Karl Korsch

 

Marx’ Stellung in der europäischen Revolution von 1848

(März 1948)


Zuerst veröffentlicht in Die Schule, Jg.III, Nr.5, Mai 1948.
Nachgedruckt in Karl Korsch, Revolutionärer Klassenkampf, kollektiv Verlag, Berlin ohne Datum, S.7-26.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


„In Frankreich ist dies Prinzip in die Wirklichkeit hinausgestürmt, was dagegen in Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten ist, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und eine Reaktion dagegen.“
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 1805-1830

„Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution hatten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.“
Marx, Deutsch-Französische Jahrbücher, 1844

„Man kann sagen: Erst die Gegenrevolution in Deutschland beweist die volle geschicht liche Existenz der Revolution.“
Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848-1849, Bd.II, 1931

Wie schon im I. Weltkrieg 1914-1918, so wurde auch im II. Weltkrieg und bis zum heutigen Tag gegen die Deutschen die Anklage erhoben. daß sie nicht demokratisch wären. Nicht nur die Hitler-Deutschen, sondern alle Deutschen; nicht nur jetzt, sondern von jeher; nicht nur in der äußeren Erscheinung, sondern nach ihrem Wesen. Nur durch eine radikale, mit den stärksten Zwangsmitteln ernstlich und für lange Zeit durchgeführte neue Erziehung würde es vielleicht in Zukunft doch noch gelingen, dieses undemokratische Wesen des deutschen Volkes von Grund auf zu verändern, nur auf diesem Wege könnten die Deutschen auf das geschichtliche Niveau der westlichen Nationen heraufgehoben und damit zugleich die letzteren vor einem nochmaligen Anschlag dieser zurückgebliebenen Barbaren auf die- demokratische Zivilisation bewahrt werden.

Vom geschichtlichen Standpunkt enthält diese Anklage nichts, was nicht seit 100 oder 150 Jahren von allen guten Europäern in Deutschland ununterbrochen und in den verschiedensten Formen gesagt worden wäre. Da sind die großen idealistischen Verkünder einer fortschrittlichen Erziehung des Menschengeschlechts und einer neuen Auffassung der Geschichte als einer Entwicklung zu Freiheit und Schönheit, Vernunft. Weltbürgertum und ewigem Frieden. Auf diese erste Generation der Lessing, Kant, Klopstock, Schiller, die an die englische und französische Aufklärung anknüpfen und ihre Ideen und Antriebe selbständig und großartig weiterentwickeln,folgt dann die Generation der von dem ungeheuren Ereignis der großen französischen Revolution unmittelbar ergriffenen Denker, in deren Systemen nach einem Wort Hegels „die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen ist“. Diese philosophische Entwicklung, die in Deutschland bis zum Jahre 1840 ungebrochen fortdauerte, war in der Tat eine auf dem geistigen Gebiet über Waterloo und Versailles hinaus fortgesetzte Form jenes weltgeschichtlichen Prozesses, durch den die Tribunen, Staatsmänner und Generäle der französischen Revolution, die Brissot, Danton, Robespierre und Napoleon, nicht nur in Frankreich die moderne bürgerliche Gesellschaft hergestellt, sondern ihr auch über die französischen Grenzen hinaus eine entsprechende zeitgemäße Umgebung auf dem europäischen Kontinent verschafft haben. Und kein Kritiker des Westens oder Ostens sollte es gerade dieser vom Geist der französischen Revolution sichtlich am tiefsten ergriffenen Generation von deutschen Denkern und Dichtern als einen schmachvollen Abfall vom Geist der modernen Demokratie anrechnen, daß einige ihrer besten Geister später neben der Begeisterung auch die Enttäuschung geteilt haben, die sich nach dem Sieg der Revolution wie in Frankreich selbst auch in allen anderen Ländern Europas verbreitete. Die aus der Revolution hervorgegangene bürgerliche Gesellschaft in ihrer nüchternen Wirklichkeit widersprach so sehr den erhabenen Vorstellungen, die sich ihre Teilnehmer und enthusiastischen Zuschauer von ihren Resultaten gemacht hatten, und dem unbegrenzten Heroismus, der Aufopferung, dem Schrecken, dem Bürgerkrieg und den Volksschlachten, deren es bedurft hatte, um sie in die Welt zu setzen. So ist es kein Wunder, wenn wir nun auch in Deutschland, dem von der französischen Revolution am unmittelbarsten berührten Land, neben der begeisterten Anknüpfung an „die Ideen von 1789 und 1793“ bald auch jenen entsetzlichen Rückschlag gewahren, der sich als politische Romantik, Legitimismus, Verherrlichung mittelalterlicher Institutionen und Ideen, grundsätzlicher Irrationalismus , „organische Staatstheorie“ und „historische Schule“ allenthalben negativ und kritisch gegen dieselben Ideen kehrte, die von einigen der führenden Geister dieser neuen Bewegung noch kurz zuvor mit der größten Begeisterung aufgenommen worden waren.

