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Ein verkaufter Appetit [1] |
Zuerst erschienen in: Die Neue Zeit (II [1883–84], 461ff.).
Revidierte französische Fassung in Paul Lafargue: Pamphlets socialistes, Paris 1900, 123ff.
Diese Fassung beruht auf der revidierten französischen Fassung.
Übersetzer des Vorwortes: Harry Lang.
Bearbeiterin des restlichen Textes: Christa Scheuer.
Deutschsprachige Erstveröffentlichung: Pauls Lafargue, Essays zur Geschichte, Kultur und Politik (Hrsg. Fritz Keller), Karl Dietz Verlag, Berlin 2004.
Stellen, die mit einem Stern * versehen sind, sind Einfügungen des Herausgebers.
Transkription: Fritz Keller.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Vor Jahren erzählte mir ein Angestellter von Charenton [2] von einem Manuskript, das ihm von einem der Insassen des Hospizes, der in einer Zwangsjacke gestorben ist, anvertraut wurde. Sein Verfasser, Emile Destouches, der nie wahnsinnig gewesen ist, versicherte mir, er wäre zweifellos auf Weisung von ganz oben eingesperrt worden; denn während seiner Anhaltung isolierte man ihn unter Aufsicht eines besonderen Wärters, der von außerhalb kam.
Die 103 Blätter, die mir der Krankenwärter übergab und die ich noch immer besitze, wurden mit Bleistift hingekritzelt, in einer Art, daß man annehmen könnte, sie seien hastig, heimlich und im Halbdunkel geschrieben worden. Sie beinhalten die folgende Erzählung, die mir so seltsam erschien, daß ich bis jetzt gezögert habe, sie zu veröffentlichen. Aber die letzten Studien der Nervenärzte über Hypnose und die Wechselwirkung der Gehirnhälften haben so kuriose Phänomene enthüllt, daß alle derzeitigen Ansichten über das Bewußtsein, den freien Willen und selbst über die menschliche Individualität umgestürzt wurden. Ich glaube, der Wissenschaft von den Vorgängen im menschlichen Körper einen Dienst zu erweisen, indem ich die Geschichte von Emile Destouches abdrucke. – Ich erinnere daran, daß Chamisso [3], Mary Shelley [4], Hoffmann [5], Balzac und kürzlich Besant und Rice [6] von ähnlichen Fällen berichtet haben. Es liegt an den Ärzten, diese außergewöhnlichen Tatsachen, die von glaubwürdigen Menschen festgestellt wurden, zu sammeln und zu vergleichen, sie zu studieren und sie mit von ihrem übernatürlichen Charakter befreiten religiösen Wundern in Beziehung zu setzen.
Ich habe das Manuskript entziffern, ordnen und zusammensetzen müssen. Aber soweit es mir möglich gewesen ist, habe ich das Wesen des Gefangenen, eines Irren aus Charenton respektiert – der Leser wird beurteilen müssen, was ich meine.
Ich habe seine Erzählung in der dritten Person geschrieben, und ich habe die allzu wirklichkeitsnahen und äußerst ekelerregenden Krankengeschichten für den Leser, der nicht Medizin studiert hat, ausgelassen.
Es war im Monat Dezember. Emile Destouches fror und hatte fürchterlichen Hunger. Weißer Schnee bedeckte die Erde und die Sterne glänzten am Himmel. Ein eisiger Nordwind durchdrang selbst die dichtesten Kleider und nötigte die wenigen Spaziergänger zu einem beschleunigten Tempo.
Das Gesicht blau angelaufen und an Händen und Füßen zitternd stand Emile wie festgenagelt vor dem hell erleuchteten Chevet’schen Schaufenster. [7] Ein Stör von fünf Fuß Länge prunkte mit seiner Größe auf einem Rasenbett; weiße, fette Masthühnchen, mit den Beinen in der Luft, zeigten arglos ihre Hinterteile; Lerchen, Kiebitze und Fettammern [8] hüllten sich frostig in Speckschnitten ein; Äpfel und stolze Birnen, in Papierstreifen gewickelt, ruhten sanft in kleinen Körben. Eine pantagruelische Pastete, mit hochfeiner Schlackwurst [9] und weißgesprenkelten Mortadellen garniert, fesselten ganz besonders seine Aufmerksamkeit. Sie war angeschnitten und ließ ihr rosiges Fleisch sehen, das mit dunkler Leber und schwarzen Trüffeln durchsetzt war. Emile verschlang sie mit gierigen Blicken. Der Unglückliche hatte drei Tagen nichts gegessen. Ein quälender Hunger verzehrte seine Eingeweide, zog seine Kiefermuskeln zusammen und füllte seinen Mund mit Speichel. Ohne auf die Kälte zu achten, stand er unbeweglich da, fixiert vor dem göttlichen Objekt, das seinen Hunger stillen, seine Leiden beenden und ihn mit irdischer Glückseligkeit erfüllten könnte. Ein zerbrechliches Schaufenster nur trennte ihn vom Objekt seiner Begierde. Ein Faustschlag und die Scheibe wäre zerbrochen und er hätte sich der so heiß begehrten Pastete bemächtigen können. Ja, er brauchte nur die Klinke niederdrücken, die Tür aufstoßen, die Arme ausstrecken, die Freude seines Magens ergreifen und sie dem Mund zuführen – doch statt dessen blieb er unbeweglich stehen, sättigte seine Augen und steigerte den Hunger in seinem Körper. – Dieser Feigling!
Ein Angehöriger eines Naturvolkes würde zugegriffen und gegessen haben. Er hätte einfach gesagt: „Ich habe Hunger!“ Aber die Angst vor der Polizei und die Furcht vor der Entrüstung der gesamten zivilisierten Menschheit über dieses offenkundige Verbrechen, lähmte Emile Arme und Beine und erstickte die Stimme der Natur in ihm. Aber was hatte er in seinem Elend eigentlich noch zu fürchten? Er starb bereits vor Hunger und um seine Qualen zu beenden, dachte er an Selbstmord.
