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In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung; 15. Band, 1930.
Nachgedruckt in Karl Korsch, Revolutionärer Klassenkampf, kollektiv Verlag, Berlin ohne Datum, S.27-74.
Transcription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wie die Verfasserin in ihrem Vorwort erklärt, ist dieses Werk das Produkt einer äußerst langwierigen Forschungsarbeit, die schon im Jahre 1911 begonnen, während und nach dem Weltkriege fortgesetzt und erst im Jahre 1928 endgültig abgeschlossen ist. Es stellt auch in seiner gegenwärtigen fertigen Gestalt nicht bloß das endliche Ergebnis der von ihr in dieser langen Zeitspanne immer weiter ausgedehnten und immer mehr vertieften geschichtlichen Forschungen dar, sondern spiegelt überdies in einer nur für den trockenen Spießbürger anstößigen, für jeden lebendigen wissenschaftlichen Leser aber höchst interessanten und bedeutsamen Weise in seinen verschiedenen Teilen auch die im Verlauf dieser Untersuchungen eingetretene Weiterentwicklung ihrer inhaltlichen und methodischen Anschauungen wider. Sie hat ihre jetzt zum Abschluß gekommenen Studien ursprünglich mit einer starken Sympathie für die von OTTO GIERKE im Rahmen seiner „organischen Staatstheorie“ halb feudalistisch, halb bürgerlich liberal und national, aber jedenfalls ganz und gar idealistisch und antimaterialistisch aufgefaßte „Idee des Föderalismus“ begonnen. [2] Sie ergänzte dieses föderalistische Staatsideal im Verlauf ihrer weiteren Forschungen und besonders bei der Untersuchung der wirklichen – außenpolitischen und ökonomischen – Ursachen des großen weltgeschichtlichen Konflikts zwischen den Girondisten und den Jakobinern durch eine zunächst immer noch etwas erzwungene materialistische Anerkennung des Unitarismus als eines vorläufig noch nicht entbehrlichen Prinzips für die Gestaltung des gegenwartigen „Notstaates“. Sie endete mit der rückhaltlosen Anerkennung des modernen Einheitsstaates als der einzigen Staatsform, die der heutigen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wirklich entspricht. Dieser innere Entwicklungsprozeß, den die Staatsauffassung der Verfasserin im Fortgang ihrer Arbeit durchlaufen hat, spiegelt sich in allen seinen Phasen noch in dem gegenwärtigen Werke wider und kann bei einem Leser, der diesen ganzen Prozeß nicht in seiner lebendigen Bewegung auffaßt, leicht zu einem starken Mißverständnis über den schließlichen Standpunkt der Verfasserin führen. Auch ein unvoreingenommener Kritiker muß den Wunsch aussprechen, daß in einer neuen Auflage des Werkes die der schließlichen Auffassung der Verfasserin geradezu widersprechenden Stellen, die eine positive Bewertung reaktionärer „föderalistischer“ und „regionalistischer“ Bestrebungen enthalten, radikaler ausgemerzt werden.
Hand in Hand mit der inhaltlichen Entwicklung der politischen Anschauungen der Verfasserin ging eine entsprechende Entwicklung ihrer Methode. Die zunächst idealistisch als eine selbständige Wesenheit betrachteten und in der Hauptsache ideengeschichtlich dargestellten politischen „Prinzipien“ des Foderalismus und des Unitarismus verwandelten sich ihr im Verlauf ihrer weiteren Untersuchungen immer mehr in bloße ideologische Ausdrücke und Verkleidungen einer darunter verborgenen materiellen Tendenz. Sie konnten daher jetzt in einer bloß ideengeschichtlichen Untersuchung nur noch innerhalb bestimmter, ziemlich eng gezogener Grenzen zusammenhängend und widerspruchslos dargestellt werden. Ungleich wichtiger als die gedankliche Rekonstruktion der ideengeschichtlichen Zusammenhänge untereinander und mit der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, der Kultur oder irgend eines anderen ideellen Bereichs, wurde jetzt für das historische Begreifen solcher politischer „Prinzipienkampfe“ wie des Kampfes zwischen Föderalismus und Staatseinheit die konkrete geschichtliche Aufdeckung ihres allseitigen Zusammenhanges mit der gesamten, und also insbesondere auch mit der materiellen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft.
So hat sich die Verfasserin des hier rezensierten Buches nicht durch irgendeine vorher angenommene theoretische Formel, sondern im Verlauf ihrer konkreten Untersuchungen über die wirklichen Triebkräfte, die den schließlichen vollen Sieg des „unitarischen“ über das „foderalistische“ Prinzip in dem langen geschichtlichen Ringen um die Gestaltung des modernen bürgerlichen Staates letzten Endes entschieden haben, der materialistischen Geschichtsauffassung des modernen Sozialismus immer mehr genähert. Sie hat dann auch in ihrer Antrittsvorlesung an der Berliner Universität im Sommersemester 1928 ein offenes Bekenntnis zu einer vorwiegend an JAURES’ Sozialistischer Geschichte der französischen Revolution orientierten und über ihn durch konsequentere Berücksichtigung der ökonomischen und klassenmäßigen Bedingtheit aller Politik an entscheidenden Punkten noch hinausgehenden materialistischen Methode der Geschichtsforschung abgelegt. [3] Sie hat damit den Anschluß gefunden an jene in der französischen Revolutionsgeschichtsschreibung bereits seit mehreren Jahrzehnten durchdrungene materialistisch-dialektische Methode, die schon von ihrem ersten MARX ENGELSschen Ursprung an gerade in der Geschichte revolutionärer gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse ihr fruchtbarstes Anwendungsgebiet gefunden hat und die auch heute noch die einzige angemessene Methode darstellt für jede wirklich wissenschaftliche Untersuchung jener gewaltigen revolutionären Entwicklung, die in dem Lande, wo der geschichtliche Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und der Feudalherrschaft bis in seine letzten Konsequenzen ausgefechten worden ist, auch das schließliche Resultat dieses Kampfes, die reine Herrschaft der Bourgeoisie in der Form des modernen bürgerlichen Einheitsstaates, mit der größten Klassizität zur Erscheinung gebracht hat. [4]
Wie die Entwicklung ihrer Anschauungen über den Staat, so spiegelt sich auch diese fortschreitende kritische Selbstverständigung der Verfasserin über die von ihr angewandte Methode in dem vorliegenden Werk deutlich wider. Auf den ersten Blick fällt auf, mit welcher außerordentlichen Ungleichmäßigkeit der ungeheure in diesem Werk verarbeitete Stoff auf die verschiedenen, chronologisch und sachlich bestimmten Teilgebiete der Untersuchung aufgeteilt ist. Von Anfang an besteht hier zwischen der ursprünglichen monographischen Begrenzung des Themas und der tatsächlichen Unmöglichkeit der Einhaltung dieses engen Rahmens ein deutlich sichtbarer Widerspruch, der sich von der Mitte des Werkes ab immer mehr steigert und in der an sich großartigen Darstellung des geschichtlichen Endkampfes zwischen der Gironde und dem Berg in dem über 100 Seiten langen 15. und 16. Kapitel den bis dahin äußerlich noch respektierten Rahmen förmlich sprengt. Während von den insgesamt 19 Kapiteln die ersten 9, die der Entwicklung des französischen Staates bis an die Schwelle der Revolution gewidmet sind, sich überwiegend mit der Darstellung ideengeschichtlicher Zusammenhänge beschäftigen (z.B. das 5. mit der Idee der Selbstverwaltung beim Marquis d’Argenson, das 6. mit den Ideen zur Selbstverwaltung und Dezentralisation in den Reformplänen der Physiokraten), tritt in dem darauffolgenden 2. und 3. Teil des Werkes die reine Ideengeschichte immer mehr zurück, um am Ende mit der realen Revolutionsgeschichte ganz und gar zusammenzufallen. (Eine mehr scheinbare als wirkliche Ausnahme hiervon bildet das zwischen dem 2. und 3. Teil des Werkes eingefügte 13. Kapitel über den Streit um Geist und Charakter des Föderalismus.) Diese von der Verfasserin im Verlauf ihrer Arbeit vollzogene Entwicklung ihrer inhaltlichen und methodischen Anschauungen zeigt sich, im Guten und im Bösen, auch in ihrer Behandlung des besonderen Problems Föderalismus-Staatseinheit. Während in den späteren Kapiteln die verschiedenen einander durchkreuzenden Formen dieses politischen Gegensatzes in immer zunehmendem Maße materialistisch als bloße ideologische Erscheinungsformen eines tiefer wurzelnden materiellen Gegensatzes und als bloße allgemeine Ausdrücke eines geschichtlichen Klassenkampfes aufgefaßt werden, überwiegt in dem ersten Teil des Werkes, wo HINTZE die Entwicklung ihres Problems in der Vorbereitungsperiode und Frühzeit der Revolution behandelt, noch durchaus eine idealistische und ideologische Betrachtungsweise.