Man darf bei der Beurteilung der aus dieser Epoche stammenden Äußerungen, die gerade neuerdings wieder mit besonderer Vorliebe als Beweis für die radikal antidemokratische Natur des deutschen Geistes angesehen worden sind, nicht vergessen, daß dies die Zeit war, in der in Frankreich die Restauration der Bourbonen herrschte, in England eine schon in den Anfängen der Revolution von 1789 ihren Ideen feindlich entgegengetretene Tendenz bis zur Reformära 1830-1846 ungebrochen fortdauerte, und auf dem Kontinent die von allen europäischen Mächten außer der Türkei gebildete und auch von England unterstützte „Heilige Allianz“ jede weitere Ausbreitung der von der französischen Revolution ausgehenden Gedanken und Bewegungen gewaltsam unterdrückte.

Auf dieser geschichtlichen Grundlage muß man die weitere Frage untersuchen, von welchen Kräften die Erneuerung und Weiterentwicklung der demokratischen Prinzipien auf dem europäischen Kontinent seit 1830 getragen ist, welche besonderen Schwierigkeiten sie zu überwinden hatte und welche eigentümlichen Verkehrtheiten dem demokratischen Fortschritt infolge dieser Umstände aufgezwungen wurden. Nur so kann man verstehen, wie es dazu gekommen ist, daß ein klarer und vollständiger, nicht wieder zu erschütternder und zurückzunehmender Sieg der Demokratie in Deutschland bis zur Jahrhundertwende dann doch nicht erreicht worden ist. Wenn in Frankreich auf die Revolution die Restauration, auf die neuen revolutionären Bewegungen von 1830 und 1848 die bonapartistische Diktatur und schließlich noch gegen Ende des Jahrhunderts auf den scheinbaren Sieg der Republikaner in der Dreyfuss-Affaire alsbald eine viel stärkere und weitergreifende, in mancher Hinsicht den deutschen Faschismus vorausnehmende Gegenbewegung der militaristischen, monarchistischen und klerikalen Reaktion gefolgt ist, so erscheint auch die schwache und am Ende unzureichende Entwicklung der demokratischen Kräfte in Deutschland nicht mehr als eine spezifisch deutsche Erscheinung, sondern nur noch als besondere Form einer allgemeinen europäischen Entwicklung.

