Paul Lafargue

Kritischer Essay über die Französische Revolution des 18. Jahrhunderts [1]

(1883)


Geschrieben 1883 zusammen mit Jules Guesde im Gefängnis.
Zuerst veröffentlicht in Etudes socialistes, Paris 1903, 2, 66ff.
Übersetzerin: Christa Scheuer.
Deutschsprachige Erstveröffentlichung: Pauls Lafargue, Essays zur Geschichte, Kultur und Politik (Hrsg. Fritz Keller), Karl Dietz Verlag, Berlin 2004.
Stellen, die mit einem Stern * versehen sind, sind Einfügungen des Herausgebers.
Transkription: Fritz Keller.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Alle Geschichtsschreibungen der Revolution – die von Michelet [2] und von Louis Blanc [3] ebenso wie die von Abbé Montgaillard [4] und von Adolphe Thiers [5] – stammen von Männern der herrschenden Klasse, deren Vorurteile und Leidenschaften sie wiedergeben. Es handelt sich um deklamatorische Verteidigungsreden, mehr oder weniger faktenreich, aber immer gleich voreingenommen. Ihr parteiischer, enger und irriger Charakter wurde von zahlreichen Monographien beleuchtet, die in letzter Zeit erschienen sind. Diese geben aber, weil sie sich auf eine Person oder ein Ereignis der Revolutionsperiode beschränken, zwangsweise keinen Gesamtüberblick, strotzen vor Widersprüchen und müssen einer allgemeinen Kritik unterzogen werden, bevor sie für eine wirkliche noch ausstehende Geschichtsschreibung herangezogen werden können.

Wir kennen nur einen russischen Schriftsteller, N. Kareev [6], der in seinem leider noch zu übersetzenden Werk „Die Bauern und die Bauernfrage in Frankreich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts“ (Moskau 1879) beim Studium dessen, was Taine [7] „Die Entstehung des modernen Frankreich“ nannte, den Standpunkt des Volkes einnimmt. [8]

Es gibt unseres Wissens nur einen, Saint-Simon [9], der in der Revolution das erblickte, was sie wirklich ist: ein Klassenkampf. Dieses vorherrschende Merkmal war allen unseren angeblichen Historikern entgangen, in ihrem heiligen Unwissen bezüglich der wirtschaftlichen Phänomene, aus denen Klassen entstehen, die dann aufeinander prallen.

Ohne den Anspruch zu erheben, eine derartige Lücke zu füllen – zumindest noch nicht jetzt – so wollten wir doch mit der vorliegenden Arbeit einen ersten Meilenstein auf dem neuen Weg setzen, der eingeschlagen werden muß um diese große Epoche zu verstehen und ihre augenscheinlichen Widersprüche zu lösen.

Wie für Karl Marx, der eines Tages, weitaus berechtigter als Herodot, „Vater der Geschichte“ genannt werden wird [10], sind für uns die menschlichen Gesellschaften keine einfachen Formen, sondern Konstrukte aus Klassen mit gegensätzlichen Interessen. Jede Klasse besteht aus Individuen, verbunden durch die selben wirtschaftlichen und politischen Interessen. Jede Klasse führt ihr eigenes, um nicht zu sagen individuelles Leben; sie wird geboren, entwickelt sich und zerfällt mehr oder weniger schnell, je nach den wirtschaftlichen und politischen Umständen in denen sie sich bewegt und zu deren Entstehung sie beiträgt. Der Fortschritt, der Entwicklungsstopp, der Verfall der Gesellschaft sind das Produkt dieses Gebildes und seiner inhärenten Klassenkämpfe.