Mit Recht erhebt der französische Historiker MATHIEZ in seiner ausführlichen Kritik des HINTZEschen Buches [5] gegen die im ersten Teil des Buches gegebene Darstellung der geschichtlichen Bewegung in der Periode bis zum Zusammentritt der Generalstände und zur Errichtung der neuen staatlichen Einheit durch die Konstituante den Einwand, daß diese ganze Periode der politischen Entwicklung in Frankreich nicht durch den ideologischen Kampf zwischen einer „föderalistischen“ und einer „unitaristischen“ Staatsidee beherrscht wird, sondern durch den materiellen Kampf für die Aufrechterhaltung oder Abschaffung der feudalen und ständischen Privilegien. Mit Recht kritisiert er ihre Verkennung der Stellung MONTESQUIEUs, dessen berühmte Schrift über den Geist der Gesetze nicht nur, wie sich HINTZE darüber z.B. auf Seite 89 ausdrückt, „für die Privilegien des Adels, der Provinzen, der Städte und Korporationen Raum hat“, sondern eigens zur Verteidigung dieser Privilegien zur Zeit des Kampfes der „Parlamente“ gegen die Reformen des Ministers MACHAULT geschrieben worden ist, und auch mit ihren scheinbar liberalen und fortschrittlichen Ideen, z.B. mit ihrer Kritik an dem schrankenlosen Despotismus der königlichen Gewalt und ihrer Tendenz zur Schmälerung der Kirche, in Wirklichkeit nur die materiellen Interessen und Privilegien der Parlamente im Auge hatte. Mit voller Evidenz zeigt er auf, daß die Vertreter der fortschrittlichen bürgerlichen Interessen am Vorabend der Revolution zugleich „Zentralisten“ und „Dezentralisten“ waren, indem sie zugleich die Autorität des Staates und des Königs gegen die feudalen Privilegien anriefen und die Staatsgewalt durch gewählte Volksvertretungen stützen wollten, die die Oligarchie der ständischen Vertretungen (Etats) und der Parlamente brechen sollten, während die publizistischen Vertreter des Parlaments-Adels fortwährend das feudale Recht und die verbrieften Freiheiten im Munde führten, um auf diese Weise nicht nur die Privilegien, sondern zugleich auch deren Träger und Nutznießer, die Stände, Parlamente usw. zu erhalten und zu stärken. [6]
Er zeigt mit schlagenden Argumenten, was in der ganzen überaus umfangreichen und im einzelnen sehr lehrreichen Darstellung dieser Frage in drei eigens dazu bestimmten Kapiteln des HINTZEschen Buches (4., 7. und 8. Kapitel) nirgends mit voller Klarheit zum Ausdruck gekommen ist, daß es sich bei dem ganzen heftigen Streit über „Provinzialstände oder Provinziälversammlungen?“ der Jahre 1787 bis Anfang 1789 mit seinen vielen, unter dem Gesichtspunkt Föderalismus-Staatseinheit völlig unerklärlichen, überraschenden Frontwechseln in Wirklichkeit immer nur darum gehandelt hat, daß die Vertreter der bürgerlichen Interessen die für sie wesentlichen Machtpositionen (die Verdoppelung der Stimmen des dritten Standes, die Abstimmung nach Köpfen, wirklich unabhängige und mit eigenen Rechten ausgestattete Vertretungskörper) gleichviel in welcher Form durchsetzen wollten, und daß ebenso auch in der romantischen Schwärmerei ihrer aristokratischen Gegner für die traditionellen Standesvertretungen nur der Kampf um die Festhaltung ihrer traditionellen Privilegien und Emolumente verborgen war. Die Vertreter des dritten Standes gingen von der Bekämpfung der reaktionären „Provinzialstände“ sofort zur Bekämpfung der einflußlosen ministriellen „Provinzialversammlungen“ über und eröffneten ihrerseits den Kampf für „Provinzialstände wie im Dauphiné“, sobald die in dieser industriellsten französischen Provinz revolutionär zusammengetretene StändeVersammlung die beiden Forderungen des dritten Standes, double représentation du tiers und vôte par tête, für sich selbst durchgeführt und damit dem bereits mit vollem Bewußtsein und im nationalen Maßstab geführten Kampf des dritten Standes um die ganze Macht im Staat eine neue Etappe eröffnet hatte. Und ebenso ging dann auch der diese ganze Periode abschließende Kampf, der um die Ausführung der königlichen Erlasse und Reglements über die Form der Berufung der Generalstände im ganzen Lande und in jeder einzelnen Provinz ausgefochten wurde, in Wirklichkeit weder um die Erhaltung noch um die Reform oder Beseitigung der alten Provinzialstände an sich, sondern um die sehr viel näher liegende, irdische und konkrete Frage, wer, das heißt welcher Stand und welche gesellschaftliche Klasse den entscheidenden Einfluß auf die Auswahl der in die Generalstände entsandten Deputierten und auf die Abfassung der berühmten, „cahiers de doléances“ haben sollte.
Die letzte Wurzel für all diese von MATHIEZ aufgezeigten Fehler und Widersprüche besteht aber nicht, wie MATHIEZ (a.a.O., S.578) meint, darin, daß es in dieser Periode einen „Föderalismus“ und einen Kampf zwischen dem föderalistischen und unitarischen Prinzip überhaupt nicht gegeben habe. Sie besteht vielmehr einzig und allein darin, daß die Verfasserin in diesem 1. Teil ihres Werkes jenes materialistisch kritische Prinzip, welches ihrer Untersuchung später in immer zunehmendem Maße als Leitstern gedient hat, noch nicht in genügendem Maße angewandt hat. Sie hat infolgedessen die verschiedenen von ihr dargestellten Erscheinungsformen des Kampfes zwischen „Föderalismus“ und „Unitarismus“ in den meisten Fällen wesentlich nach ihrem theoretischen Inhalt bestimmt, und infolgedessen gerade den Punkt nicht klargestellt, der für eine materialistische Untersuchung des in dieser Periode geführten Kampfes zwischen „Föderalismus“ und Staatseinheit der allerwichtigste ist. Sie hat nirgends mit voller materialistischer Klarheit die geschichtliche Tatsache ausgesprochen, daß jenes feudalistisch korporative „föderative Staatsprinzip“, das von allen reaktionären Ideologen – von MONTESQUIEU über die von MARX und ENGELS im Kommunistischen Manifest verlachten Vertreter des „feudalistischen Sozialismus“ bis zu unserem OTTO GIERKE und seinen geistig minder hervorragenden Trabanten – seit jeher als eine Oberwindung des bürgerlichen Staatstypus durch einen höheren Typus der menschlichen Gemeinschaftsbildung dargestellt worden ist, in Wirklichkeit zu dem modernen bürgerlichen Staat in all seinen – unitarischen und „föderalistischen“, zentralisierten und „dezentralisierten“ – Erscheinungsformen, und erst recht zu den über diesen bürgerlichen Staat noch hinausstrebenden und für eine höhere und freiere Gestaltung der menschlichen Gemeinschaft kämpfenden fortschrittlichen und revolutionären Tendenzen in einem schlechthin unvereinbaren Gegensatz steht.
