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Le Socialiste, 9. Januar 1886
Sappho, Die Neue Zeit, IV, 1885-1886, 237ff.
Diese Version aus Paul Lafargue, Geschlechterverhältnisse, Hrsg. Fritz Keller, Hamburg 1995, S.195-99. (Die mit * gekennzeichneten Fußnoten stammen aus dieser Ausgabe.)
Transkription: Fritz Keller.
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Monsieur Daudets Roman Sappho hatte bei seinem Erscheinen einen enormen Erfolg: Man riß sich um das Buch, dasy in tausenden Exemplaren abgesetzt wurde [2]; für die Bühne eingerichtet füllt das Sujet das Theater. Es wurde von der Presse gelobt, besprochen und sehr günstig kritisiert. Nur mit Neid und Bewunderung nennen die Schriftsteller, wenn sie darauf zu sprechen kommen, die Summen, die der Roman seinem Verfasser eingebracht hat. Der Erfolg in barer Münze ist die erhabenste Form des Ruhmes für die Bourgeoisie, ihnen ziehen die modernen Künstler und Schriftsteller allem anderen vor. Monsieur Zola [3] nahm in einem seiner kritischen Artikeln die Zahl der Auflagen eines Romans, das heißt, die Zahl der eingesackten Fünf-Franc-Stücke als Maßstab für dessen literarischen Wert. Die gesamte Handels- und Industrie-Bourgeoisie [4] teilt diese Ansicht; sie hat Victor Hugo [5] zum größten Dichter der Vergangenheit und Gegenwart erklärt: Und er starb in der Tat als fünffacher Millionär.
Früher, als das Publikum noch keine Bücher kaufte, waren die Schriftsteller, selbst die genialen, arme Schlucker, die von der Gunst der Fürsten und des Adels lebten, was sie jedoch nicht hinderte, elend zu verhungern. Viele von ihnen wurden Bediente der vornehmen Herren; sie aßen von ihrem Tische, verfaßten ihre Briefe und Liebesgedichte, sie komponierten ihre Lieder. Der Adel hatte seine Dichter und Denker, um seinen Geist elegant herauszuputzen, wie er seine Kammerdiener hatten, welche die Toilette seines Körpers besorgten.
Heute leben die Dichter von ihrer literarischen Kundschaft. Kaum war die französische Bourgeoisie die jakobinische Schreckensherrschaft losgeworden, so warf sie sich auf den Roman. Es schien unmöglich, ihren Heißhunger nach Romanen zu stillen; täglich wurden in Paris neue Romane im Umfang von zwei bis vier Bänden im Palais-Royal feilgeboten, das damals den Namen Palais-Egalité führte. Die Frauen waren es, die in dieser Zeit unzählige Romane in die Welt setzten; die Männer, voll in Anspruch genommen von der Politik, dem Krieg [6], dem Börsenschwindel, dem Diebstahl des Nationalvermögens, verloren keine Zeit mit Schriftstellerei. Der Roman ist die charakteristische literarische Form der Bourgeoisie, er ist mit ihr entstanden, hat sich mit ihr entwickelt. Ich begnüge mich, diese historische Tatsache zu konstatieren; die Erforschung ihrer Ursachen liegt außerhalb des Rahmen dieses Artikels.
Die Bourgeoisie mit ihrer Dienerschaft, den Portieren und Köchinnen, lieferte die große Masse der Roman-Kundschaft. Nebenbei sei erwähnt, daß in den Großstädten im Volk sich eine Kundschaft für eine besondere Gattung des Romans entwickelte, der voll von Verbrechen, kriminalistischen Abenteuern, dramatischen und phantastischen Überraschungen ist. Die Entstehung dieser blödsinnigen und entnervenden Literatur wurde begünstigt, da sie den Geist des Volkes gefangennimmt, es einschläfert, und, gleich den politischen Spielereien des bürgerlichen Radikalismus, vom Studium seiner wirklichen Interessen abbringt. Die Sappho von Daudet hat nicht in dieser Art des Publikums ihre leser gefunden, sondern in den Kreisen der Bourgeoisie, die sich einen ästhetischen anstrich geben und mit ihrer Vorleibe für psychologische Studien prahlen.
