannten Ursprungs wurde hier die aus: Werke englisch und deutsch, Berlin-Leipzig 1914, 2, S.16 verwendet.
20. * Der Mathematiker Blaise Pascal (1623-1662) warf als philosophischer Vertreter des Skeptizismus Fragen nach den Grenzen der rationalen Erkenntnis auf.
21. * Der Frühsozialist Charles Fourier (1772-1837) empfahl als Alternative zum Kapitalismus ein System locker föderierter, agrarisch-gewerblicher Lebensgemeinschaften.
22. Charles Fourier: Théorie des quatre mouvements, 2. Thl., V. * Zit. nach Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmung, Frankfurt 1966, S.197. Schon der von Lafargue geschätzte Dichter François Rabelais (1494-1553) drohte in seinem klassischen Werk Gargantua und Pantagruel allen Männern, die sich nicht in ihr unvermeidliches Hahnreitum schicken, an, „sie mit ihren Weibern ganz allein ohne Nebenbuhler auf alle Zeit versauern zu lassen“ (zit. nach: Tausend Jahre Liebe – Klassiker der erotischen Weltliteratur, hgg. von Milo Dor und Reinhard Federmann, Wien 1964, 171).
23. * Zit. nach Fourier, Theorie (siehe Anm. 22), S.166.
Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003