Man kann nicht, wie es HINTZE an sehr vielen Stellen ihres Buches tut, den revolutionären Föderalismus PROUDHONs und den reaktionären Föderalismus der „Action Française“, den bürgerlichen Föderalismus BRISSOTs und den feudalistischen Föderalismus MONTEQUIEUs in einem Atem nennen. Die „föderalistischen“ Girondisten stehen zu dem Föderalismus des MONTESQUIEUschen Korporativstaates in einem schärferen Gegensatz, als zu dem Zentralismus der Jakobinerdiktatur. Und PROUDHON hat an derselben Steile,wo er das von HINTZE so häufig zitierte Wort ausspricht, daß „die Föderation der erste Gedanke von 1789“ gewesen sei, sogleich hinzugefügt, daß er, wenn die Wahl nur stünde zwischen einem solchen Föderalismus wie der feudalen germanischen und aristokratischen schweizerischen Föderation einerseits und der bürgerlichen Föderation der amerikanischen Staaten andererseits, gegenüber diesen beiden Verwirklichungen des „föderalistischen“ Prinzips dem konstitutionellen monarchistischen Einheitsstaat noch den Vorzug geben würde. [7] Dieser Erzföderalist und fanatische Bekämpfer jedes Unitarismus und Zentralismus läßt auch noch in der proletarischen Revolution wenigstens für den einen weltgeschichtlichen Augenblick, wo die von ihm als „ökonomische Frage“ bezeichnete Klassenfrage in voller irdischer Lebensgröße auf den Plan tritt und gebieterisch ihre Lösung fordert, gegenüber dieser von der Revolution unbedingt zu lösenden Frage den Kampf gegen den Unitarismus zurücktreten. Er erklärt noch im Jahre 1863 in einem Rückblick auf die revolutionäre Situation von 1848: „La centralisation qu’il eût fallu briser plus tard, eût été momentanément d’un puissant secours“. [8]
In dieser scheinbar inkonsequenten und widerspruchsvollen Stellung des Erzföderalisten PROUDHON, der die formelle Seite des Gegensatzes Föderalismus-Unitarismus im Augenblick der revolutionären Entscheidung hinter der materiellen Seite, dem Klasseninhalt der Revolution, zurücktreten läßt, steckt in Wirklichkeit ein tieferes materialistisches Bewußtsein der von HINTZE bei ihrer Darstellung dieser ersten Periode der französischen Revolution vernachlässigten Tatsache, daß gerade in jenem ersten Höhepunkt der Revolution, wo in dem entscheidenden Zusammenstoß der Klassen der alte feudale Staat zertrümmert und die neue revolutionäre Staatsgewalt geschaffen wird, für den Kampf zwischen dem föderalistischen und dem unitarischen Prinzip der Staatsbildung und den ganzen Kampf um die Staats form am allerwenigsten Raum ist und in diesem Augenblick jede „föderalistische“ Bekämpfung der unitarischen und zentralisierten Form der Staatsgewalt mit dem reaktionären Kampf gegen den revolutionären Fortschritt selbst zusammenfällt. Der Kampf um – die mehr oder weniger – unitarische oder „föderative“, zentralisierte oder „dezentralisierte“, autoritäre oder „freiheitliche“ Staatsform geht in diesem geschichtlichen Augenblick unter in dem Kampf um die Schaffung des Staates überhaupt, um die Bildung dieser neuen revolutionären bürgerlichen Staatsgewalt, deren einziger Sinn in diesem Augenblick darin besteht, den Untergang des alten feudalistischen Staatssystems wirklich zu vollziehen und an seiner Stelle einen Staat mit einem anderen ökonomischen Inhalt, einem anderen geschichtlichen Wesen, einem anderen Klassencharakter hervorzubringen, den Staat des dritten Standes, der vorher nichts gewesen war und nun etwas, alles geworden ist. In diesem einzigen Augenblick, für den nachträglich auch PROUDHON Unitarist und Zentralist wäre, war umgekehrt auch der Erzzentralist und Unitarist SIEYES Föderalist und Dezentralist: Er empfahl, wie HINTZE auf Seite 158 berichtet, bei der Wahl der Deputierten zu den Generalständen den Bailliagebezirken, „sich nicht allzu genau an die ‚sogenannten Reglements‘ zu halten, sie vielmehr als einfache Instruktionen zu betrachten, mit der Begründung, daß ‚die Exekutivgewalt niemals das Recht haben könne, auf die konstituierenden Formen der Vertreterversammlungen einzuwirken‘.“
Es wäre gewiß im höchsten Grade ungerecht, die vielen wichtigen Stellen ganz zu übersehen, in denen HINTZE auch schon in diesen ersten Kapiteln ihres Buches den formellen und ideologischen Gesichtspunkt überwunden und die über den formellen Gegensatz von Unitarismus und Föderalismus hinausgehende materielle Bedeutung des revolutionären Befreiungsaktes vollkommen richtig aufgefaßt und dargestellt hat; in der Schilderung der „entscheidenden Junitage des Jahres 1789, da die Vertreter des dritten Standes sich als die Nationalversammlung konstituierten“, in der Würdigung der „munizipalen Revolution vom Juli 1789, in der das ‚Volk‘ die Organe der bestehenden Munizipalitätsverfassungen hinwegfegte und sich improvisierte neue Institutionen kraft eigenen Rechtes schuf, indem es waffenklirrend seine Souveränität bekundete“, und auch noch in der kritisch zwischen Poesie und Prosa unterscheidenden Darstellung der Föderationsbewegung und des Föderationsfestes vom 14. Juli 1790. Aber zu dieser richtigen Erfassung der wirklichen Bedeutung der großen geschichtlichen Umwälzung, die zu der Entstehung eines neuen Staates führte, passen schlecht die bisweilen geradezu anachronistisch anmutenden Lobpreisungen für alle die Autoren, die in irgend einer Phase der vorhergehenden Epoche aus irgend welchen Ursachen und Motiven heraus in irgend einem Sinne gegen die zentralistisch unitarische Entwicklung des absoluten Staates aufgetreten sind, z.B. einmal (S.26) die sympathische Erwähnung solcher „vereinzelter Zeitgenossen“, die schon im 15. Jahrhundert unter der Regierung Karls VII. „gefühlt haben, wie bedrohlich Militarismus und Absolutismus im Anzug wagen“. Und diese Mischung disparater Elemente steigert sich zu einem Versuch der Vereinbarung des schlechthin Unvereinbaren, wenn in der Darstellung des politischen Schrifttums und der politischen Bewegungen des 18. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Revolution und noch in der ersten Periode der bereits ausgebrochenen Revolution alle Verteidiger feudaler Privilegien, die ihre reaktionären Bestrebungen, und bisweilen auch nur ihre gegenseitigen Rivalitäten, teils unbewußt, teils auch schon mehr oder weniger bewußt in das Gewand eines Kampfes für provinzielle oder lokale Freiheiten oder einer Kritik des königlichen oder ministriellen Despotismus gekleidet haben, gegenüber den Vertretern der Ausbildung einer revolutionär aktionsfähigen starken und zentralisierten bürgerlichen Staatsgewalt als die Vertreter eines höheren Prinzips der Staatsbildung gepriesen werden. Die Verfasserin gerät dadurch am Ende in einen direkten Widerspruch mit ihrer eigenen fortschrittlichen und freiheitlichen Haupttendenz und ist sich dieses Widerspruches, ohne ihn direkt auszusprechen, auch schon in verschiedenen Formen bewußt geworden. So beklagt sie z.B. bei ihrer Schilderung der „provinzialistischen Bestrebungen“ in der letzten Periode vor und während der Einberufung der Generalstände den „zwiespältigen Charakter dieser ganzen Bewegung“, in der sich „partikularistisch-traditionalistische, mit ‚Privilegien‘ und ‚Kapitulationen‘ arbeitende Tendenzen mit neuständischen, naturrechtlich gefärbten Tendenzen kreuzen“ (S.153f.). So verteidigt sie immer wieder solche ihrer materiellen geschichtlichen Tendenz nach fortschrittlich und revolutionär gerichtete Geister, wie einerseits die Physiokraten und den Reformminister TURGOT, andererseits ROUSSEAU, gegen den von GIERKE und anderen Anhängern der „organischen Staatstheorie“ gegen sie erhobenen ideologischen Vorwurf einer „abstrakt individualistischen“ und „zentralistisch atomistischen“ Staatsauffassung (S.71ff., 80ff., 103ff. usw.). Sie ist in diesen Fragen gegenüber GIERKE „theoretisch“ im Unrecht; TURGOT und ROUSSEAU sind im Sinne GIERKEs und seiner feudalistisch romantischen „organischen Staatsauffassung“ ihrem wesentlichen Charakter nach Individualisten, Atomisten und Zentralisten gewesen. Aber gerade, indem sie sich in ihrer Stellung zu diesen echten Vertretern des damaligen geschichtlichen Fortschritts von der Auffassung GIERKEs trennt, verrät sie, daß auch für sie nach ihrem besseren Bewußtsein die entscheidende Frage, an der sich die Vertreter des Alten und die Vorläufer des Neuen in dieser Epoche scheiden, nicht in der abstrakten Frage nach der Staatsform an sich, sondern in der konkreten Frage nach dem geschichtlichen und klassenmäßigen Inhalt dieser Staatsform besteht.
Einen wesentlich anderen Charakter als die Darstellung des Gegensatzes Föderalismus Staatseinheit in der Periode vor und während der Konstituierung des neuen revolutionären Staates haben die Untersuchungen des zweiten Teils des HINTZEschen Buches, die sich mit den in dem konstituierten bürgerlichen Staat um die politische Form dieses Staates geführten Kämpfen beschäftigen und diese formellen Verfassungskämpfe im konkreten Zusammenhang mit der gesamten gleichzeitigen innen- und außenpolitischen, ökonomischen und sozialen geschichtlichen Bewegung darstellen. Den Höhepunkt des ganzen Werkes bildet die im letzten Teil enthaltene Untersuchung aller Erscheinungs formen und Triebkräfte jenes großen geschichtlichen Kampfes, der seit der Kriegserklärung vom 20. April, dem Aufstand der revolutionären Pariser Kommune vom 10. August und der Proklamierung der Republik vom 21. September 1792 zwischen den beiden großen Parteien des Konvents zugleich um die politische Form und um den Klasseninhalt des neuen revolutionären Staates und um das Schicksal der Revolution selbst durchgekämpft worden ist.