„Wozu auch leben? Heute abend werde ich etwas zu essen finden. Aber ich werde morgen gegen den Hunger ankämpfen müssen, übermorgen und immer! Wozu leben, wenn das Leben nichts weiter ist, als Schmerz und Elend?... Man muß damit ein für allemal Schluß machen! Armer Hungerleider, verzehre mit den Augen deine letzte Mahlzeit!“
In seinem Fieber sprach er mit lauter Stimme.
Ein großer, dicker Herr, im Alter von etwa 40 Jahren, mit schwarzem Bart- und Kopfhaar, einem aufgedunsenen Gesicht und einem ungeheuren Bauch, den ein sehr weiter, nur mit Mühe zugeknöpfter Überrock gerade noch umhüllen konnte, hatte ihn aufmerksam beobachtet und klopfte ihm jetzt auf die Schulter.
„Sie wollen Selbstmord begehen?“
„Ja“, antwortete Emile automatisch.
„Sie wollen sich töten, weil Sie Hunger haben?“
„Ja“.
„Sie sind jung und gut gebaut. Sie sind mein Mann. Folgen Sie mir“.
Emile glaubte an einen von der Vorsehung bestimmten Retter in der Not. Er folgte ihm bereitwillig. Der Unbekannte trat bei „Véfour“ [10] ein, stieg die Treppe hoch, begab sich in ein serpates Zimmer, setze sich und lud Emile durch eine freundliche Geste ein, ebenfalls Platz zu nehmen.
Ein kleines Brötchen lag auf dem Tisch. Der Ausgehungert biß mit allen Zähnen hinein.
„Ein wenig Geduld, mein Freund“, sagte der Unbekannte, „schonen Sie Ihren Appetit, dieses kostbarste aller Güter. Warten Sie auf die Geflügelsuppe“.
Im Nu hatte Emile eine ganze Schüssel voll Suppe heruntergeschlungen. Die Austern wurden gebracht.
„Sie stopfen sich ja ganz voll! Das ist reiner Mord, die Ostender [11] mit Brot zu essen. Um Himmels willen, genießen Sie sie doch langsam!“
Der dicke Mann aß nichts. Fasziniert überwachte und beriet er seinen Tischgenossen.
„Mäßigen Sie sich! Kommen Sie doch nicht wieder auf dieses Wachtel-Frikassee [12] zurück! Reservieren Sie sich für den Kapaun von le Mans!“
„Denken Sie daran, daß ein Hummersalat auf Sie wartet!“
Wie ein gewiefter Jockey die Glut seines Vollbluthengstes zurückhält, so mäßigte er die Gefräßigkeit des jungen Mannes. Er wollte durch kalkulierte Unterbrechungen und geschickte Verzögerungen sein Glück ins Unendliche steigern und ihn davon jede Minute auskosten lassen. Oftmals unterbrach sich Emile, um seinem seltsamen Wohltäter zu danken.
„Stören Sie Ihren Appetit nicht durch Worte – Sie werden nicht oft gleich gute Bedingungen vorfinde, sich seiner zu erfreuen. Ich würde 1.000, ja selbst 10.000 Franc geben für einen so große Appetit, wie den Ihren. Speisen ist die höchste Pflicht. Sämtliche Religionen haben daraus einen ihrer geheiligten Riten gemacht. Die feierlichste Zeremonie des Katholizismus ist die Kommunion, das gottverspeisende Abendmahl. Man sollte eigentlich nur mit religiöser Andacht essen, damit sich die Gedanken auf das konzentrieren, was man gerade vollbringt. Die Mönche, diese erhabenen Meister der Gastronomie, verordneten Stillschweigen in ihren Refektorien“.
„Ach! Jetzt kann ich nicht mehr. Ich schulde Ihnen tausendfachen Dank!“
„Heben Sie sich Ihren Dank für bessere Gelegenheiten auf. Ich bin weder ein philanthropischer Freidenker noch ein barmherziger Christ. Ich kann deshalb mit Ihrem Dank nichts anfangen. Nachdem Sie jetzt Ihren Körper befriedigt und Ihr Gehör wiedererlangt haben, hören Sie mir zu! Als Sie mit gierigen Blicken das Chevesche Schaufenster betrachteten, sagte ich mir voller Neid: Wenn ich doch auch so einen Appetit hätte! Das Geld – und ich besitze davon so viel wie ein Jude [13] – verschafft mir die Vergnügen des Geistes und der Sinne, aber ich schere mich nicht darum! Der Appetit steht über dem Geist, über der Liebe! ... Ich lebe nur durch den Bauch und für den Bauch! Ich genieße nur dann, wenn ich esse, wenn ich trinke! Alles andere ist für mich eitel! Ich bin Sch*** [14], das heißt, daß mein Vermögen schwindelerregend ist. Ich kann meine Millionen nicht mehr zählen. Mit 32 Jahren war ich der König der Kohle und des Eisens. Ich kann mich mit Küssen und Ehrgeiz berauschen; alle Freuden dieser Erde stehen mit zur Verfügung. Aber ich verachte sie alle, alle, verstehen Sie! Alle Vergnügen, denen die Menschen nachjagen, würde ich für ein Diner meines Küchenchefs opfern. Dieser talentierte und gelehrte Chemiker ist der einzige Mann, den ich liebe und schätze. Wenn König Salomon, den Jehova mit seiner Weisheit berührt hatte, enttäuscht von den Menschen und von Gott, blasiert von der Wirklichkeit des Lebens und den Träumereien der Intelligenz ausrufen konnte: ‚Alles ist eitel!‘ ,so kam das daher, daß er nur die Freuden der Liebe, das Plaisir des Denkens und die Befriedigung der Allmacht kannte, weil ihm die erlesenen Tafelfreuden fremd geblieben waren. Was bringt denn die Liebe tatsächlich? Ein flüchtiges und miserables Vergnügen: Kaum beginnt es ... Bum! Bum! Schon ist es zerflossen, vergangen, zu Ende!. Die Freuden des Magens erfreuen im Vergleich dazu ewig. Sie dauern deliziöse Stunden um Stunden. Die Menschheit ist im allgemeinen viel klüger gewesen als Salomon. Bei allen Völkern, von den afrikanischen Schwarzen bis zu den asiatischen Chinesen, ist das Zeichen der Überlegenheit ein gut ausgestopfter Bauch, ein Bauch, der so unermeßlich und rund ist wie der Globus“.