Nur gemessen an jenen großen europäischen Revolutionen, durch die in England und Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert durch jahrzehntelange schwere Kämpfe eine vollständige Umwälzung von Staat und Gesellschaft bewirkt worden ist, erscheinen die Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts als eine verkümmerte und verzerrte Form „der“ Revolution. Auch Karl Marx. der diese ideologische Befangenheit der Revolutionäre des 19. Jahrhunderts in den glorreichen Traditionen der Vergangenheit einige Jahre später mit vernichtender Schärfe kritisiert hat, ist doch während seiner eigenen Teilnahme an der deutschen Revolution von 1848 fortwährend von den gleichen traditionellen Vorstellungen beherrscht geblieben. Er hat dieser einzigen demokratischen Revolution des 19. Jahrhunderts nicht, wie man nach seiner vorhergehenden, in schweren Entwicklungskämpfen errungenen Loslösung von dem unbefangen bürgerlichen Revolutionsstandpunkt seiner politischen Lehrjahre hätte erwarten können, das Programm einer über die bürgerlichen Zielsetzungen hinausgehenden sozialen oder sozialistischen Revolution gegenübergestellt. Er hat sich vielmehr damit begnügt, dieser neuen bürgerlichen Revolution bei jeder Gelegenheit das glorreiche Muster der großen französischen Revolution von 1789, und besonders ihrer jakobinischen Phase von 1793-1794, zur Nacheiferung vorzuhalten.

Als ein Beispiel für viele zitieren wir hier einige Sätze aus der Neuen Rheinischen Zeitung vom 11. Dezember 1848, die diesen Charakter der Marxschen Kritik an der Revolution von 1848 besonders deutlich hervortreten lassen. Marx hat in diesem Artikel zuerst die geschichtliche Größe der Revolution von 1648 und der von 1789 in glühenden Farben dargestellt. Es waren dies „keine englischen und französischen Revolutionen, sie waren Revolutionen europäischen Stils. Sie waren nicht der Sieg einer bestimmten Klasse der Gesellschaft über die alte politische Ordnung; sie waren die Proklamation der politischen Ordnung für die neue europäische Gesellschaft“. „Nichts von alledem“, fährt er fort, „findet sich in der preußischen Märzrevolution. Weit entfernt, eine europäische Revolution zu sein, war sie nur die verkümmerte Nachwirkung einer europäischen Revolution in einem zurückgebliebenen Lande. Die preußische Märzrevolution war nicht einmal national, deutsch, sie war von vornherein provinziell-preußisch. Die Wiener, die Kasseler, die Münchner, alle Sorten provinzieller Aufstände rannten neben ihr her und machten ihr den Rang streitig. Die preußische Bourgeoisie war nicht, wie die französische von 1789, die Klasse, welche die ganze moderne Gesellschaft den Repräsentanten der alten Gesellschaft, dem Königtum und dem Adel gegenüber vertrat. Sie war zu einer Art von Stand hinabgesunken ... eine nicht zum Durchbruch gekommene Schicht des alten Staates, durch ein Erdbeben auf die Oberfläche des neuen Staates geworfen, knurrend gegen oben, zitternd gegen unten, egoistisch nach beiden Seiten, und sich ihres Egoismus bewußt, revolutionär gegen die Konservativen, konservativ gegen die Revolutionäre, ihren eigenen Stichworten mißtrauend, Phrasen statt Ideen, eingeschüchtert vom Weltsturm, den Weltsturm exploitierend ... ohne Initiative, ohne Glauben an sich selbst, ohne Glauben an das Volk, ohne weltgeschichtlichen Beruf – ein vermaledeiter Greis, der sich dazu verdammt sah, die ersten Jugendströmungen eines robusten Volkes in seine eigenen altersschwachen Interessen zu leiten und abzuleiten – ohn’ Aug’, ohn’ Ohr, ohn’ Zahn, ohn’ Alles –, so fand sich die preußische Bourgeoisie nach der Märzrevolution am Ruder des preußischen Staates.“