So mußte sich die nach Beendigung der Barbareneinfälle entstandene französische Bourgeoisie, sowohl gegen „das einfache Volk“, die „einfachen Leute“, aus denen sie selbst hervorgegangen war, stellen als auch gegen die Aristokratie, die ihr bei ihrem Entwicklungsprozeß im Weg stand. Die blutigen Kämpfe des ganzen Mittelalters, die Bauernaufstände, die sogenannten Religionskriege, waren Etappen dieser doppelten Kampagne, die sich über mehrere Jahrhunderte hinzog und die erst mit dem großen Aufstand von 1789 die siegreiche Krönung fand. Nun macht die straff organisierte Bourgeoisie „tabula rasa [reinen Tisch]“ mit den überholten Privilegien des Adels, des Klerus, der Provinzen, der Städte, der Stände und der Bauern. Sie zerbricht die alten sozialen Schablonen, die ihrer historischen Expansion entgegenstanden.

Ihr Ehrgeiz hält sich aber in Grenzen: Freiheit von Handel, Finanz und Industrie mit Hilfe einer verbürgerlichten Monarchie, auf Kosten der beiden privilegierten Stände. Trotz diesem so persönlichen Ziel gab sie sich als Vorreiterin und als Befreierin der Menschheit, weil sie, mit der für Klassen wie auch für Individuen typischen Verblendung, in ihrer eigene Befreiung die Befreiung aller sieht: mit dem Verschwinden der eigenen Leiden sollten alle sozialen Ungerechtigkeiten ausgelöscht sein.

Im Anschluß daran war sie gezwungen, aufgrund des hartnäckigen Widerstandes des vom verbündeten Europa unterstützten „ancien regimes [alten Regimes]“, die Bauern- und Arbeiterklasse zu Hilfe zu rufen. Um dem inneren Widerstand und den ausländischen Mächten zu begegnen, mußte sie die Massen in Bewegung setzen. Dazu mußte sie, die phrygische Mütze [11] auf dem Kopf, den Sansculotten [12] spielen. Denen, die sie brauchte, mußte sie eine Milliarde des Nationaleigentums versprechen und sie mit Phrasen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit betrunken machen. [13]

Zur selben Zeit jedoch, als sie das Volk, seine Energie und seine Wut am meisten ausnützte, um die äußere und die innere Reaktion niederzuwerfen, ergriff sie auch Vorsichtsmaßnahmen gegen das niedere Volk in Stadt und Land. Ihm wurden die Kosten für die entstehende neue Ordnung aufgebürdet. In ihrem erbitterten Duell gegen den Feind von oben vergaß sie keine Minute den Feind von unten. Sobald er aus seiner mystifizierten Rolle der Rolle des Irregeführten ausbrechen wollte, wurde er unerbittlich unterdrückt.

Dieser doppelte, mit der gleichen Maßlosigkeit geführte Kampf gegen eine veraltete und zusammenbrechende Autorität und gegen das entstehende und noch unbewußte Proletariat ist der Ausgangspunkt für die revolutionären Ausbrüche der Großbürger des vergangenen Jahrhunderts und ihre reaktionären Umkehrungen, für ihren humanitären Mystizismus und ihre Korruption von Emporkömmlingen.

Ohne diesen doppelten Kampf könnte man sich nicht erklären, wieso jene, die sich so laut auf die Freiheit beriefen, zugleich im Namen der Freiheit Ausnahmegesetze gegen die Arbeiter-Assoziationen schmiedeten; wieso sie, mit dem zu errichtenden „Reich der Brüderlichkeit“ im Mund, diese brüderliche Ära mit einer Reihe von Massakern am Volk einweihten; wieso sie die Bauern mit Brandfackeln gegen die Schlösser jagten, und zugleich den adeligen und bürgerlichen Großbesitzern halfen, die selben Bauern aller Rechte und ihres jahrhundertealten Besitzes zu berauben.

Es wäre unmöglich nachzuvollziehen, wie die gleichen Männer, Voltaire-Anhänger [14] bis hin zum Atheismus, Gott per Dekret abschafften, ihn durch ein anderes Dekret wieder einsetzten, sich für die mystisch-romantischen Ausflüsse eines Chateaubriand begeisterten und mehr Altäre aufstellten als sie je zerstört hatten; und wie sie, nachdem sie zuerst jedes Joch abwerfen wollten, den bonapartistischen Despotismus riefen, um zuletzt elendiglich auf der Charte und den konstitutionellen Garantien [15] zu stranden.