Monsieur Daudet hat ein literarisches Gericht zubereitet, das diesem Leserkreis zusagt; er hat ihm eine psychologische Studie serviert, die seinem Geschmack und seinen geistigen Fähigkeiten entspricht. Sappho ist aus mehreren teilen zusammengesetzt, die aus verschiedenen Ecken zusammengestückelt sind; der Roman erinnert an jene Gliederpuppen, die Maler und bildhauer verwenden, um den Faltenwurf übergehängter Gewänder und heroische Körperhaltungen zu studieren. Das Buch erhält seine Anziehungskraft durch die episodischen Personen, durch die Histörchen über die Lebensweise illegitimer Frauen: Die aus dem Leben gegriffenen Details sind mit mutwilliger, aber gezierter und schwammiger Kunst wiedergegeben. Der Roman gefiel der Bourgeoisie, die verlangt, daß man sie mit durch pikanten, geschickt erzählten Klatsch amüsiert; daß man ihre Vorurteile nicht verletzt und ihren Instinkten, Gefühlen und Neigungen schmeichelt. Monsieur Daudet hat den letzten Teil dieser Aufgabe, eine Pflichtübung für jedens Schriftsteller der Bourgeoisie, trefflich gelöst: Es gibt wenige Bücher, die bourgeoiser sind als Sappho. [7]
Der französische Bourgeois ist ein Vernunftwesen, das sich von seinen Leidenschaften nur selten hinreißen läßt; er verheiratet sich, wenn er die Dreißiger erreicht hat, um „damit Schluß zu machen“, wie er sich ausdrückt, wenn ihm nicht durch Zufall schon vorher eine anziehende Mitgift, ein lohnendes Heiratsgeschäft über den Weg gelaufen ist: In diesem Fall opfert er seine Jugend auf dem Altar der Liebe. Sonst aber, da er nicht das Gelübde der Keuschheit abgelegt hat, und nicht einsamen Freuden oder dem Suff ergeben ist, wie der Bourgeoisie-Jüngling Englands, tändelt er mit Mädchen, die in ihren eigenen Körper vernarrt sind. In den längst vergangenen Zeiten von Paul de Kock [8] und Eugéne Sue [9] existierte noch eine Schicht von Arbeiterinnen, die ausreichenden Lebensunterhalt durch die fleißige Arbeit ihrer Nadel fanden, dabei aber übermütige Dinger waren; Freundinnen von Vergnügungen, das Herz am rechten Fleck, zuversichtlich, den Tag nehmend, wie er kam, und ihre Liebhaber ebenfalls, bei einer Ruderpartie nach Saint-Quen, einem Dinner im Palais-Royal, einer Soirée in Ambigu. Diese fröhliche und mit wenigem zufrieden Grisette [10] ist tot und begraben, umgebracht durch pfennigfuchserische Ausbeutung in den großen Magazine und Werkstätten, durch die legale und illegale Prostitution.
Der junge französische Bourgeois muß heute zum großen Mißvergnügen seines Vaters und sonstiger mehr oder weniger natürlicher Verwandten viel Geld ausgeben, um die Zeit zwischen der Pubertät und der Ehe totzuschlagen. Da er keine Grisetten mehr findet, die sich ihm um der Liebe willen hingeben, muß er sich mit den traurigen Frauenzimmern begnügen, welche das Elend und die Ausbeutung ihrer Väter und Onkeln [11] zwingt, sich zu verkaufen, um ihr Leben zu fristen. Aber die Mätresse von heute begnügt sich nicht mit einem Stübchen und einem Fummel; hat sie ein Bourgeois-Söhnchen an der Angel, dann verlangt sie Seide, Pelze und Palissander-Möbel. Sie kostet viel Geld und das macht den Jünglingen Angst. Es bilden sich daher Sociétés anonymes, wirkliche Aktiengesellschaften, um auf gemeinsame Kosten eine Mätresse „standesgemäß“ zu erhalten. Die Kokotte [12] bewilligt dem einen den Dienstag, dem anderen den Samstag, diesem den Nachmittag, jenem die nacht. Mitunter findet der Teilnehmer an einem solchen haushalt auf Aktien mehr als er erwarte. Wie der alte Mathurin Régnier [13] sagt: Wenn er den Fisch bringt, liefert man ihm die Sauce.
Das Ideal dieser Herren ist eine Frau, die sie vor den Fußtritten der Venus sichert [14], kostengünstig ist, und weggeworfen werden kann, wie eine Zitrone, wenn man sie ausgepreßt hat.