„Die kapitalistische Bourgeoisie, die Klasse die die Welt beherrscht, die Klasse, deren höchster und mächtigster Vertreter ich bin, hat jede intellektuelle und manuelle Arbeit abgegeben, um sich der ausschließlichen Entwicklung des Bauches zu widmen, um die Rasse der Großbäuchigen zu schaffen. Soll ich Ihnen sagen, was meines Erachtens eines der größten und charakteristischesten Zeitereignisse ist? Weder die Entdeckung des Telephons, noch die Erfindung des Dynamits, noch die Erhebung der Commune, noch die Niederlage von Sedan. Es ist eine Medaille, die im Auftrag von Gelehrten, Künstlern, Philosophen, Schöngeistern, Politikern, der Blüte der intelligenten und feinsinnigen Bourgeoisie geprägt wurde, um die kommenden Jahrhunderte daran zu erinnern, daß sie mitten in dem belagerten, bombardierten, blutbefleckten und vor Hunger heulenden Paris so gut gegessen und getrunken haben, wie auch sonst immer. Es bedurfte einer erhabenen Seelengröße, um sich über das ringsherum schreiende Elend und den Jammer des Volkes zu erheben, um mit der größten Ruhe und Gelassenheit die heiligste Funktion des Menschen zu erfüllen. [15] Die Inder, diese abstrakten Metaphysiker der Quintessenz von den Völkern der Erde, geraten bei der Betrachtung ihres Nabels, dieses zentralen Punktes am menschlichen Bauch, in mystische Ekstase. Der Bauch ist die einzige, die wahre Gottheit der Menschheit: Nur, um ihn zufrieden zu stellen, pflügt man die Erde und überquert man die Meere. Der Bauch ist die unzerbrechliche und immer gespannte Feder der menschlichen Taten, um ihn zu füllen, sammelt und transportiert man in den großen Städten die Produkte von überall. Seine Bedürfnisse sind zahlreich und sein Appetit ist ungeheuer und wächst ständig. Sie vereinen brüderlich die Völker des Erdballs. Der Teufel soll mich holen! Ich glaube, ich halte eine Rede. Dieses Thema verführt mich zum Philosophieren, aber kehren wir auf die Erde zurück ...! Ah! Welch’ trauriges Tier ist doch der Mensch, wie tief unter den Tieren stehend. Die Natur hat ihn stiefmütterlich behandelt. Er besitzt weder den endlichen Hals der Giraffe, um lange und langsam das Bouquet der Weine zu verkosten, noch den unersättlichen, unermüdlichen Magen der Ente. Er badet nicht wie die im Eingeweide lebenden Würmer in seiner Nahrungsflüssigkeit, indem er durch alle Poren und zu allen Zeiten ißt. Nein, der Magen des Menschen ist beschränkt, und um das Unglück voll zu machen, sind die Augen größer als der Magen. Aber wenn mein Magen die menschlichen Schwächen teilt, so kann ich seine Macht wenigstens dadurch erweitern und verstärken, daß ich den Appetit eines anderen kaufe, wie andere bereits die Tugend und das Gewissen erwerben. Ich schlage Ihnen vor, mir Ihre Verdauungszeit zu verkaufen, geradeso, wie der Arbeiter seine Muskelkraft, der Ingenieur die Kraft seiner Intelligenz, die Amme ihre Milch samt mütterlicher Pflege verkaufen“.
„Ist das möglich?“
„Absolut. Sie werden den Appetit produzieren und liefern, ich werde für Sie essen und trinken, und Sie werden dann gesättigt sein. Einige Sittenapostel – o, diese unheilverkündenden und jämmerlichen Tiere auf zwei Füßen – haben in schulmeisterlicher Manier die Verachtung dessen gelehrt, was sie geringschätzig als Gaumenfreuden bezeichneten. Sie sind noch jung und naiv genug, um auf diese Verschrobenheiten hereinzufallen. Verkaufen Sie mir Ihren Appetit, der Sie zur Arbeit und Elend verdammt, und ich liefere Ihnen das nötig Geld, daß Ihnen jetzt fehlt; ich bezahlen Ihnen eine monatliche Rente von 1.500 Francs“.
„Aber ...“.
„Kein aber! Sie finden die Summe zu gering. Sagen wir 2.000. Bedenken Sie, daß Sie heute abend – wenn sie auf mein Angebot nicht eingehen – nicht wissen werden, wo Sie Ihr Haupt hinlegen und wo Sie morgen essen sollen. Wenn Sie auf den Handel einsteigen, so werden die schönen Freudenmädchen [16] Sie in ihr Bett aufnehmen“.
Die Augen Destouches glänzten.