Bei all dieser vernichtenden Kritik an der schwächlichen und unzureichenden Form der damals vor seinen Augen stattfindenden revolutionären Kämpfe überschreiten die inhaltlichen Losungen, mit denen Marx in diese Bewegung einzugreifen versucht hat, nirgends den Rahmen einer großen demokratischen Revolution – einer solchen Revolution, wie es die französische Revolution des 18. Jahrhunderts gewesen war. Marx betrachtete es als seine Aufgabe, den vor ihren eigenen Zielen zurückschreckenden Aktionen der gegenwärtigen Bewegung solche kühneren Kampflosungen einer vergangenen Epoche gegenüberzustellen wie die Forderung der „einen, ungeteilten Republik“, der Volksbewaffnung, der „revolutionären Diktatur“ und des „Ierrors“. Schon hierbei stießer auf schier unüberwindliche Hindernisse. Alle die eben erwähnten Forderungen stammten aus dem Arsenal der französischen Revolution von 1789. Sie waren Attribute einer Bewegung, deren Ergebnis in der Herstellung der bürgerlichen Gesellschaft bestanden hatte. Gerade darum aber waren alle diese Forderungen mit der inzwischen weiter fortgeschrittenen Verbürgerlichung der europäischen Gesellschaft bei dem nunmehrigen Großbürgertum und einem Teil des Kleinbürgertums schon in solchen Verruf gekommen, daß auch Marx sie jetzt entweder überhaupt nicht oder nur noch in abgeschwächten Formen öffentlich propagieren konnte. So eröffnet Marx seine Propaganda für die noch am wenigsten abschreckende unter den oben erwähnten jakobinischen Losungen in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 6. Juli 1848 mit der vorsichtigen Erklärung „Wir stellen nicht das utopistische Verlangen, daß apriori eine einige unteilbare deutsche Republik proklamiert werde.“ Er verschiebt die ganze Frage aus dem Gebiet der gegenwärtigen Aktion auf das Gebiet der künftigen Entwicklung, indem er erklärt, daß „die deutsche Einheit, wie die deutsche Verfassung, nur als Resultat aus einer Bewegung hervorgehen können“. Und auch weiterhin wurden, trotz des allmählich verschärften Tons, diese radikalsten Losungen des revolutionären Kampfes für die demokratischen Ziele in dem von Marx geleiteten „Organ der Demokratie“ [1] mit der größten Behutsamkeit behandelt.

Obwohl dieser Verzicht auf eine offene Vertretung des ganzen Programms der revolutionären Demokratie für Marx damals nur eine vorübergehend gewählte Taktik gewesen ist, erscheint doch für eine geschichtliche Betrachtung auch in dieser Taktik schon ein Stück von jenem grundsätzlichen Widerspruch, der der ganzen Stellung von Marx zu der Revolution von 1848 anhaftet. Marx lehnt es ab, der Wirklichkeit der bürgerlichen Revolution eine sozialistische Utopie der Zukunft gegenüberzustellen. Er versucht aber fortwährend, dieser neuen revolutionären Bewegung seiner Zeit die mit ihren gegenwärtigen Bedingungen ebensowenig verbundenen Formen einer vergangenen Aktion aufzuzwingen. Sein Versuch, die demokratische Revolution seiner Zeit auf das höhere Niveau zu erheben, das von der bürgerlichen Revolution in einer früheren Phase ihrer Entwicklung vorübergehend schon einmal erreicht worden war, erscheint also angesichts der inzwischen veränderten geschichtlichen Bedingungen nicht weniger utopisch. als es um diese Zeit die direkte Propaganda des Sozialismus gewesen wäre.

Der Gegensatz zwischen den von Marx vorausgesetzten und den tatsächlichen geschichtlichen Bedingungen der von ihm erlebten und mitgemachten Revolution von 1848 wird am schärfsten gerade an den Punkten, wo für eine ungeschichtliche Betrachtung seine Kritik der Schwächen dieser Revolution am meisten begründet scheint und ihr wirklicher Inhalt hinter seinen Forderungen am weitesten zurückbleibt. Hierher gehört vor allem die allenthalben sichtbare einzelstaatliche und provinzielle Politik der verschiedenen nationalen und lokalen Führer und im Kontrast dazu die großartige Internationalität, mit der Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung fortwährend den Zusammenhang der preußischen und deutschen Revolution mit der gleichzeitigen gesamteuropäischen Bewegung behandelte.