Es wäre unmöglich zu verstehen, wie die famosen, vor einem Jahrhundert proklamierten Menschenrechte, zu einer neuen Versklavung der Menschheit, von Männer, Frauen, Kindern, führten, schlimmer als je zuvor.

Stellt man diesen doppelten Kampf in Betracht, so ist im Gegenteil die Einheit der Revolution des 18. Jahrhunderts wieder hergestellt, indem man sie auf das Maß einer Klassen-Revolution zurückschraubt, nämlich die Revolution des dritten Standes. Als solche mußte sie gegen den aufsteigenden vierten Stand zwangsläufig genauso konservativ sein, wie sie gegen den absteigenden Adel und den Klerus subversiv sein mußte.

Hätte dieser kritische Essay, den wir unter die Schirmherrschaft des wahren Besiegten dieser Periode stellen, nämlich des Arbeitervolks, auch nur das Verdienst, den Schlüssel zu diesen scheinbar widersprüchlichen Ereignissen, den Geburtshelfern der modernen Welt, zu liefern, so hätten wir eine mehr als nützliche, ja eine unerläßliche Arbeit geleistet.

 

 

Anmerkungen

1. * Dieser Text verfaßten Lafargue und sein Mitstreiter in der Parti Ouvrier Jules Guesde, während die beiden ab den 21. Mai 1883 sechs Monate im Gefängnis Saint Pélagie inhaftiert waren, weil sie angeblich bei Versammlungsreden im mittelfranzösischen Kohlebecken zu Mord, Raub und Brandstiftung aufgerufen hatten. Er sollte die Einleitung zu einem umfassenden Essay über die Revolution 1789 sein, der jedoch nie geschrieben wurde, weil sich kein Verleger fand, der die Kosten für die Veröffentlichung übernehmen wollte. Erst 20 Jahre später erschien die Einleitung in einem Sammelband Etudes socialistes [Sozialistische Studien] (Paris 1903, 2, 66ff.) als Teil einer umfassenden Polemik gegen Jean Jaurès Histoire socialiste de la révolution française (Paris 1901–04 [Reprint hrsgg. von A. Soboul, Paris 1968–73]). Zu dieser Polemik gehört auch „Die Diskussion Jaurès-Lafargue“ über „Die idealistische Geschichtsauffassung“, veröffentlicht in der Neuen Zeit, XIII/2 (1894-95), 578ff., 624ff..

2. * Jules Michelet (1798–1874), volkstümlicher Historiker, stark patriotisch, demokratisch und antiklerikal. Er veröffentlichte eine 17-bändige Histoire de France (1833–1867) und eine siebenbändige Histoire de la révolution française (1847), die unter dem Titel Geschichte der französischen Revolution auch auf Deutsch erschienen ist (F/M. 1988).

3. Jean Joseph Louis Blanc (1811–1882), Frühsozialist, Gegner jeder gewaltsamen Revolution, 1848 Mitglied der provisorischen Regierung und Vorsitzender der (machtlosen) Arbeiterkommissionen. Die bürgerlichen Mitglieder dieser Regierung diskreditierten Blancs Ideen, indem sie „Nationalwerkstätten“ erichteten, in denen 118.000 Menschen mit sinnlosen Erdarbeiten beschäftigt wurden. 1871 Mitglied der Nationalversammlung, Gegner der Commune. Er schrieb eine fünfbändige Histoire de dix ans 1830-1840 [Geschichte der zehn Jahre 1830-1840] (1841–1844) und eine 12-bändige Histoire de la révolution française (1847–1862).