„2.000 Francs! 2.000 Francs im Monat, das gefällt mir! Was habe ich zu tun?“
„Einen Kontrakt vor einem Notar zu unterzeichnen. Schauen Sie mich nicht so an; zum Teufel, ich bin nicht der Satan... Ich bin nur wie Sie ein einfacher Sterblicher. Aber niemand hat meine Macht besessen. Mein Wissen übersteigt das der anderen Menschen. Napoleon I., so mächtig er auch war, Darwin, so gelehrt er auch war, konnten nicht zweimal dinieren. Ich hingegen besitze diese mysteriöse Fähigkeit. Das 19. Jahrhundert ist, wie der große Philosoph der Bourgeoisie Auguste Comte erklärte, das Jahrhundert des Altruismus. In keinem früheren Zeitalter hat man es so vollkommen verstanden, aus einem anderen Nutzen zu ziehen. Die Ausbeutung des Menschen durch den Kapitalisten hat eine solche Vollendung erreicht, daß die Ausnutzung selbst der allerpersönlichsten und allerindividuellsten Eigenschaften zugunsten Dritter möglich ist. Um seinen Besitz zu verteidigen ruht sich der Kapitalist nicht mehr auf der eigenen Courage aus, sondern auf die als Soldaten verkleideten Proletarier. Der Bankier verbraucht die Ehrlichkeit seines Kassierers, der Industrielle die Lebenskraft seiner Arbeiter genauso wie der Auschweifende das Sexualorgan der Freudenmädchen. Allerdings sind zwei Fähigkeit bisher dem kapitalistischen Altruismus entgangen: das Gebärvermögen der Frau und das Verdauungsvermögen. Niemand ist bisher imstande gewesen, diese Fähigkeiten in Waren zu verwandeln, sie verkaufbar und kaufbar zu machen, wie es bereits bei der Unschuld der Jungfrau, bei der Tugend des Priesters und dem Gewissen des Politikers, dem Esprit des Schriftstellers, der Intelligenz des Chemikers gelungen ist. Der Mensch, der dieses Wunder zustande bringt, wird größer sein als Karl der Große und gelehrter als Newton [17], er wird zum nützlichsten Wohltäter der armen Klassen werden. Die reiche Frau wird nicht mehr ihre Figur verderben, indem sie lange und schmerzliche Monate ihre Leibesfrucht austrägt. Sie würde ihr befruchtetes Ei einer Armen übergeben und während der neun Monate, in welchem die Söldnerin mit dem Blut ihres Fleisches den Fötus der Kapitalistin entwickelt, gibt es eine Unterbrechung in ihrem Elend, zum ersten Mal ruht sie sich aus, ißt und trinkt, soviel sie will. Der Arme braucht seinen schrecklichen Feind, den Hunger, nicht mehr zu fürchten. Sein Hunger wird für den Millionär, der ständig auf der Suche nach diesem teuren Gut ist, das selbst die griechische Philosophie nicht entdeckt hat, ist, eine begehrte Ware sein. Welche Erwerbsquellen für die Armen! Nun, ich verstehe die Kunst, einen anderen verdauen zu lassen, aber ich werde sie erst bei meinem Tod enthüllen“.
„Sie scherzen“.
„Nein, mein Lieber. Wenn ich von einem anderen mein Diner verdauen lasse, ist das nicht ungewöhnlicher, als wenn ich einen Gedanken im selben Augenblick, wo er in meinem Gehirn entsteht, dank der Telegraphie in London und New York ausführen lasse. Ich scherze so wenig, daß ich Ihnen hier 2.000 Francs für den ersten Monat überreiche“.
Sie begaben sich unverzüglich zum Büro des Monsieur Gabarit, der eine sorgfältig ausformulierte Urkunde aufsetzte, die die beiden unterzeichneten.
Emile Destouches verkaufte um 2.000 Francs monatlich für fünf Jahre seinen Appetit an Sch***. Als der Kontrakt unterfertigt war, gab man ihm ein Getränk, das ihn in tiefen Schlaf versenkte. Als er aufwachte, befand er sich im Café La Paix vor einem Glas Bier und einem dicken Frauenzimmer sitzend, das bei seinem Anblick laut auflachte. Er glaubte zu träumen. Er befühlte sich – die Geldstücke, die er eben empfangen hatte, klimperten in der Tasche. Er hatte keinen Hunger mehr; es war also eingetroffen. Der Teufel allein weiß, wo er diesen seltsam begonnenen Abend beendete.
Aller Anfang ist schön, heißt es in der Weisheit der Völker. Anfänglich war Emile Destouches von seinem neuen Leben entzückt. Um 11 Uhr morgens fühlte er, wie ein von Visionen geplagter Gläubiger, Speisen und Getränke in seinem Magen ankommen, die er weder gegessen noch getrunken hatte. Ihren Geschmack empfand er nicht mehr. Aber er war beauftragt, sie zu verdauen. Sein Magen füllte sich durch einen Vorgang, der genauso mystisch war, wie der, der die Jungfrau Maria befruchtete und Joseph einen kleinen Jesus bescherte.
Die Mahlzeit, die er durch Vermittlung seines Mietsherren einnahm, dauerte zwei Stunden. Mit schwerem Kopf und schlaffen Gliedern verbrachte er dann ganze Stunden in einem Halbschlaf, in dem er langsam die Speisen und Weine verdaute, die der andere verschlungen hatte. Gegen drei Uhr machte er einen langen Spaziergang, um seinen übervollen Bauch zu bewegen. Es war dies eine der Vertragsbedingungen. Am Abend füllte sich sein Magen von neuem, und er verfiel wieder in eine schlangenartige Erstarrung. Da er vom Land stammte, gefielen ihm diese Gargantua [18] würdigen, üppigen Mahlzeiten, und in der Zwischenzeit leistete er sich andere Vergnügungen, an die er bisher nicht gewöhnt war: Er kleidete sich mit Eleganz und frequentierte die Freudenmädchen.
„Ich bin nur noch ein Behältnis für Nahrungsmittel, sagte er sich. Mein Leben gleicht dem der Gänse, die man um ihrer fetten Leber willen schoppt“ ... sprach er zu sich, „mein Gaumen degoustiert nicht die Weine, noch schmecke ich die Speisen, die mein Patron mir zur Verdauung einflößt. Aber die Menschen, die den Geruchsinn verloren haben, befinden sich in der selben Lage. Im übrigen wird es ja nur fünf Jahre so bleiben. Während dieser Zeit bin ich nicht nur von den Anstrengungen des Kauens und der Sorge ums tägliche Brot befreit, sondern ich erspare mir jährlich noch 15. bis 20.000 Francs. Genug! Die Arbeiter, die dazu verdammt sind, ihr Leben in den Bergwerken und Spinnereien zu verbringen, würden mich um mein Schicksal beneiden!“.
Indem er sich dabei sagte, daß seine Arbeit vorübergehend wäre und einmal ein Ende haben würde. Er sagte sich, daß, wenn die Arbeit eine Ende finden würde, er im Besitze eines Haufen Geldes sein würde. der ihm ein bürgerliches Leben ohne Arbeit ermöglichen würde.
Die Übungen an frischer Luft und die Freuden der Liebe [19] verhinderten aber nicht die Auswirkungen dieses Mastsystems auf seine kräftige Gesundheit. Er wurde dick, sein Magen träge und sein Gemüt hypochondrisch.