Schon rein quantitativ hat das Marxsche Organ der deutschen Demokratie über die Revolutionen in Frankreich, Österreich. Polen, Böhmen. Italien, Ungarn ausführlicher berichtet als irgendeine andere deutsche Zeitung. Die Neue Rheinische Zeitung verlangte nicht nur Deutschland für die Deutschen. Sie verlangte auch Polen für die Polen, Böhmen für die Tschechen, Ungarn für die Ungarn, Italien für die Italiener. Die schmachvolle Preisgabe der polnischen Revolution durch die preußische Regierung, ihr schwächliches Nachgeben gegenüber dem englischen und russischen Druck in der Schleswig-Holstein-Frage,die für das Schicksal der ganzen europäischen Revolution entscheidende Niederschlagung der Juni-Insurrektion der Pariser Arbeiter durch die revolutionäre Bourgeoisie selbst, die ebenso schicksalhafte Niederlage der Österreichischen Revolution in Wien, die Folgen des Scheiterns der großen Chartistendemonstration in England – alle diese Fehlschläge und Niederlagen sind in der Neuen Rheinischen Zeitung als ebensoviele Niederlagen der deutschen und der gesamten europäischen Revolution behandelt. Sie enthüllte dabei zugleich den tragischen Widerspruch zwischen den vermeintlichen nationalen tschechischen, nationalen ungarischen, nationalen österreichischen und nationalen preußischen Interessen, durch welchen die verschiedenen Sektionen der einen europäischen Revolution selbstmörderisch nicht nur gegen ihre gemeinsamen revolutionären, sondern zugleich gegen ihre wirklichen nationalen Interessen agierten. Österreicher gegen Böhmen, Deutsche, Österreicher, Ungarn gegen Italiener, Böhmen gegen Wien und am Ende Österreicher, Böhmen, Russen gegen das in ganz Europa als die letzte und größte Hoffnung der revolutionären Bewegung betrachtete Ungarn. So verflocht sich die blutige Kette bis zur gewaltsamen Beendigung des revolutionären Bruderkampfes durch den allgemeinen Sieg der europäischen Konterrevolution.

Aber gerade in der ausführlichen und gründlichen Darstellung, die alle diese Zusammenhänge in der Neuen Rheinischen Zeitung erfahren haben, tritt zugleich auch jener allzu abstrakte und ungeschichtliche Zug hervor, der der von Marx vertretenen Politik auch an diesem Punkte anhaftet. Der heroische Internationalismus, mit dem Marx damals diese nationalen „Rückständigkeiten“ überwinden wollte, abstrahiert von der Tatsache, daß auch diese, jetzt für die vereinigte revolutionäre Aktion so hinderliche Stärkung der nationalen Bewußtseine und nationalen Gegensätze, die in den letzten fünfzig Jahren eingetreten war, ihrerseits ein Produkt der vorhergegangenen Teilsiege des bürgerlichen Prinzips war. Es sind also nicht diese irgendwoher (zum Beispiel aus dem „Blut“ oder aus dem „Boden“) gekommenen Gegensätze, sondern die ihnen zu Grunde liegende geschichtliche Weiterentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft selbst, die nun für die Revolution des 19. Jahrhunderts eine einfache Wiederholung der internationalen Ausweitung nach dem alten jakobinischen und napoleonischen Muster unmöglich gemacht hatte.