Erst von diesem Punkt an tritt in der jetzt konkret, materialistisch, klassenmäßig durchgeführten historischen Untersuchung HINTZEs auch das große Problem des Gegensatzes von Föderalismus und Unitarismus in seiner wesentlichen Gestalt hervor. Es handelt sich hier um eine wichtige politische Erscheinungsform jenes inneren Widerspruches in der revolutionären Entwicklung selbst, der in allen geschichtlichen Revolutionen der letzten Jahrhunderte hervorgetreten ist und seinen klassischen politischen Ausdruck gerade in der französischen Revolution des 18. Jahrhunderts gefunden hat. Dieser grundlegende Widerspruch, der sich, auf seine allgemeinste Formel gebracht, als der Widerspruch zwischen dem Prozeß der revolutionären Bewegung und der jeweiligen fixierten Gestalt des durch die bisherige Bewegung erreichten Ergebnisses definieren läßt, findet in der bürgerlichen Revolution seinen politischen Ausdruck in dem aus dieser Revolution hervorgehenden neuen Staat. Er tritt in Erscheinung in den um die Gestaltung dieses Staates zwischen den verschiedenen Richtungen geführten Kämpfen und besonders auch in dem hier spezieller untersuchten Kampf zwischen dem föderalistischen und dem unitarischen Prinzip.
Es gibt kein krasseres Beispiel für die von MARX im 18. Brumaire des Louis Bonaparte gegeißelte „demokratische Manier des Denkens“, für die sich „die ganze geschichtliche Bewegung zusammenfaßt in ein Stichwort: ‘Reaktion’ , Nacht, worin alle Katzen grau sind und die ihnen erlaubt, ihre nachtwächte r liehen Gemeinplätze abzuleiern“, als die Art und Weise, wie dieser große Widerspruch in der revolutionären Entwicklung von der unter den bürgerlichen Geschichtsschreibern der französischen Revolution bis zum heutigen Tage überwiegenden rein politischen Auffassung aufgefaßt wird. Das von dieser politischen Geschichtsschreibung angewandte Schema besteht einfach darin, die Revolution mit dem von ihr an einem bestimmten, von den verschiedenen Fraktionen der bürgerlichen Revolutionsgeschichtsschreibung verschieden angesetzten Punkte der revolutionären Entwicklung erreichten politischen Ergebnis, das heißt mit dem aus ihr hervorgegangenen neuen revolutionären Staat schlechthin gleichzusetzen, und nun von diesem Punkt aus nach vorwärts und rückwärts alle Parteien, Einzelpersonen, Ereignisse, Anschauungen, Entwicklungen und Tendenzen je nachdem, ob sie auf die Herbeiführung und Sicherung dieses revolutionären Ergebnisses gerichtet sind oder auf seine Bekämpfung, als positive und negative, revolutionäre und konterrevolutionäre Parteien, Personen, Ereignisse usw. abzustempeln nach dem Wort der Schrift: „Eure Rede sei ja ja, nein nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“ Nach diesem Schema gibt es z.B. für den großen französischen Historiker AULARD „keinen gegenrevolutionären Akt als die Hin richtung der Hebertisten und Dantonisten oder die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts im Jahre III“. [9] Natürlich, denn nach seinem ausgesprochenen Bekenntnis besteht für ihn „die französische Revolution“ „in der Erklärung der Menschenrechte von 1789 und ihrer Vervollständigung im Jahre 1793 sowie in den Bestrebungen zur Verwirklichung dieser Erklärung“, und „die Gegenrevolution“ dem entsprechend „in den Bestrebungen, die gemacht wurden, um die Franzosen davon abzubringen, sich nach den Grundsätzen der Erklärung der Rechte zu benehmen, d.h. nach der durch die Geschichte erleuchteten Vernunft“. [10]
Nach diesem äußerst klaren Standpunkt ist alles einfach zu lösen, auch die Frage nach dem revolutionären oder konterrevolutionären Charakter der Föderation. Die Föderation ist ein schönes Ideal der Vernunft, sie ist schon durch den Philosophen JEAN JACQUES in seinen Considérations sur le Gouvernement de Pologne als „die einzig geeignete für freie, in einem großen Reiche vereinigte Menschen“ bezeichnet worden. Aber daraus folgt noch nicht, daß diese Regie rungsform für Frankreich „auch im gegenwärtigen Augenblick die bestmögliche ist“. Drohende kriegerische Angriffe von außen, konterrevolutionäre Umtriebe, wachsende Nöte und Schwierigkeiten im Innern verbieten ihre Einführung, und so kann die wirkliche Verfassung Frankreichs in der gegenwärtigen Lage nur zentralistisch und unitarisch sein, und auch im internationalen Maßstab kann der föderative Gedanke nur ein politisches „Ideal“ und eine propagandistische „Waffe der nationalen Verteidigung“ sein,während er für die wirkliche Außenpolitik des revolutionären Frankreichs ebensowenig taugt, wie das entgegengesetzte Extrem der unitarischen Weltrepublik des ultrarevolutionären preußischen Republikaners ANACHARSIS CLOOTS. [11]
Es ist an dieser Stelle nicht nötig, genauer darzulegen, daß es für die hier ins Auge gefaßte methodische Frage ganz gleichgültig ist, an welcher Stelle die verschiedenen Fraktionen der bürgerlichen politischen Revolutionsgeschichtsschreibung den Punkt ansetzen, wo die Revolution ihre „positive“ geschichtliche Aufgabe erfüllt hat. So wie es einerseits Geschichtsschreiber gibt, die trotz einer grundsätzlichen Bejahung der französischen Revolution schon „die Männer von 1792 und 1793 als Abtrünnige von den Grundsätzen von 1789 bezeichnet haben“ [12], so verschiebt umgekehrt der bereits mehrfach erwähnte, heute seit AULARDs und JAURÈs Tode führende französische Historiker MATHIEZ, indem er trotz seines ausdrücklichen Bekenntnisses zu der materialistischen Geschichtsauffassung von MARX und ENGELS [13] hierin ganz unverändert die Tradition der großen französischen Revolutionsgeschichtsschreiber der alten Schule fortsetzt, diesen Punkt noch etwas weiter nach vorwärts als AULARD. Er betrachtet als unentwegter Parteigänger von ROBESPIERRE [14] noch die Hinrichtung der Dantonisten und Hebertisten und die ganze letzte Phase des großen Schreckens vom 23. Prairial bis zum 8. Thermidor als eine Politik der revolutionären Notwendigkeit.
Wichtiger ist es für den Zweck unserer gegenwärtigen Untersuchung, auf die Tatsache hinzuweisen, daß für diese idealistische und abstrakte Auffassung, die sich nur auf das politische Ergebnis der revolutionären Bewegung, aber weder auf ihren ökonomischen und sozialen Inhalt noch auf die konkrete revolutionäre Aktion selbst richtet, schließlich die geschichtliche Bedeutung solcher Revolutionäre,wie der SIEYES und MOUNIER von 1789 und der ROBESPIERRE und ST. JUST von 1793 mit der ihrer geschichtlichen „Vorläufer“, der LUDWIG XIV. und RICHELIEU, und ihrer „Fortsetzer“, der NAPOLEON BONÄPARTE und LUDWIG XVIII., zu einer ununterscheidbaren Einheit zusammenfällt. Sie haben nach dieser abstrakten politischen Geschichtsschreibung alle in der gleichen Richtung an dem gemeinsamen Werk der Gründung des modernen französischen Staates, d.h. des zentralisierten bürgerlichen Einheitsstaates mitgewirkt. SIEYES und ROBESPIERRE als Fortsetzer des ancien régime, das Napoleonische empire und sogar die Bourbonische „Restauration“ als Fortsetzung und Testamentsvollstreckung der revolutionären Jakobiner, dies alles nicht als eine kritische Kennzeichnung eines paradoxen Zusammenhanges, einer wahren geschichtlichen Ironie, sondern als die schlichte Feststellung einer historischen Tatsache – das ist das schließliche Ergebnis dieser liberalen und demokratischen bürgerlichen Revolutionsgeschichtsschreibung. Sie beginnt mit den „Ideen von 1789“ oder mit dem Jakobinerkultus und endet mit der TOCQUEVILLEschen Auffassung der revolutionären Staatsgründung als Vollendung des ancien régime und mit dem Napoleonkultus. Von diesem Standpunkt aus verliert dann auch der geschichtliche Gegensatz Föderalismus-Unitarismus jede Bedeutung. Er löst sich auf entweder in die demokratische unbedingte Bejahung des Unitarismus und Zentralismus im Prinzip, verbunden mit einer liberalistischen Abwehr aller „Eingriffe“ dieses zentralisierten Staates in die Sphäre des bürgerlichen Eigentums, oder in eine rein opportunistische, von Fall zu Fall zu lösende Zweckmäßigkeitsfrage der positiven Staatsverfassung und Verwaltung. Von zwei Seiten ist im Laufe des letzten Jahrhunderts gegen diese abstrakte und schematische Manier der bürgerlich-politischen Revolutionsgeschichtsschreibung Protest erhoben worden. Hierher gehört einerseits die materialistisch dialektische Kritik dieser rein politischen Betrachtung des revolutionären Prozesses durch den Marxismus, andererseits die kritischen Angriffe, die seit den 60er Jahren, im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Erschütterung des Napoleonkultus, auch gegen den Jakobinerkultus erhoben worden sind und als deren wichtigste Exponenten einerseits der große französische Historiker EDGAR QUINET, andererseits MARX’ großer Antipode im proletarischen Lager, der „föderalistische“ Sozialist P.J. PROUDHON anzusehen sind. [15] Hierbei ist jedoch das einigermaßen merkwürdige Phänomen zu verzeichnen, daß durch die Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung, die die herkömmliche jakobinisch bürgerliche Auffassung der Geschichte der bürgerlichen Revolution in ihrer Grundlage entscheidend umgewälzt hat, dennoch an der Auffassung des politischen Problems Föderalismus-Staatseinheit effektiv nichts geändert worden ist.