Der Notar, Monsieur Gabarit, bei dem er sein monatliches Gehalt erhob, gab ihm einen derben Verweis. Er warf ihm vor, daß er sich die Nächte mit liederlichen Dirnen um die Ohren schlage. Die Jagd nach Ausschweifungen werde sein Appetit abstumpfen und die Kraft seines Magens schwächen, die jedoch beide ihm nicht mehr gehörten, weil er sie verkauft habe. Er solle sich wie ein Gutsknecht betrachten, den man auf ein Jahr mietet, und der nicht nach eigenem Belieben über seine Zeit und deren Verwendung verfügen könne, vielmehr deren Verwendung auf die Bedürfnisse seines Lohnherren abstellen müsse.
Emile dachte jetzt daran, zu heiraten und sich aufs Land zurückzuziehen.
„Ich werde jagen, reiten und Ackerbau betreiben. Mein Magen wird dann seine ursprüngliche Kraft wiedererlangen und die entsetzlichen Schlundfüllungen meines Patrons aushalten“.
Er reduzierte die Zahl seiner Liebesakte [20] und verdoppelte die gymnastischen Übungen: Aber in dem Maß, in dem sich sein Magen kräftigte und dessen Verdauungsfähigkeit vermehrte, vermehrte sein Arbeitgeber auch die Lebensmittelmengen, die er ihm einfüllte.
Der Notar fand für ihn ein zur Heirat geeignetes Mädchen von wohlgefälligem Äußeren, aus guter Familie und mit begehrenswerter Mitgift. Als der Ehevertrag ausgehandelt und formuliert war, befaßte man sich mit den offiziellen Vorstellungen der beiden Verlobten. Emile kam pomadiert, gebürstet, geschniegelt, gebügelt und freudestrahlend an. Er sah sich im Geist schon als Gutsherr, wie er die Bebauung der Äcker und die Aufzucht der Tiere überwachte. Drei Stunden zuvor hatte sein Patron eine Bärenmahlzeit verschlungen und nach seinen Gewohnheiten sollte er Emile genügend Zeit lassen, sie zu verdauen. Aber kaum betrat dieser den Salon seiner zukünftigen Stiefmutter, da fühlte Destouches, wie sein noch überladener Magen sich von neuem füllte.
Sein Patron hatte soeben Unannehmlichkeiten und war übler Laune. Um diese schlechte Laune zu vertreiben setzte er sich erneut zu Tisch und begann mit Rage zu essen und zu trinken. Die Gerichte, die er verschlang, und die Humpen, die er in sich hineingoß, waren enorm und folgten rasch aufeinander.
Der arme Emile fühlte, wie seine Magenwände sich bis zum Platzen spannten. Er konnte es nicht mehr ertragen. Und er sank in einen Fauteuil. Eiskalter Schweiß bedeckte seine Haut, Übelkeit stieg in ihm auf. – Er konnte es nicht mehr länger auf seinem Platz aushalten und unter Aufbietung aller Kräfte stürzte er aus dem Salon. Auf der Treppe gab er dann in großen Strömen die Speisen und Getränke von sich, die sein Patron unaufhörlich verschlang. Aber in dem Maße, in dem er seinen Magen entleerte, fuhr das Scheusal fort, ihn wie ein Danaidenfaß [21] immer wieder zu füllen. Emile beschmutzte und verpestete das Haus. Voller Scham schleppte er sich auf die Straße und verzichtete auf seine Heiratsprojekte.
Eines Tages aß sein Patron Mandeln und trank dazu schwere spanische Weine. Destouches war im Hippodrom von Longchamps. Die Weine stiegen ihm zu Kopf, er rempelte Leute an, zerriß Frauen ihre Kleider, und ohrfeigte einen Polizisten. Er wurde verhaftet und wanderte ins Arrestzimmer, um dort einen Rausch von Weinen auszuschlafen, die er nicht getrunken hatte. Am folgenden Tag wurde er dem Richter vorgeführt.
„Aufgepaßt“, sprach er zu sich selbst, „daß mein Trunkenbold seine Zecherei nicht von neuem beginnt!“
Was er befürchtet hatte, geschah. Die Weindünste, die ihm vom Magen aufstiegen, machten ihn betrunken. Er beleidigte das Tribunal und wurde während der Sitzung zu zwei Jahren Gefängnis wegen Herabwürdigung des Gerichtes verurteilt. Zum Glück befreite in sein Herr schon nach drei Tagen.
Die Magenarbeit wurde für Destouches von Tag zu Tag peinlicher. Das Scheusal wiederholte seine Mahlzeiten drei bis vier Mal täglich und trank oft, bis er besoffen war. Um sich zu erleichtern, suchte Destouches in einem von den Römern angewandten Verfahren sein Heil: Er steckte den Finger in den Hals, um sich zu übergeben. Aber kaum hatte er seinen Magen entleert, füllte ihn sein Henker wieder. Sein Leben wurde unerträglich. Schon beim Anblick irgendeiner Nahrung, selbst des Brotes, wurde ihm kotzübel. Der Ekel des Blasierten vor allem was lebt, schreit und sich bewegt, hatte sein Seele erfaßt. Er mied die Gesellschaft von Menschen und die Nähe ihrer Wohnungen. Er lebte allein mitten auf dem Feld, ging nur nachts herum, aus Angst, irgendeinem lebenden Wesen – Mensch oder Tier – zu begegnen. Tag und Nacht arbeitete er an der Verdauung der pantagruelischen Mahlzeiten seines Arbeitgebers.