Wie es für die große französische Revolution tatsächlich der Fall gewesen war, so sah Marx auch jetzt unter den veränderten geschichtlichen Bedingungen des 19. Jahrhunderts das universelle Mittel für die Überwindung aller inneren und äußeren Schwierigkeiten der europäischen Revolution in der Durchführung des ihr von einer feindlichen Umwelt aufgedrängten revolutionären Krieges. Und wie schon in den drei großen Koalitionen der europäischen Mächte, die an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts den Krieg gegen das revolutionäre Frankreich geführt hatten, der russische Einfluß eine immer größere Bedeutung erlangt hatte, so war jetzt, nachdem das Zentrum der revolutionären Bewegung weiter nach Osten gerückt war, der natürliche Gegner für die gesamte europäische Revolution selbstverständlich das zaristische Rußland. Marx hat an dieser Bestimmung des Hauptfeindes der europäischen Demokratie später noch jahrzehntelang festgehalten. Er hat sie zu einem Hauptpfeiler der von ihm in dieser späteren Periode entwickelten und auf alle auftretenden europäischen Konflikte konsequent angewendeten demokratischen Außenpolitik gemacht. Auch als nach dem Staatsstreich des III. Napoleon der Zarismus diese ausgezeichnete Stelle für eine Weile scheinbar mit dem französischen Diktator zu teilen hatte, blieb doch auch in dieser Zeit der eigentliche und ernstzunehmende äußere Feind für die europäische Demokratie nach Marx nicht die „schmutzige Figur“ des imperialistischen Abenteurers, der das von der französischen Bourgeoisie mit der Niederschlagung der Pariser Arbeiter im Juni 1848 über sich selbst ausgesprochene Todesurteil an der französischen Republik vollstreckt hatte, sondern jene „barbarische Macht, deren Haupt in St. Petersburg ist und deren Hände in jedem Kabinett Europas sind“. „Boustrapa“ [2] kam in dieser Konzeption allenfalls nur als Verbündeter oder Agent der dahinterstehenden reaktionären Großmacht in Frage.

Die hiermit umrissene These von Marx über die auch im 19. Jahrhundert fortbestehende Bedeutung des Krieges für die Revolution war keineswegs ein Hirngespinst. Auswärtige Kriege haben auch in der Revolution von 1848 eine wichtige Rolle gespielt. Wenn in Preußen nicht, wie in Italien, Österreich, Ungarn, Kriege und Bürgerkriege sich zu einer tatsächlichen Einheit verbunden hatten, so hat doch auch in Preußen der Abbruch des um die „Befreiung“ von Schleswig und Holstein geführten dänischen Krieges durch den Waffenstillstand von Malmö vielleicht eine größere Enttäuschung und Ernüchterung bei allen Richtungen der damaligen revolutionären Bewegung hervorgerufen als irgendein Rückschlag der innerpolitischen Entwicklung. Die große Bedeutung, die eine ungebrochene Durchführung dieses ersten revolutionären Krieges für die weitere Entwicklung der damaligen Bewegung hätte haben können, zeigt sich auch indirekt in der Tatsache, daß diese „ungelöste Aufgabe“ der deutschen Revolution in der darauffolgenden Periode von der wilhelminischen und bismarckschen Konterrevolution wieder aufgenommen wurde und daß dieser neue dänische Krieg dann zusammen mit den Kriegen von 1866 und 1870 eine jedenfalls zum Teil fortschrittliche Entwicklung in Europa herbeigeführt hat.

Auch der „revolutionäre Krieg gegen Rußland“ war keineswegs, wie man es ohne genauere Kenntnis der damaligen politischen und diplomatischen Lage leicht annehmen könnte, eine in die Entwicklung der europäischen Revolution willkürlich von außen hineingetragene Losung. Es ist heute bekannt, daß zur selben Zeit, als die Neue Rheinische Zeitung den revolutionären Krieg gegen Rußland forderte, der russische Zar dem Prinzen von Preußen die Hilfe des russischen Heeres zur gewaltsamen Wiederherstellung des despotischen Regimes in Preußen bereits angeboten hatte .Ein Jahr später haben russische Armeen tatsächlich die österreichische Reaktion gerettet, indem sie die revolutionären Armeen Kossuths in Ungarn vernichteten. Ein gegen diese allgemeine Bedrohung der europäischen Revolution geführter Defensivkrieg, gemeinsam geführt von der französischen Republik, von Preußen-Deutschland, von Sardinien-Italien, von Ungarn und von den aufständischen Polen gegen den russischen Zaren hätte, wie der kürzlich in der Emigration verstorbene marxistische Historiker Arthur Rosenberg in seinem lehrreichen Buch über Demokratie und Sozialismus (Verlag Albert de Lange, Amsterdam 1938) darlegt, für die weitere Entwicklung der damaligen revolutionären Bewegung einen guten Sinn gehabt. Er hätte die westrussischen Landesteile revolutioniert, den Zusammenhang des Habsburgischen Reichs aufgelöst und den von ihm unterdrückten Nationen eine selbständige nationale Entwicklung ermöglicht. Er hätte den Sieg der bonapartistischen Diktatur in Frankreich und die kleindeutsch-großpreußisch bismarcksche Lösung der deutschen Frage abgewendet. Er hätte damit die demokratische Weiterentwicklung der inneren und äußeren Politik Europas auf Jahrzehnte hinaus gesichert und der künftigen föderativen Vereinigung aller europäischen Staaten den Weg bereitet.