4. * Jean Gabridele Maurice Rocques Comte de Montgaillard verfaßte unter anderem die Bücher De la restauration de la monarchie des Bourbons [Über die Restauration der Monarchie der Bourbonen] (Paris 1814) und Histoire de France, depuis la fin du regime de Louis XVI. jusqu’a l’annèe 1825 [Geschichte Frankreichs vom Ende des Regimes Ludwig XVI. bis zum Jahr 1825] (Paris 1827). Im zuletzt erwähnten Werk findet sich im Band 1, I-VIII, eine ausführliche Notice sur l’auteur [Notiz über den Autor].

5. * Der französische Staatsmann Louis Adolphe Thiers (1797–1877) verfaßte eine zehnbändige Histoire de la révolution française (1823–1827), die in Deutsch unter dem Titel Geschichte der französischen Staatsumwandlung erschienen ist.

6. * Der Historiker Nikolai Ivanovitsch Kareev (1850–1931) war Professor in Warschau und Petersburg, von 1929 an Honorarprofessor an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Mit seiner dreibändigen Istoriki Franszuskoi revoliutsii (Lenigrad 1925) verfaßte er die erste Historiographie der französischen Revolution. Marx und Engels äußerten sich begeistert über seine Studien (MEW34, 286; 37, 125).

7. * Der französische Kulturkritiker, Historiker und positivistisch orientierter Philosoph Hippolyte Adolphe Taine (1828–1893) verfaßte das Buch Les origines de la France contemporaine, das unter dem deutschen Titel Die Entstehung der modernen Frankreich erschienen ist (Berlin-F/M. 1954).

8. * Erwähnen wir auch noch einen Artikel von einem von uns, Lafargue, in der russischen Zeitschrift Oustoi über Die Bauern und die französische Revolution.

9. * Claude Henri de Rouvroy Comte de Saint Simon (1760-1825), Frühsozialist, kämpfte im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. In seinem Buch De la reorganisation de la societé européenne (1814) forderte er, daß die Elite Arbeit für alle schaffen und den zu erreichenden Wohlstand der zahlreichsten und ärmsten Klasse zugute kommen lassen müsse.

10. * Aufgrund seiner als Historien (München-Zürich 1988) zusammengefaßten Bücher über die Geschichte des Morgenlandes und Griechenlands.

11. * Mit der Spitze nach vorne überhängende Mütze der kleinasiatischen Griechen, die zum Vorbild für die Jakobinermütze wurde.

12. * Bezeichnung für die Demokraten, weil sie keine Kniehosen (culottes), sondern lange Hosen (pantalons) trugen.

13. * Nach der Revolution wurden die Besitzungen der Geistlichkeit unter dem Namen „Nationalgüter“ verkauft. Die Gesetzgeber der konstituierenden und der gesetzgebenden Versammlung sahen darin ein Mittel zur Bereicherung des Bürgertums auf Kosten der Geistlichkeit und des Adels. An die armen Bauern dachte man dabei nicht, ja man verbot sogar den Zusammenschluß der Bauern zu kleinen Gesellschaften, um sie so um Erwerb der Nationalgüter zu hindern. Um angesichts der militärischen Bedrohung Frankreichs den Unmut über diese Maßnahmen zu dämpfen, dekretierte der Konvent gegen Ende 1793, daß eine Milliarde Nationalgüter den Sansculotten-Freiwilligen, die in den Armeen kämpften, reserviert werden sollte. Dieses Dekret wurde jedoch nie umgesetzt.

14. * Voltaire (François-Marie Arouet) (1694–1778) war einer der Hauptvertreter der Philosophie der Aufklärung und Mitarbeiter an der Enzyklopädie.

15. * Mit der Charte constitutionelle oktroyierte Ludwig XVIII. nach der Restauration der Bourbonen am 4. Juni 1814 eine Verfassung, die ein Parlament mit zwei Kammern nach englischem Vorbild vorsah. Adel und das reiche Bürgertum sollten auf diese Weise an der Macht partizipieren, während das Volk durch ein an einen hohen Zensus gebundenen Wahlrecht von jeder Beteiligung ausgeschlossen wurde.

 


Zuletzt aktualisiert am 2.2.2004