Die Furcht vor dem Elend, dem treuen Gefährten seiner Jugend, hatte ihn bisher gehindert, vertragsbrüchig zu werden. Aber jetzt kapitulierte er. Elend und Hunger waren noch besser, als diese entsetzliche Arbeit, als dieser ewig verdauende Magen. Er begab sich zu Monsieur Gabarit, entschlossen, den Vertrag aufzulösen. Der Notar erklärte ihm jedoch, daß dies unmöglich sei. Er wäre noch für drei Jahre gebunden. Als eine Art Trost fügte er hinzu:
„Sie beklagen sich, weiter nichts zu sein als ein Magen, der verdaut. Aber alle, die ihr Brot durch Arbeit verdienen, befinden sich in der gleichen Lage wie Sie. Sie erlangen ihre Existenzmittel einzig und allein dadurch, daß sie sich dazu verurteilen, nur ein Organ zu sein: Der Arbeiter ist der Arm, der schmiedet, hämmert, hobelt; hackt, webt; der Sänger der Kehlkopf, der vokalisiert, girrt und trillert; der Ingenieur, das Hirn das rechnet und Pläne zeichnet; das Freudenmädchen ist das Sexualorgan, das fleischliches Vergnügen verkauft. Und die Schreiber in meinem Büro – glauben Sie etwa, daß die sich ihres Hirns bedienen? Daß sie über die Akten nachdenken, die sie schreiben? Sie sind nichts als kritzelnde Finger! In meiner Schreibstube vollbringen sie ihre Hämorrhoiden verursachende Trottelarbeit zehn bis zwölf Stunden und dann nehmen sie sich am Abend noch etwas zum Abschreiben mit nach Hause, um einige Sous dazuzuverdienen. Trösten Sie sich, mein Bester, die Menschen leiden mehr als Sie, und nicht ein einziger erhält für seine Arbeit in einem Jahr so viel, wie Sie für Ihre Magenarbeit in einem Monat einstecken“.
„Das ist traurig, todtraurig. Und ich habe nicht einmal den Trost, mich für den Allerunglücklichsten der Menschen zu halten“.
„Prägen Sie diese Wahrheit in Ihr Gedächtnis ein: In unseren zivilisierten Gesellschaften existiert der Arme nicht mehr für sich selbst, sondern für den Kapitalisten, der ihn nach seiner Phantasie oder nach seinen Bedürfnissen mit diesem oder jenem seiner Organe arbeiten läßt“.
Emile Destouches verließ die Schreibstube tief betrübt. Er irrte durch die Straßen, wie damals, als der Hunger ihm zusetze. Nie hatte er sich so unglücklich gefühlt. Eine freudlose Gegenwart, eine hoffnungslose Zukunft! Er beobachtete verzweifelt den raschen Verfall seiner Kräfte. Er war ausgemergelt und hatte nur noch die Haut auf den Knochen, die Nahrungsmittel, die er verdaute, ernährten ihn nicht, sie durchquerten nur seinen Körper und hinterließen ein dumpfes Hungergefühl und Kopfweh, die ihn beinahe verrückt machten.
Und während er dem Tod im Herzen auf gut Glück irgendwohin marschierte, aß und trank sein Patron, sein fröhlicher Patron, und ließ ihm Speisemassen schwer wie Blei in den Magen fallen.
„Ach! Alle Welt spricht von den Qualen eines Komödianten oder einer Prostituierten, die ein lächelndes Gesicht aufsetzen müssen, selbst wenn ihr Herz blutet. Aber wenn ich, voll Schmerz und aller Dinge überdrüssig, nur eine kleine Pause einlegen will, um mich mit meinen Leiden zu befassen, zwingt mich mein Peiniger, dem ich mehr als meine Seele verkauft habe, zur Arbeit! Und zu welcher Arbeit! Zur allerschrecklichsten! Nur im Tod werde ich Ruhe finden“.
Wahnsinnig vor Schmerz und lebensüberdrüssig ging er die Quais entlang. Das Wasser zog ihn an, er stürzte sich in den Fluß. Aber er wurde wieder herausgezogen und man trug ihn nach Hause. Das kalte Bad hatte ihn ein wenig abgekühlt.
Am nächsten Tag überbrachte ihm ein stark gebauter, fideler Bursche einen Brief von seinem Patron, worin dieser ankündigte, daß er von nun an bis zum Ende seiner Dienstzeit einen Wächter an seine Seite stellen würde.
„Mein Kleiner“, eröffnete ihm sein Kerkermeister brutal, „es hat sich ausgewitzelt! Du gehörst nicht mehr Dir, Du hast Deinen Appetit verkauft und bereits 48.000 Francs dafür kassiert. Du hat die Pflicht zu leben und nicht das Recht, Dich zu töten. – Denn was soll aus dem Patron werden, wenn Du Dich umbringst? Soll der liebe Mensch wirklich alles verdauen, was er ißt – das ist unmöglich! Damit sein Bauch faulenzen kann, muß Deiner sich zu Tode arbeiten. Also, beim ersten Selbstmordrückfall – kracht es! Ich sperre Dich wie einen Verrückten ein, dazu haben ich alle Vollmachten. Aber glaube mir, Du wirst es dann auf der Erde in diesem Leben nicht weit bringen. Ich habe vor Dir schon zwei von Deiner Sorte bewacht. Sie sind im Laufschritt gestorben. Was für eine räuberische Bestie ist unser Brotherr! Der Appetit kommt ihm beim Essen. [22] Aber er macht sich nichts draus. Denn die Verdauungsstörungen betreffen ihn ja nicht. Er stopft so lange in die Verdauungsmaschine hinein, bis sie platzt“.
An Verdauungsstörungen krepieren! Das war also seine Zukunft! Bis dahin hatte er noch in einer Art Scheinfreiheit gelebt, gerade wie der Arbeiter, der bei sich zu Hause für seinen Patron arbeitet. Aber von heute an hatte er, wie die in der Werkstatt seines Patrons eingeschlossenen Arbeiter, einen Aufpasser, der ihn nicht aus dem Auge ließ. Durch die kolossalen Fressereien seines Arbeitgebers niedergedrückt, hatte er die erholsamen Spaziergänge, die in seinem Kontrakt verankert waren, eingestellt. Tag und Nacht lag er der Länge nach hingestreckt und rührte sich nicht vom Fleck, ausgenommen zur Erfüllung der unabdingbaren physiologischen Funktionen. Sein Kerkermeister hatte aber den Auftrag, auf die buchstabengetreue Erfüllung des Vertrages zu achten. Nicht eine einzige Minute der gekauften kostbaren Zeit sollte verloren gehen. Zu früher Stunde zog er ihn aus dem Bett, zwang ihn zu ausgedehnten Spaziergängen auf den Feldern, um seinem Patron einen guten Morgenappetit zu liefern. Am Nachmittag mußte er, obwohl er noch bis zum Hals hinauf vollgeladen war und am liebsten unbeweglich liegen geblieben wäre, aufstehen, ja sogar marschieren und immer weiter marschieren, um die Verdauung zu beschleunigen, um für seine räuberische Bestie frischen, soliden Appetit zu fabrizieren!