Bei alledem tritt doch auch an diesem Punkt die der ganzen Stellung von Marx zu der europäischen Revolution von 1848 anhaftende Irrealität deutlich hervor. Man fragt sich: Wozu hat Marx, der sich in dem vorhergehenden Jahrzehnt zu einem neuen Standpunkt durchgearbeitet hatte und der erst eben, wenige Wochen vor dem Ausbruch der Februar- und Märzrevolution, der damals noch in ihren Anfängen stehenden sozialistischen Arbeiterbewegung ihre theoretische Grundlage geschaffen hatte, dieses große Opfer gebracht? Warum hat er auf jede über den demokratischen Ideenkreis hinausgehende Vertretung von Arbeiterideen und Arbeiterinteressen in der demokratischen Revolution verzichtet, wenn er das gewiß damals noch utopische Programm einer sozialen Revolution der Arbeiterklasse nur durch eine andere, ebenso unrealistische Revolutionsmythologie ersetzen wollte?

Es ist richtig, daß schon im Kommunistischen Manifest vom Februar 1848 für kein europäisches Land, auch nicht für das am weitesten fortgeschrittene Frankreich, ein selbständiges Auftreten der „Kommunisten“ vorgesehen war. Marx und Engels sind aber in ihrer Praxis über dieses im Manifest vorgesehene Ausmaß von Klassenaskese noch erheblich hinausgegangen, indem sie auch auf dem ideologischen Gebiet die vom Manifest geforderte unaufhörliche theoretische Schulung der Arbeiter für den „nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland sofort beginnenden Kampf gegen die Bourgeoisie selbst“ total ausfallen ließen. Dies war auch nicht nur eine Folge des Versagens ihrer eigenen Organisation. Wenn der Bund der Kommunisten sich, wie Engels später erklärte, „gegenüber der jetzt losgebrochenen Bewegung der Volksmassen als ein viel zu schwacher Hebel erwies“. So kam dieses Ergebnis ihnen nicht ungelegen. und sie haben. wie neuere Untersuchungen gezeigt haben, gelegentlich auch selbst dazu beigetragen.

Als Marx endlich, Mitte April 1849, zum ersten Mal eine Diskussion von spezifischen Arbeiterfragen in der Neuen Rheinischen Zeitung begann, begründete er seine bisherige Vernachlässigung solcher Fragen damit, daß es „vor allem“ gegolten habe, „den Klassenkampf in der Tagesgeschichte zu verfolgen und an dem vorhandenen und täglich neugeschaffenen Stoff empirisch nachzuweisen, daß mit der Unterjochung der Arbeiterklasse, welche Februar und März gemacht hatte, gleichzeitig ihre Gegner besiegt wurden“. Aber gerade dieses hatte Marx nicht getan. Er hat statt dessen nur bewiesen, daß die europäische Bourgeoisie scheiterte, weil sie nicht mehr im Stande war, durch die rücksichtslose Durchsetzung ihrer eigenen Klasseninteressen zugleich eine fortschrittliche Entwicklung der ganzen Gesellschaft hervorzubringen. Daraus folgte aber zunächst nur, daß solche politischen und sozialen Fortschritte, soweit sie von jetzt ab überhaupt noch stattfanden, nun in anderen Formen, nicht durch die Bourgeoisie, sondern gegen sie, herbeigeführt werden mußten. Diese Rolle ist dann von der bonapartistischen Diktatur in Frankreich und der sogenannten „Revolution von oben“ in Preußen auch tatsächlich für sich in Anspruch genommen worden.