Wo nicht für MARX und ENGELS selbst, so doch für die meisten unter ihren Anhängern und Nachfolgern, die sich mit der Geschichte der bürgerlichen Revolution beschäftigt haben, erschöpfte sich der innere Widerspruch, der dieser Revolution und speziell ihrem höchsten Ausdruck, der revolutionären Jakoberdiktatur anhaftet, darin, daß sie die liberté, égalité, fraternité, die sie in der politischen Sphäre verwirklichen wollte, zugleich in der ökonomischen Sphäre wieder aufhob, indem sie die alte feudale Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Massen nur in ihrer Form veränderte, aber in ihrem Wesen beibehielt und in der Folge sogar noch steigerte. Sogar der Anonymus, der kürzlich in der politisch wissenschaftlichen Zeitschrift der extremen marxistischen Partei einen ersten energischen Anfang zur Vertiefung einiger, in der marxistischen Literatur bisher allzu einfach aufgefaßter Probleme des Verhältnisses von ökonomischer Bewegung und politisch ideologischem Oberbau in der bürgerlichen Revolution unternommen hat, ist an diesem Punkte über die gewöhnliche, von den Marxisten unbesehen übernommene jakobinische Legende noch nicht wesentlich hinausgekommen. [16]
Es ist sehr leicht zu sehen, daß diese Auffassung, welche den Widerspruch der bürgerlichen Revolution wesentlich zwischen ihrer Ökonomie und Politik, aber nicht zugleich auch unmittelbar in ihrer politischen Erscheinung selbst sieht, zu der bürgerlich jakobinischen Staatstheorie im Grunde viel mehr im Verhältnis einer „Ergänzung“ als eines unvereinbaren Gegensatzes steht. So wie seit den Tagen BABOEUFs und seiner Nachfolger bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts das gesamte Programm des Sozialismus im wesentlichen aus einer Verkoppelung der Verfassung von 1793 mit den ökonomischen und sozialen Forderungen der Arbeiterklasse bestanden hat, so bleibt auch noch in der späteren Entwicklung der sozialistischen Bewegung besonders in Frankreich, aber auch in anderen Ländern, der Gedanke vorherrsehend, daß im Grunde die konsequente Demokratie bereits die auf dem Gebiet der Politik begonnene und jetzt nur noch auf das ökonomische und soziale Gebiet auszudehnende Verwirklichung des Kommunismus sei. So findet sich z.B. in der ganz in diesem Geist gehaltenen Prinzipienerklärung, die der 4. Kongreß der Französischen Sozialistischen Partei in Tours im Jahre 1902 beschlossen hat, der dieses Prinzip bis in seine absurden Konsequenzen durchführende Satz: „Das allgemeine Wahlrecht ist der Kommunismus der politischen Macht“. Und wenn die von MARX begründete und in unseren Tagen von LENIN „wiederhergestellte“ Theorie der revolutionären proletarischen Diktatur mit dieser Illusion des Babouvistisch-Blanquistischen Sozialismus scheinbar völlig gebrochen und für die Verwirklichung der spezifischen Aufgaben der proletarischen Revolution auch einen spezifischen proletarischen Staat für notwendig erklärt hat, so besteht doch der wesentliche Unterschied dieses neuen Staates der proletarischen Diktatur von der bürgerlichen Jakobinerdiktatur auch nach der marxistischen und leninschen Konzeption wieder nur in seiner Zweckbestimmung, seiner Funktion, seinem Träger, kurzum in seinem ökonomischen und sozialen Wesen, dagegen durchaus nicht auch zugleich in irgendeinem Unterschiede seiner politischen Form. [17]
Aus dieser allgemeinen Stellung des Marxismus zu der bürgerlichen Revolution und zum Problem des revolutionären Staates folgt als notwendige Konsequenz auch jene vorbehaltlose Bejahung der unitarischen und zentralistischen Staatsform und unbedingte Ablehnung jedes Föderalismus, welche bis zum heutigen Tage einen festen Bestandteil jeder konsequent marxistischen Staatsauffassung bildet. Diese marxistische Staatsauffassung steht zu der bürgerlichen Staatslehre einerseits in einem absoluten theoretischen Gegensatz: Jeder Staat ist seinem Wesen nach der politische Ausdruck eines auf dem Gegensatz von herrschenden und unterdrückten, ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen beruhenden Gesellschaftszustandes. Dies gilt auch für den aus den großen Revolutionen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts hervorgegangene: neuen bürgerlichen Staat. Die proletarische Revolution wird also nicht bloß die gegenwärtige Form dieses Staates umgestalten, also etwa die gegenwärtige unitarische und zentralistische in eine föderalistische und dezentralisierte Staatsform umwandeln. Vielmehr wird sie „im Laufe der Entwicklung“ zugleicn mit den Klassen und Klassengegensätzen jeden Staat überhaupt aufheben. In der voll entwickelten kommunistischen Gesellschaft tritt „an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. [18]
In diesem absoluten theoretischen Gegensatz zwischen der MARXschen proletarischen und der bürgerlich jakobinischen Staatsund Diktaturtheorie ist aber als direkte Konsequenz zugleich noch immer eine relative praktische Übereinstimmung beider enthalten, die darin besteht, daß solange die proletarische Klasse noch einen Staat braucht, d.h. für die ganze lange Periode der revolutionären Umwandlung der kapitalistischen in die kommunistische Gesellschaft, auch dieser Staat der revolutionären Diktatur des Proletariats seiner politischen Form nach bürgerlicher Staat bleibt. Der Bruch mit der Vergangenheit liegt nach dem sozialistischen Standpunkt wesentlich in der veränderten Zweckbestimmung dieses Staates, der aus einem Instrument der Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft in ein Instrument zu ihrer Beseitigung umgewandelt wird. Hieran ändert sich auch nichts durch den von MARX und ENGELS später nach dem Fehlschlagen der revolutionären proletarischen Bewegungen von 1848, und besonders nach den Erfahrungen des revolutionären Pariser Kommuneaufstandes von 1871 zu ihrer Staatstheorie hinzugefügten Zusatz, daß die Kommune „den Beweis geliefert habe, daß die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann“ (Adresse des Generalrats über den Bürgerkrieg in Frankreich). Diese Anerkennung der praktischen Notwendigkeit der totalen Zerschlagung des alten Staates, die eigentlich schon durch die von den SIEYES, BRISSOT, den ROBESPIERRE und ST. JUST und den namenlosen Führern des revolutionären Pariser Kommuneaufstandes von 1792 gelieferten Erfahrungen der großen bürgerlichen Revolution hinlänglich bewiesen war und also eigentlich gar keines neuen Beweises mehr bedurfte, änderte nichts daran, daß auch diese neue marxistische Staatstheorie den „Staat“ seiner politischen Form nach klassenlos betrachtet. Der „Staat“ ist für sie nur die „organisierte und zentralisierte Gewalt der Gesellschaft“, die ebensogut von dem revolutionären Proletariat gegen das Kapital, wie von der Bourgeoisie gegen das Proletariat gehandhabt werden kann, so wie einmal RÖBESPIERRE in einer seiner berühmten Reden im Konvent oder im Jakobinerklub von dem gezückten Dolch gesprochen hat, der ebenso in der Hand des Meuchelmörders, wie in der Hand des Freiheitshelden blitzt.