Emile verspürte Lust zur Revolte.
„Sträube Dich nicht, mein Kleiner! Du hast es mit einem starken Gegner zu tun! – Du wirst zerschmettert werden! Zu meinem Portefeuille gehören die ärztliche Zeugnisse, die Anordnungen der Polizeipräfektur und des Gerichts, die notwendig sind, um Dich nach Charenton zu schaffen und dort werde ich Dich beim ersten unbesonnenen Schritt mit dem Stock behandeln, wie die Galeerensklaven!“
Emile war niedergeschlagen und ganz verblödet. Er lebte willenlos dahin, ständig verdauend, ständig leidend, ständig voller Ekel. Er stand auf, marschierte und legte sich zu Bett, ganz nach dem Kommando seines Wächters, stumm wie ein Hund, der nicht mehr zu bellen wagt, nachdem er ordentlich geprügelt wurde.
Eines Morgens hatte sein Herr eine noch fürchterlichere Mahlzeit verschlungen als gewöhnlich. Er hatte ganze Schüsseln voller Bouillabaisse hineingeschüttet, pfundweise Öl-Brandade [23] und rohes oder sonstwie schwer verdauliches Fleisch verschlungen, und darüber noch einen Berg von Makkaroni [24] geschüttet. Emile fühlte sich wie zerschlagen, lag zwei Stunden im Tiefschlaf. Dann wurde er auf seinen Verdauungspaziergang getrieben. Die ungeheure Menge unverdauter Lebensmittel lag ihm wie ein Ziegelstein im Magen. Mühsam bewegte er sich an der Seite seines Wärters fort. Dort, wo der Berg eine Krümmung macht, stieß er auf eine Gruppe vergnügt schwatzender und lachender Männer und Frauen. Sch*** befand sich in ihrer Mitte – er war der heiterste. Sein breites, weithin schallendes Gelächter tönte wie eine Fanfare und riß seine Gefährten zu Beifallsstürmen hin.
Welche grobe und plumpe Heiterkeit, sagte einer von ihnen. Konnte man wirklich glauben, daß sich dieses Vieh eben mit Lebensmittel vollgestopft hatte, die zehn verhungerte Bauern in Angst und Schrecken versetzt hätten?
Der Anblick seines glücklichen und wohlgelaunten Patron brachte Emile zu einem Entschluß: Er stürzte durch die Menge und warf sich zu seinen Füßen. Er weinte, schilderte seine Leiden, seinen Ekel, flehte um Erlösung, erbot sich, das erhalten Geld rückzuerstatten. Nur ausruhen wolle er und nicht länger für einen anderen verdauen müssen.
„Was erlaubt sich dieser spinnende Narr!“ sagte Sch***, indem er ihn mit den Füßen wegstieß.
Der Wächter packte Emile beim Kragen und schleppte ihn querfeldein mit sich fort. Als sie zu Hause ankamen, bestrafte er ihn mit der Bastonade. [25] „Das wird Dich lehren, Deinen Patron nicht mehr zu belästigen“.
Destouches hatte sich passiv unterworfen, aber selbst Lämmer können zu Wölfen werden.
„Ich habe gearbeitet und ich habe mich abgemüht, damit der andere sein Vergnügen hat. Ich habe alles erduldet und wenn ich am Ende meiner Kräfte weinte, schlug man mich. Der Tod ist nahe ... Nur Mut! Ich habe nichts zu verlieren!“
Er entwischte der Aufsicht seines Wärters und lief zu seinem Henker. Sch*** wollte sich gerade zu Tisch setzen. Er war bester Laune und kupferrot im Gesicht – frisch, gesund, mit ruhigem Gewissen. Als er Emile zerrauft, mit fliegenden Haaren, wild mit der Pistole in der Hand fuchtelnd, erblickte, ergriff ihn Panik.
„Hilfe!“, schrie er, „Bring’ mich nicht um!“
„Niederträchtiger Feigling! Schwein! Freßsack! Seit zwei Jahren folterst Du mich, damit Du schlemmen kannst.! Du wirst nichts mehr essen!“
Mit einem Revolverschuß streckte er ihn zu Boden. Er hielt ihn für tot, eilte zur Polizeiwache des Quartiers und erzählte seine Geschichte. Der Kommissar hielt ihn für verrückt. Sein Wächter, der ganz atemlos nachkam, bestärkte ihn in dieser Meinung. Irrenärzte untermauerten sie mit wissenschaftlichen Argumenten. Nach einigen Wochen starb Sch*** an dem Bauchschuß und nahm das Geheimnis seiner pantagruelischen Festessen mit ins Grab.
Emile Destouches ist gegenwärtig in Charenton eingesperrt, wo er sich kalte Duschen und Zwangsjacke dafür gefallen lassen muß, daß er seinen Appetit verkauft hat.
1. *Diese Satire erschien ursprünglich nur auf Deutsch in der Zeitschrift Neue Zeit (II [1883-84], 461ff.). Die französische Fassung wurde erst Jahre später als völlig überarbeitete Version publiziert (in Paul Lafargue: Pamphlets socialistes, Paris 1900, 123ff.) – im deutschen Text war noch der zwischenzeitlich verstorbene republikanischen Ministerpräsident, Léon Gambetta (1838–1882) Zielscheibe seines Spottes gewesen. Der vorliegende Text folgt der revidierten französischen Fassung, die damit erstmals auf Deutsch veröffentlicht wird.
Übersetzer des Vorwortes: Harry Lang. Bearbeiterin des restlichen Textes: Christa Scheuer.