Die Stellung, die Marx und Engels zu diesen veränderten Formen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der nachrevolutionären Periode eingenommen haben, kann hier nicht mehr ausführlich dargestellt werden. Wir stellen nur noch fest, daß die Auffassung, nach welcher die Politik der bonapartistischen und bismarckschen Konterrevolution als eine echte Fortsetzung der vorhergehenden revolutionären Entwicklung anzusehen ist, in der Folgezeit nicht nur bei den bürgerlichen Historikern, sondern auch bei den Marxisten und anderen sozialistischen Theoretikern, und nicht den schlechtesten unter ihnen, starken Anklang gefunden hat. Schon Proudhon in seiner Schrift La révolution sociale démontrée par le coup d’État von 1852 und ebenso Marx in seinen um dieselbe Zeit geschriebenen Analysen der französischen und deutschen Revolution haben einer solchen Auffassung Vorschub geleistet, und ähnliche Umdeutungen konterrevolutionärer Aktionen und Entwicklungen zu revolutionären Errungenschaften sind seitdem auch noch bei vielen anderen Gelegenheiten versucht worden.

Die aus einer solchen zweideutigen Auffassung der Revolution entspringenden Gefahren werden illustriert durch den Streit, der über diesen Punkt in den sechziger Jahren zwischen Marx

und Lassalle geführt worden ist. Der Konflikt der beiden Richtungen bestand darin, daß Lassalle und Schweitzer aus den oben erörterten „revolutionären“ Möglichkeiten der Konterrevolution das Recht des Revolutionärs ableiten wollten, mit der konterrevolutionären Gewalt gegebenenfalls auch direkt zusammenzuwirken, während nach Marx die Arbeiterpartei in einem solchen Falle zwar den objektiv fortschrittlichen Charakter der von der Reaktion in ihrem Kampfe mit der Bourgeoisie den Arbeitern gemachten Zugeständnissen unumwunden anzuerkennen hätte, aber dabei ihre Selbständigkeit nicht durch irgend einen Pakt mit der Reaktion preisgeben dürfte. Oder, wie Engels diesen Gedanken in seiner Studie über Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterklasse im Jahre 1865 sehr schön und poetisch ausgedrückt hatte: Mit geru scal man geba infahan, ort widar orte; mit dem Speere soll man Gaben empfangen, Spitze gegen Spitze.

Darüber hinaus scheint es uns, besonders nach den jüngsten Erfahrungen, eine dringende Aufgabe, mit dieser zweideutigen und letzten Endes alle Unterschiede auslöschenden Auffassung des Verhältnisses von Revolution und Konterrevolution zu brechen und die Grenze zwischen beiden in Anlehnung an die Charakterisierung des „reaktionären Sozialismus“ im Kommunistischen Manifest von 1848 so zu bestimmen, daß vom Begriff der Revolution diejenigen auszuschließen sind, die „der Bourgeoisie mehr noch vorwerfen, daß sie ein revolutionäres Proletariat erzeugt, als daß sie überhaupt ein Proletariat erzeugt“.

Karl Korsch
Boston, Massachusetts
(abgeschlossen am 18. März 1948)

 

Anmerkungen

1. Untertitel der Neuen Rheinischen Zeitung.

2. Spitzname für Napoleon III. Zusammenfassung der beiden mißlungenen und des einen geglückten Putsches in Boulogne, Straßburg und Paris, durch welche der bonapartistische Prätendent auf einem auch äußerlich die Laufbahn Hitlers vorausnehmenden Wege zur Macht gelangt war.

 


Zuletzt aktualisiert am 29.9.2004