Der Held in dem Roman Daudets hat das Glück gehabt, auf eine Frau zu treffen, die alle Bedingungen dieses Ideales erfüllt. Schleunigst hängt er sich an sie. Sappho, die gekräuselte Haare liebt, vernarrt sich in Gaussin, einen albernen, unbedeutenden Kerl. Weit entfernt, ihm Unkosten zu verursachen, sorgt sie für ein trautes Heim; und sie bietet ihm die raffiniertesten Bett-Freuden, ohne daß er es nötig hat, Zeit und Geld damit zu vergeuden, daß er Schürzen nachläuft; sie befreit seinen Onkel aus einer schlimmen Verlegenheit, indem sie ihm 10.000 Francs vorschießt, die sie erworben hat, nur der Teufel weiß, wie; sie verschwindet freiwillig, ohne mit dem Vitriol oder dem Revolver zu drohen, gerade in dem Augenblick, wo unser Held in eine offizielle Laufbahn eintritt und sich als Kandidat für eine gehörige Mitgift präsentiert.
Monsieur Dumas, der Sohn, nicht der Vater [15], sagt in einer seiner Vorreden, deren Seichtheit nur von ihrer Länge übertroffen wird, daß es schwer, wenn nicht unmöglich ist, die Beziehungen zwischen Mann und Frau, wie sie in der „guten Gesellschaft“ tatsächlich herrschen, auf die Bühne zu bringen, ohne die Schamhaftigkeit derjenigen Damen zu verletzen, deren einzige keuschen Körperteil die Ohren sind. Wenn man die Wirklichkeit auf die Bühne verklären und idealisieren muß, um die legitimen und illegitimen Kokotten der Gesellschaft des Monsieur Dumas nicht zu verletzen, dann muß man auch in Romanen mit ihren Gefühlen zart umgehen. Daudet bemüht sich daher um Schönfärberei.
Sappho, die Tochter der Freude, die von den Kanaillen der guten Gesellschaft verdorben worden ist, schenkt ihrem Liebhaber ihre Liebe und noch manches andere, nur wegen des Vergnügens, das sie dabei empfindet. Gaussin, der Geliebte, der sich wie ein Ochse im Stall ruhig bei seiner Mätresse mästet, sich von ihr verhätscheln läßt und ihr dabei nur eine sehr laue Liebe entgegenbringt, er jammert bei Sappho über den Verlust der Freuden, die ihm vielleicht anderswo gelacht hätten, gerät in Verzweiflung, daß er eine Heirat verpaßt, die zu romantisch angelegt ist, um mehr zu sein, als ein unverschämter Schwindel, und wirft ihr schließlich den Zorn seines Vaters vor, der verdient, mit Stroh ausgestopft zu werden, so sehr stellt er sich altmodisch außerhalb des Zeitgeistes. Das ist die verkehrte Welt!
Aber gerade diese verkehrte Welt hat es dem Publikum Daudets angetan. Eine der edlen Leidenschaften der bürgerlichen Seele gebietet, jeden Dienst so gering als möglich zu bezahlen. Der französische Bourgeois liebt es, sich in der Jugend mit Frauen zu amüsieren, aber er hat panische Angst davor, die Frauen, mit denen er gelebt hat, könnten sich eines Tages an ihn wenden und ihn um Unterstützung anflehen. So spielt er sich schon vor der Trennung als Märtyrer auf; er erzählt denen, die das Unglück haben, sich mit ihm zu verbinden, daß er sich opfert, wenn er ihre Gunst genießt, daß er belohnt zu werden verdient, gleich einem Alphonse. [16] Er prellt sie von vornherein.
Daudet durfte diesen Roman mit Zustimmung alle rechtschaffenen Leute seinen Kindern widmen. Ein junger Künstler aus meiner Bekanntschaft, Bourgeois vom Scheitel bis zur Sohle, sagte mir: „Ich wünsche mir eine Sappho, um mein dreißigstes Jahr abwarten zu können.“
Im vorigen Jahrhundert entbrannte der Chevalier Desgrieux [17] in heißer Liebe zu Manon Lescaut: Um ihr zu folgen, sein Leben mit ihr leben zu dürfen, warf er ohne Zaudern alles über Bord, was ihn hinderte, soziale Vorurteile, seine Familie, seine Zukunft, und verlangte von dem charmanten Mädchen nichts, als ihre Liebe. Die Männer des Adels waren imstande, ihre persönliche Interessen zu vergessen. Der Bourgeois hingegen ist ein so egoistisches Tier, daß ihm nicht einmal mehr die Idee kommt, jemand könnte eine solche seinen Interessen zuwiderlaufende Handlung von ihm erwarten.