2. * Charenton-Saint Maurice ist die bekannteste Irrenanstalt in Paris, in der auch Marquis de Sade inhaftiert war. In der französischen Umgangssprache wird der Name der Anstalt auch als Synonom für Schwachsinn verwendet: „Un pensionnaire de Charenton [Ein Pensionär von Charenton]“ oder „Un homme digne d’aller à Charenton [Ein Mensch, der nach Charenton gehen sollte]“ bedeutet „Un fou, un homme qui perdu la raison [Ein Narr, ein Mensch, der den Verstand verloren hat]“
3. * Adelbert von Chamisso, eigentlich Louis Adélaide de C. de Boncourt (1781–1838), romantischer Schriftsteller aus lothringischem Adelsgeschlecht, der vor der Revolution nach Preußen flüchtete. Weltruhm erlangte er durch die Geschichte des Mannes, der seinen Schatten verkaufte (Peter Schlemihls wunderbare Geschichte).
4. * Mary Wollstonecraft Shelley (1797–1851) schrieb Romane mit Anklängen an Science Fiction, u.a. Frankenstein oder der moderne Prometheus.
5. * In Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns (1776–1822) literarischem Werk gehen realistische Alltagswelt und Geisterwelt unvermittelt ineinander über. Lafargue spielt wahrscheinlich auf seine Dichtungen Die Automaten und Der Sandmann an.
6. * Walter Besant und James Rice verfaßte zusammen eine Serie phantastischer Trivialromane: ’Twas in Trafalgar Bay (London 1879), When the ship comes home (Hamburg 1880), Ready-money Mortiboy (Leipzig 1884).
7. * Chevet ist ein berühmter Delikatessenhändler im Palais Royal in Paris.
8. * Ammern sind eine Unterfamilie der Finkenvögel. Die Fettammer, auch Ortolan, ist ein ca. 16 cm langer Vogel, der in Südeuropa schon seit den Zeiten der Römer gemästet und gegessen wird.
9. * Eine der Cervelatwurst ähnliche Dauerwurst.
10. Der bereits 1740 als „Café de Chartes“ gegründete Restaurant „Le grand véfour“ existiert nach wie vor im Torbogen 17, rue Beaujolais, 75001 Paris, als Schlemmertempel mit drei Sternen und drei „toques [Hauben]“. Im Laufe seines Bestehens verköstigte das Lokal eine große Anzahl illustrer Gäste: Joséphine und Bonaparte, Victor Hugo, George Sand, André Malraux. ...
11. * Gemeint sind die berühmten Parkaustern aus Ostende.
12. * Kleingeschnittenes Fleisch in heller Soße.
13. * Lafargue stellte in einem Artikel Die Meinung der sozialistischen Partei zu den Juden (Le Cri du Peuple, 2. Oktober 1886) klar: „Die Sozialisten hassen niemanden wegen seiner Rasse oder Nationalität. Sie überlassen diese barbarischen Gefühle den Bourgeois. Ich selbst bewundere das jüdische Volk, das, durch die Jahrhunderte verfolgt und mit Füßen getreten, sich noch nie geschlagen gegeben, nie unterworfen hat. [...] Die Geschichte des jüdischen Volkes ist eines der grandiosesten Dramen der Menschheit [...] Die Sozialisten greifen Rothschild an, weil er das moderne Finanzwesen personifiziert [...] Die sozialistische Partei unterscheidet bei den Menschen nur Kapitalisten und Sozialisten [...] Wir bedauern es, daß es in Frankreich so wenige Juden in unseren Reihen gibt; denn Juden sind fähig, intelligent, unermüdlich und der Sache ergeben“ (Übersetzerin: Emmy Rosdolsky).
14. * Gemeint ist wahrscheinlich der elsässische Großíndustrielle Auguste Scheurer-Kestner (1833–1899), der sich auch als liberale Politiker betätigte (1871 Abgeordneter, einer der Führer der Union republicaine, 1875 Senator, Leiter der Zeitung „la République française“, 1896 Vizepräsident des Senates). Die Familie Kestner ist auch im Recht auf Faulheit (Reprint: Wien o.J., 20) und in Die christliche Liebestätigkeit Gegenstand von Lafargues Spott.
15. Die Medaille, von der Sch*** spricht, wurde in der Pariser Münzanstalt zu Ehren des Restaurateurs Paul Brédant geprägt. Sie trug folgende Inschrift.
Auf der Vorderseite: |
Pendant |
Zu deutsch: „Eine Anzahl Personen, die gewohnt waren, sich alle 14 Tage bei Monsieur Brébant zu versammeln, haben dabei während der Belagerung von Paris kein einziges Mal bemerkt, daß sie in einer belagerten Stadt mit zwei Millionen Einwohnern speisten. 1870-71“.
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Auf der Rückseite: |
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A monsieur |
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Ernest Rénan |
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Ch. Edmond |
Paul de St. Victor |
Thurot |
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M. Berthelot |
J. Bertrand |
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Ch. Blanc |
Marey |
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Schérer |
Ed. de Goncourt |
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Dumesnil |
Théophile Gautier |
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A. Neffizer |
A. Hebrard |
16. * Im Französischen „les belles filles du boulevard“.
17. * Isaac Newton (1643–1727) wirkte bahnbrechend auf dem Gebiet der Physik (Grundgesetze der Bewegung, Lehre von der Gravitation, Untersuchung der Spektralfarben).
18. * Gargantua, die Hauptfigur im gleichnamigen Roman von François Rabelais (1494–1553) vertilgte bereits zum Frühstück „schöne, gebratene Kutteln, feinen Rostbraten, saftigen Schinken, herrlichen Rehziemer und beträchtliche Mengen Morgensuppe“ (München 1914, 76 [XXI]).
19. * Im Französischen „les travaux des Venus“.
20. * Im Französischen „passades d’amour“.
21. * Nach der griechischen Sage ermordeten die 50 Töchter des Königs Danaos ihre Männer. Als Strafe dafür mußten sie in der Unterwelt ständig Wasser in ein löchriges Faß füllen.
22. * „... aber der Durst geht beim Trinken“ – bekanntes Zitat aus François Rableais’ Roman Gargantua, 25 [V]).
23. * Bouillabaisse ist eine Fischssuppe, Brandade gehackter Stockfisch mit Öl.
24. * Makkaroni sind lange, röhrenförmige Teigwaren.
25. * Prügelstrafe, die mittels Lederriemen auf den Füssen und am Rücken vollzogen wird.
Zuletzt aktualisiert am 23. Juli 2018