Man sieht, daß auch nach dieser märxisti -sehen und leninschen Staatstheorie, die ihre erste praktische Verwirklichung im heutigen, von der Spitze der Kommunistischen Partei trotz einer formell „föderativen“ Räteverfassung streng zentralistisch und u n itarisch regierten neuen russischen Staat gefunden hat, in dem Gegensatz Föderalismus-Unitarismus ebensowenig ein praktisches und theoretisches Grundproblem der Revolution besteht, wie nach der Staatstheorie der radikalen bürgerlichen Jakobiner. Jede föderalistische „Auflockerung“ des fest gefügten zentralistisch unitarischen Staates würde den revolutionären Staat nur zu einem weniger tauglichen Instrument für die Erfüllung seiner ökonomischen und sozialen Funktionen und des Willens seiner diktatorischen Lenker machen. Das gilt sogar für den Staat der revolutionären proletarischen Diktatur, ungeachtet der Tatsache, daß das letzte Ziel dieses proletarischen Diktaturstaates darin besteht, in der voll entwickelten kommunistischen Gesellschaft sich selbst überflüssig zu machen. Es gilt erst recht für den Staat der bürgerlichen Revolution. Man weiß, daß MARX und ENGELS und LENIN Zeit ihres Lebens die Regierung des Jakobinischen Konvents als das Muster der höchsten politischen Klugheit und Energie bewundert haben. [19] Sie haben auch in den prakti sehen Kämpfen vor, während und nach der Revolution von 1848 die „eine und unteilbare Republik“ nicht nur als das einzige mögliche Programm für die entschiedene demokratische Partei proklamiert [20], sondern ebenso auch die wesentliche Aufgabe der „proletarischen revolutionären Partei“ darin erblickt, „nicht nur auf die eine und unteilbare Republik, sondern auch in ihr auf die entschiedenste Zentralisation der Gewalt in die Hände der Staatsmacht hinzuwirken“. [21]
Dagegen hat nun PROUDHON in seinem programmatischen Buche von 1863 dieser ganzen „jakobinischen Tradition“ der „einen und unteilbaren Republik“ auch auf dem politischen Gebiet selbst eine völlig andere Konzeption gegenüberzustellen versucht. Wir haben bereits erwähnt, daß der von ihm vertretene „Föderalismus“ nach den Absichten des Autors nichts zu tun hat mit der Nachahmung irgendeines früheren, sei es feudalistisch mittelalterlichen, sei es bürgerlich liberalen „Föderalismus“. Wenn PROUDHON in dem kleinen, dieser Frage gewidmeten Kapitel seines Principe fédératif von der „eingeborenen föderativen Idee des alten Gallien“ spricht, die nach tausendjähriger Unterdrückung beim Ausbruch der Revolution noch „wie eine Erinnerung im Herzen der Provinzen lebendig war“ (a.a.O., S.86), so meinte er damit nicht eine Wiederherstellung der feudalen Privilegien der Provinzialstände, sondern das, was später ENGELS in seiner ausführlicheren und wissenschaftlicheren Untersuchung der modernen gallisch-germanischen Staatsbildung als die der zivilisierten Staatsbildung vorausgehende Entwicklungsstufe der „Gentilverfassung“ beschrieben hat. [22] Wir haben ebenso auch schon daran erinnert, daß der revolutionäre „Föderalist“ PROUDHON gegen eine „zeitweilige Diktatur“ der revolutionären Gewalt keine Einwendungen erhoben hat. [23]
Nicht hierin also besteht der Gegensatz seiner „föderalistischen“ Idee zu den theoretischen und praktischen Ideen der marxistischen Materialisten. Vielmehr handelt es sich bei dieser „föderalistischen“ Idee PROUDHONs im wesentlichen um eine lebendigere und konkretere Anschauung jenes großen inneren Widerspruchs der Revolution, von dem wir bei Beginn dieses Teils unserer Betrachtungen gesprochen haben. PROUDHON, und ganz ähnlich einige Jahre später auch der große Historiker EDGAR QUINET, wollen diesen Widerspruch, den die gewöhnliche bürgerliche Doktrin auf das ganz abstrakte Schema des Kampfes zwischen einer revolutionären und einer konterrevolutionären Partei zurückführt, und den auch die herkömmliche materialistische Lehre der Marxisten noch allzusehr vereinfacht, indem sie ihn als einen bloß objektiven Gegensatz zwischen der Ökonomie und Politik der bürgerlichen Revolution betrachtet, in der bewußt subjektiv und aktivistisch betrachteten inneren Bewegung der Revolution selbst aufsuchen. Und sie finden in dem Gegensatz zwischen Unitarismus und Föderalismus, Staat und Freiheit, das heißt in jenem ungeheuren Zwiespalt, in den die Revolution dadurch gerät, daß sie als Kampf um die Zerstörung des alten Zwanges und die Verwirklichung einer neuen Freiheit mit unvermeidlicher geschichtlicher Notwendigkeit zugleich einen neuen Zwang und eine neue Unfreiheit in sich selbst hervorbringt. Mit dieser bewußt subjektiven und aktivistischen Ansicht der geschichtlichen Bewegung wollen sie jeden Historismus, der in der objektiven materialistischen Geschichtsauffassung der Marxisten als ein Erbteil von der HEGELschen Philosophie immer noch enthalten ist, zerbrechen und zu einer Geschichtsauffassung gelangen, die ihren letzten Sinn nicht mehr in einer bloß materialistisch umgestülpten „Versöhnung mit der Wirklichkeit“ findet, sondern als wirkliche kritische Geschichte die gesamte historische Entwicklung und Aktion in allen ihren Erscheinungen wesentlich als Widerspruch und Kampf begreift.
An diese Auffassung des Problems Föderalismus-Unitarismus, die vor 60 Jahren zuerst PROUDHON in einem kurzen Kapitel entwickelt und dann zwei Jahre später unabhängig von ihm der eigentliche Zermalmer der jakobinischen Revolutionslegende, EDGAR QUINET, in seiner kritischen Geschichte der französischen Revolution auf die gesamte Entwicklung der Revolution angewendet hat, die aber in der dazwischen liegenden Periode wieder völlig in Vergessenheit geraten ist, hat HINTZE in ihrem vorliegenden Buche angeknüpft. Sie hat das Werk von SIEYES, die Departementsund Munizipalgesetzgebung der Konstituante, die verschiedenen Verfassungen der Revolution, den Gegensatz zwischen der Gironde und dem Berg in den verschiedenen Phasen“ seiner Entwicklung bis zum Zusammenbruch der girondistischen Politik und dem Föderalistenkrieg, die verschiedenen widerstreitenden Tendenzen der revolutionären Außenpolitik, die großen Streitfragen der ökonomischen und sozialen Politik, und noch eine Reihe anderer Grundfragen der Revolution unter diesem kritischen Gesichtspunkt untersucht und ihnen dadurch eine neue, von der üblichen Auffassung vernachlässigte Bedeutung abgewonnen. Sie hat dabei freilich auch den Bogen ein wenig überspannt. Sie hat, wie wir gezeigt haben, schon in den ersten Kapiteln ihres Buches den für die wirkliche geschichtliche Entwicklung der Vorgeschichte der Frühzeit der Revolution wesentlichen Gesichtspunkt vernachlässigt, indem sie dort von den Kämpfen zwischen einer „föderalistischen“ und „unitarischen“ Tendenz sprach, wo es sich nur in verschwindendem Maße um eine Frage der Staatsform handelte und der wirkliche Kampf vielmehr um die letzte Umwälzung der ganzen bisherigen Gesellschaftsordnung und um die Schaffung des neuen bürgerlichen Staatswesens geführt wurde.