1. * Anonym erschienen in Le Socialiste, 9. Januar 1886; deutsche Erstveröffentlichung: Sappho, Neue Zeit, IV, 1885-1886, 237ff. Bearbeiter: Kurt Lhotzky. – Der Artikel ist eine „Ergänzung zur Religion des Kapitals“ (Jean Freville in der Einleitung zu Paul Lafargue, Critiques littéraires, Paris 1936, XIII). – Von der griechischen Liebesdichterin Sappho (um 600 v.u.Z.) sind nur zwei ganze Lieder und einige Fragmente erhalten: „Ach Mutter, nicht mehr kann ich am Gewebe wirken; / Kypris, die schlanke, überfiel mich mit der Sehnsucht nach dem Knaben.“
2. * Der Unterhaltungsschriftsteller Alphonse Daudet (1840-1897) gehörte zu den populärsten französischen Romanciers.
3. * Der Dichter Emil Zola (1840-1902) verfaßte neben naturalistischen Romanen über das Industrieproletariat (Germinal) die Streitschrift J’accuse [Ich klage an] im Zusammenhang mit der „Affäre Dreyfuß“.
4. * In der deutschen Version „gesamte Bourgeoisie“.
5. * Der Dichter Victor Hugo (1802-1885) war der Hauptexponent der französischen Romantik. Seine bekanntesten Werke sind Notre-Dame de Paris und Les Misérables. Aus Anlaß seines Todes schrieb Lafargue im Gefängnis Saint-Pelagie 1885 (vgl. Friedrich Engels/Paul und Laura Lafargue, Correspondence, Moskau 1960, I, S.290ff.) eine Studie (Die Legende von Victor Hugo, Neue Zeit, VI, 1887-1888, 164ff., 215ff., 263ff.) über seine Gesinnungslumperei - die Wandlung vom Ultra-Royalisten zum glühenden Republikaner.
6. * „dem Krieg“ in der deutschen Version fehlend.
7. * Satz fehlt in der deutschen Version.
8. * Paul de Kock (1793-1871) schilderte in zahlreichen, populären Romanen die Welt des Pariser Kleinbürgertums.
9. * Eugène Sue (1804-1857) schuf den ersten Zeitungs-Fortsetzungsroman (Geheimnisse von Paris). Er fand in allen europäischen Ländern Leser und Nachahmer.
10. * Spitzname für jene Näherinnen, Wäscherinnen und Putzmacherinnen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts oft einen gemeinsamen Haushalt („menage“) mit einem nicht immer wohlhabenden Studenten, Maler oder Dichter führten. Henri Murgers Scenes de la vie Bohème und die darauf aufgebaute Opern von Giaccomo Puccini und Ruggiero Leoncavallo haben den Typ der Grisette (im Französischen: graue Volkstracht) romantisiert.
11. * Passage von „und“ bis „Onkeln“ in der deutschen Fassung fehlend.
12. * Bezeichnung für die Kurtisanen der Belle epoque (von franz. cocotte = Hühnchen).
13. * Mathurin Régnier (1573-1613) verfaßte Satiren und Gelegenheitsgedichte.
14. * Anspielung auf die Geschlechtskrankheiten, die sich an der Jahrhundertwende epidemisch ausbreiteten: In den USA erkrankten 80 Prozent alle Männer einmal im Leben an einer Geschlechtskrankheit, davon 5 bis 18 Prozent an Syphilis; in deutschen Großstädten litten 1919 40 Prozent alle Männer an Syphilis.
15. * Alexandre Dumas der Jünger (1824-1894) schrieb Sittenromane und Gesellschaftstücke (Die Kameliendame).
16. * Zuhälter.
17. * Abbe Antoine Francois Prevost d’Exiles (1697-1763) verfaßte die Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut, die als Vorlage für das Libretto einer Oper Puccinis diente.
Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003