Sie hat ebenso auch noch in ihren späteren Untersuchungen vielfach nicht genügend die große Mannigfaltigkeit der verschiedenen und einander teilweise direkt entgegengesetzten ökonomischen und sozialen Tendenzen klargestellt, die alle ihren formellen politischen Ausdruck in einer mehr oder weniger „föderalistischen“ oder „dezentralistischen“ Tendenz gefunden haben, und sie hat bisweilen nicht einmal die unmittelbaren politischen Unterschiede der von ihr unter dem gemeinsamen Namen des „Föderalismus“ zusammengefaßten Tendenzen gebührend beachtet. So ergibt sich ein außerordentlich buntes und manchmal etwas verwirrendes Bild dessen, was alles nach dieser Darstellung als eine „föderalistische Tendenz“ in der geschichtlichen Vorbereitung und Entwicklung der französischen Revolution anzusehen sein soll. „Föderalismus“ ist danach einerseits der fortschrittlich liberale Kampf gegen die absolute Monarchie und die mit ihr vereinigten feudalen Gewalten, aber ebenso auch andererseits der feudalistisch korporative Widerstand gegen die mit dem aufsteigenden Bürgertum zusammengehende absolute Monarchie. „Föderalismus“ ist der republikanische, demokratische Kampf gegen die absolute und konstitutionelle Monarchie, und der liberale, konstitutionelle Widerstand gegen die demokratisch republikanische Diktatur. „Föderalismus“ ist Partikularismus und Separatismus, und umgekehrt freier föderativer Zusammenschluß zur Einheit der Nation. „Föderalismus“ ist „contrat social“ zwischen den atomisierten Individuen und dem nivellierten Einheitsstaat unter Verwerfung jeder dazwischen eingeschobenen „association partielle“, und „Föderalismus“ ist auch umgekehrt „organischer“ Aufbau der Staatsgemeinschaft in einem von unten nach oben aufsteigenden und auf jeder Stufe durch eine besondere Gemeinschaft vermittelten genossenschaftlichen Zusammenschluß. „Föderalismus“ ist kommunale, munizipale, föderierte Initiative für die Weitertreibung und Vertiefung der Revolution und revolutionsfeindlicher, partikularistischer und separatistischer Widerstand der besitzenden Klasse gegen die in Permanenz erklärte und interventionistische revolutionäre Diktatur. „Föderalismus“ ist Erweiterung des nationalen Einheitsstaates zu einem „Föderalismus freier Staaten“, zu einem gesamteuropäischen und die ganze Erde umspannenden freien Staatenund Völkerbund, und „Föderalismus“ ist auch Staatsverneinende,anarchistische Idee der herrschaftslosen Gemeinschaft. „Föderalismus“ bedeutet schließlich unter Umständen weiter nichts als bundesstaatliche Verfassung, verwaltungsmäßige Dezentralisation, kommunale und regionale Selbstverwaltung, industrielle, kulturelle, religiöse Autonomie und so weiter.
Aber auch dieser von HINTZE durch allzu große Ausweitung ihres Begriffs von „Föderalismus“ begangene Fehler erscheint in einem veränderten Lichte, sobald man ihr Werk nicht abstrakt, sondern im Zusammenhang mit der sonstigen Literatur betrachtet. Die praktische Ausrottung aller „föderalistischen“ Momente aus dem revolutionären französischen Staat drückt sich auch theoretisch aus in jener vollständigen Vernachlässigung und Ignorierung dieses ganzen Problems, die trotz des vorübergehenden Einbruchs der PROUDHON und QUINET noch bis zum heutigen Tage für die gesamte und besonders für die französische Revolutionsgeschichtsschreibung charakteristisch ist. Wir haben bereits erwähnt,welche äußerst geringe Bedeutung der heute führende Vertreter der französischen Revolutionsgeschichte, ALBERT MATHIEZ, der ganzen Frage des „Föderalismus“ in den Kämpfen um die Ausbildung des modernen französischen Staates einräumt. Ein anderes schlagendes Beispiel findet man in dem bekannten Standardwerk: Les Constitutions et les Principales Lois Politiques de la France depuis 1789 der Herren LEON DUGUIT und HENRY MONNIER, wo in dem analytischen Sachregister unter dem Stichwort „Fédéralisme“, die Rolle, die dieser staatsrechtliche Grundbegriff in den zahlreichen revolutionären und konterrevolutionären Verfassungen und Verfassungsentwürfen Frankreichs während der letzten 140 Jahre gespielt hat, kurz und treffend charakterisiert wird in dem einen negativen Vermerk: V. République une et indivisible. [24] Tatsächlich erschöpft sich in dieser negativen Bestimmung bis zum heutigen Tage nicht nur für die herrschende Lehre, sondern, von einigen extremen Außenseitern zur Rechten und zur Linken abgesehen,für alle Vertreter der französischen Staatsund Geschichtswissenschaft die gesamte Bedeutung des föderalistischen Prinzips. Staat ist für sie gleichbedeutend mit Einheitsstaat bzw. sogar mit zentralisiertem Einheitsstaat, Föderalismus mit Partikularismus bzw. sogar mit Separatismus. Bei dieser Lage der Dinge enthielte schon die bloße neue Aufrollung der grundsätzlichen Frage nach der Bedeutung des Gegensatzes Föderalismus-Staatseinheit für die Geschichte der französischen Revolution ein bedeutendes theoretisches Verdienst. Das hier besprochene Buch HINTZEs hat aber durch seine sorgfältige, überall auf das ungeheure von der neueren französischen Revolutionsgeschichtsschreibung in den letzten Jahrzehnten beigebrachte neue historische Material gestützte Untersuchung aller geschichtlichen Erscheinungsformen dieses Gegensatzes überdies auch zu der Lösung dieser großen Frage der Theorie und Praxis der Revolution einen wichtigen Beitrag geliefert.
1. HEDWIG HINTZE, Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart, Berlin und Leipzig 1928; XXX und 623 Seiten.
2. Vgl. die klassische Darstellung dieser GIERKEschen Idee des Föderalismus im 5. Kapitel seines Johannes Althusius von 1880 (2. Aufl. 1902, S.226ff.).
3. Der Inhalt dieser Vorlesung ist unter dem Titel Bürgerliche und sozialistische Geschichtsschreiber der französischen Revolution wiedergegeben in der Gesellschaft, VI, 7 S.73ff. im Juli 1929.
4. „Frankreich ist das Land, wo die geschichtlichen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedesmal bis zur Entscheidung durchgekochten wurden, wo also auch die wechselnden politischen Formen, innerhalb deren sie sich bewegen und in denen ihre Resultate sich zusammenfassen, in den schärfsten Umrissen ausgeprägt sind. Mittelpunkt des Feudalismus im Mittelalter, Musterland der einheitlichen ständischen Monarchie seit der Renaissance, hat Frankreich in der großen Revolution den Feudalismus zertrümmert und die, reine Herrschaft der Bourgeoisie begründet in einer Klassizität wie kein anderes europäisches Land.“ (ENGELS, Vorrede zur 3. Auflage des MARXschen 18. BRUMAIRE DES LOUIS BONAPARTE)
5. Annales Historiques de la Révolution Française, V6 (30). S.577ff.
6. Vgl. hierzu neuerdings die Monographie von M. REBILLON: Les Etats de Bretagne et le progrès de l’autonomie provinciale au XVIII. siècle (besprochen in der Zeitschrift La Révolution Française, Band 82 Nr.2, April-Juni 1929).
7. Du Princip fédératif, Paris 1863 (Ges. Werke VIII, Aufl. 1858, S.86/87). Dazu auch noch die andere Stelle (a.a.O., S.26 Fußnote 1), wo PROUDHON im Gegensatz zu der z.B. von GUIZOT (Histoire de la Civilisation en Europe, 3 éd. Paris 1840, S.121ff.) vertretenen Behauptung, daß das Feudalsystem, ebenso wie der Föderalismus der Vereinigten Staaten von Amerika, „eine wahrhafte Föderation“ gewesen sei, dieses System als eine trügerische Gestalt des Föderalismus charakterisiert: „ce faux air de fédéralisme qu’elle revêtit, pour le malheur des peuple et de l’Empire“.
8. Der volle Wortlaut dieser interessanten Stelle ist folgender: „Le vrai problème à resoudre n’est pas en réalité le probléme politique, c’est le probléme économique. C’est par cette dernière solution que nous proposions en 1848, mes amis et moi, de poursuivre l’oeuvre révolutionnaire de février. La démocratie était au pouvoir; le Gouvernement provisoire n’avait qu’à agir pour réussir; la révolution faite dans la sphère du travail et de la richesse, on ne devait être nullement en peine de celle à opérer ensuite dans le gouvernement. La centralisation, qu’il eût fallu briser plus tard, eût été momentanément d’un puissant secours. Personne d’ailleurs à cette époque, hormis peut-être celui qui écrit ces lignes, et qui dès 1840 s’était déclaré anarchiste, ne songeait à attaquer l’unité et à demander la fédération“ (a.a.O. S 79).
9. Politische Geschichte der französischen Revolution, deutsche Übersetzung von OPPELN-BRONIKOWSKI mit einer Einleitung von HEDWIG HINTZE, München 1924, Band II, S.655.
10. a.a.O. S.655/56.
11. Vgl. hierzu die ganze Darstellung des „föderalistischen“ Problems bei AULARD, Band I, S.205ff. Dazu auch die ganz entsprechende Art, wie ROUSSEAU selbst zwar nicht zu den Prinzipien des „Föderalismus“, aber zu einem anderen Grundprinzip der staatlichen Verfassung Stellung genommen hat: „S’il y avait un peuple de Dieux, il se gouvernerait démocratiquement. Un Gouvernement si parfait ne convient pas à des hommes“ (Du Contrat Social, Buch III, Kapitel 4).
12. So SAINT-RENE TAILLANDIER, der in seinem von AULARD, a.a.O., Band I, S.37 angeführten und charakteristisch bekämpften Werk Les Rénégats de 89 (Paris 1877) einen sehr anschaulichen Bericht darüber gibt, welche Stürme durch diesen Angriff gegen die jakobinische Legende noch damals, in der dritten Republik, entfesselt worden sind.
13. Vgl. z.B. seine Polemik in den Annales VI, 1 (31), S.101/2 gegen eine Bemerkung von HENRI SEE, wo er sich auf den Standpunkt des „historischen Materialismus von BARNAVE, MARX und ENGELS“ (sic! – KK) stellt und mit dem einigermaßen pathetischen Ausspruch schließt, daß „eine oberflächliche Analyse vom historischen Materialismus entfernt, aber eine exakte und tiefe Analyse immer wieder zu ihm zurückführt“.
14. Vgl. hierzu z.B. seine interessante Studie über Die Verfassung von 1793 in den Annales Historiques V, 6 S.497ff., wo er entgegen der ketzerischen Ansicht von JAURÈS, daß die demokratische Verfassung von 1793 in dem damaligen Frankreich nicht nur proklamiert, sondern auch in Kraft gesetzt werden gekonnt hätte, ganz haarscharf den orthodoxen jakobinischen Standpunkt vertritt, daß das französische Volk für eine solche „demokratische Verfassung“ damals noch nicht „mündig“ gewesen sei (a.a.O., S.526).
15. Vgl. über die Erschütterung des Napoleonkultus das MARXsche Vorwort zu der ersten Buchausgabe des 18. Brumaire des Louis Bonaparte vom 23.6.1869, wo dieser „gewaltsame Bruch mit dem traditionellen Volksglauben“ als eine außerhalb Frankreichs noch zu wenig beachtete und begriffene „ungeheure geistige Revolution“ charakterisiert wird. Über den Standpunkt PROUDHONs und QUINETs vgl. die bereits erwähnte Schrift PROUDHONs Du Principe fédératif von 1863 und in dem zwei Jahre später erschienenen Werk von QUINET besonders das für diese Frage grundlegende 2. Kapitel des 6. Buches des 1. Bandes unter der Überschrift Oeuvre politique de la Constituante; auch Band 1, Buch 12, Kapitel 9, La centralisation dans la Révolution und Band 2, Buch 22, Kap.2, La Nation se refuse à se gouverner ellemême (zitiert nach der erweiterten 5. Aufl. von 1868).
16. Vgl. den Artikel von S-II über Die große französische Revolution in der deutschen Rechtsphilosophie in der Zeitschrift Unter dem Banner des Marxismus, III, 3 (Juni 1929), S.406ff., insbesondere S.437: „Die Theorie der jakobinischen Diktatur verdarb, wie die jakobinische Diktatur selbst, infolge der eigenen inneren Widersprüche: es war dies eine widernatürliche reaktionär-revolutionäre Strömung, die die arbeitenden Massen organisierte, aber unter dem Fortschritt der Produktivkräfte zuwiderlaufenden Parolen, die die ausbeutenden Klassen unterdrückte, aber keine Aussicht auf Befreiung von der Ausbeutung bot.“
17. Vgl. hierzu meinen Beitrag zur kritischen Analyse der MARXschen und LENINschen Diktaturlehre in Heft 5ff. d. Jahrg. XIX der Zeitschrift Die Aktion (Artikel Revolutionäre Kommune) und die dort erörterten Stellen aus der MARXschen Adresse des Generalrats über den Bürgerkrieg in Frankreich von 1871 und LENINs Staat und Revolution von 1917.
18. Die früheste Form, in der dieser Gegensatz zwischen der materialistischen Staatsauffassung MARXens und der (praktisch durch die französische Revolution, theoretisch durch die deutsche Philosophie entwickelten) idealistischen bürgerlichen Staatsphilosophie zum Ausdruck gekommen ist, findet sich in der jetzt veröffentlichten kritischen Auseinandersetzung MARXens mit dem 3. Abschnitt des 3. Teils der HEGELschen Rechtsphilosophie, Moskau-Frankfürter Gesamtausgabe der MARX ENGELSschen Werke und Schriften, Band I (Frankfurt 1927), S.403ff.; die Anwendung auf das Problem der Zentralisation in der am gleichen Orte, S.230/31, veröffentlichten materialistischen Kritik des jungen MARX an einem in der Rheinischen Zeitung am 7.5.1842 erschienenen Artikel von MOSES HESS über Deutschland und Frankreich in Bezug auf die Zentralisationsfrage.
19. Vgl. z.B. in den Kritischen Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform“ die Sätze: „Der Konvent aber war das Maximum der politischen Energie, der politischen Macht und des politischen Verstandes“ und: „Die klassische Periode des politischen Verstandes ist die französsiche Revolution“ (MEHRINGsche Ausgabe des MARXschen Nachlasses, Band II, S.50 und 52) und die von MEHRING (a.a.O., S.15) wiedergegebene Mitteilung RUGES darüber, daß MARX um diese Zeit „die Geschichte des Konvents schreiben wollte und das Material dazu aufgehäuft und sehr fruchtbare Gesichtspunkte gefaßt“ hatte.
20. Vgl. hierzu die Artikel in der Neuen Rheinischen Zeitung in der „demokratischen“ Periode vom Juni 1848 bis zum April 1849 in der MEHRINGschen Nachlaßausgabe, Band III, S.87ff.; z.B. gleich S.91-94 die ausdrückliche Forderung, zwar nicht als „Ausgangspunkt“, wohl aber als „Zielpunkt des Kampfes und der revolutionären Bewegung“ nicht den Bundes- oder Föderativstaat, sondern die „Föderierung der Deutschen zu Einem großen Staat“, d.h. zu der einigen und unteilbaren deutschen Republik zu proklamieren; S.172ff. die historische Rechtfertigung der 300 Jahre währenden und durch die eiserne Faust des Konvents vollendeten Unterdrückung der „südfranzösischen Nationalität“ durch den nordfranzösischen Despotismus usw.
21. Vgl. die Ansprache der Zentralbehörde an den Bund (der Kommunisten) vom März 1850, wo diese Politik eingehend begründet wird mit der ausdrücklichen Schlußfolgerung: „Wie in Frankreich 1793 ist heute in Deutschland die Durchführung der strengsten Zentralisation die Aufgabe der wirklich revolutionären Partei.“ Die hierzu von ENGELS später 1885 in der Züricher Ausgabe der MARXschen Enthüllungen über den Kommunistenprozeß in Köln hinzugefügte Fußnote und die ähnlichen Ausführungen von ENGELS in seiner Kritik des Sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891 (abgedruckt Neue Zeit, XX, S.5ff.) ergänzen dieses streng zentralistische und unitarische Programm nur durch die, wiederum ausdrücklich auf das Vorbild der großen französischen Revolution 1792-98 gestützte, Forderung der vollkommenen kommunalen Selbstverwaltung, während das unbedingte Bekenntnis der proletarischen Partei zu der Staatsform der „einen und unteilbaren Republik“ auch hier noch einmal ausdrücklich bestätigt wird. – Auch in ihrem zusammenfassenden Bericht über die deutschen Ereignisse in den Artikeln für die New Yorker Daily Tribüne erklären MARX und ENGELS wiederholt, daß in dieser Periode einer der drei Punkte, in denen „die proletarische Partei sich in ihrer politischen Tätigkeit wesentlich von der Klasse der Kleinbürger oder der eigentlichen sogenannten demokratischen Partei unterschied“, in der „Verkündung der Notwendigkeit, die eine und unteilbare Republik zu begründen“ bestanden hätte, während „selbst die extremsten Ultras unter den Demokraten nur nach einer föderativen Republik zu seufzen wagten“ (Revolution und Konterrevolution, 2. Aufl. Stuttgart 1907, S.30 und 49).
22. Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, Abschnitt VIII, S.156ff. der 23. Auflage, Berlin 1928.
23. „Une dictature temporaire pouvait s’admettre; un dogme, qui devait avoir pour résultat de consacrer tous les envahissements du pouvoir et d’annuler la souveraineté nationale, était un véritable attentat“ (a.a.O., S.89).
24. Zitiert nach der zweiten Auflage Paris 1908. Als einzige positive Erwähnung eines hierher gehörigen Begriffes findet sich in diesem Sachregister unter dem Stichwort „Fédération“ ein Hinweis auf die Präambel des von Napoleon I. am 22.4.1814 – zwischen Fontainebleau und Waterloo – erlassenen Zusatzaktes zu den Verfassungen des Kaiserreichs, in der davon die Rede ist, daß der Kaiser ehemals das Ziel gehabt hätte, ein „großes föderatives System“ für ganz Europa zu errichten und vor der Sorge für die Ausdehnung und Stabilisierung dieses Systems die näher liegende und von jetzt ab einzige Sorge für die Freiheit und Prosperität der Bürger Frankreichs zurückgestellt hätte.
Zuletzt aktualisiert am 4.10.2004