Alexandra Kollontai

Die Jugendjahre

* * *

Die achtziger Jahre

Veränderungen in unserer Familie

Inzwischen war ich den Kinderschuhen entwachsen. Ich war aufgeschossen, ein schlaksiges junges Mädchen mit langen Armen und Beinen. Bildern aus jener Zeit nach zu urteilen, nicht gerade eine Schönheit. Einfach ein Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren wie viele. Aber mit klarem und offenem Blick, der keine Spur von Angst vor dem Leben und dessen Schwierigkeiten zeigte.

In unserer Familie hatte sich manches verändert. Meine englische Kinderfrau war gestorben. Ihr folgten Jelisaweta Iwanowna und dann auch die anderen alten Tanten. Nach und nach verschwand Mutters ganzer „Ältestenrat“, wie meine Schwestern sich ausdrückten. Wir zogen in ein anderes Haus um. Dieses Haus gehörte einem Cousin meines Vaters. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatten meine Eltern schon einmal in diesem Hause gewohnt. Ich bin da geboren worden, verbrachte dort meine Jugend, heiratete, brachte einen Sohn zur Welt und verließ mit diesem Haus auch meine Familie für immer, um mich der Revolution zu widmen.

Das Haus bestand aus mehreren Teilen. Der Teil, der zur Straße ging, war hochherrschaftlich, mit großen Zimmern, hohen Decken und schönen Kachelöfen in den Ecken. Die Treppe war mit einem weichen Teppich belegt. Doch der Hof wurde von zwei Seitenflügeln mit billigen Wohnungen, richtigen Löchern, begrenzt. Dort wohnten ganz arme Leute, die für ihr bisschen Wohnraum unverschämt hohe Mieten zahlen mussten. In diesen Seitengebäuden waren die Decken niedrig, die Öfen qualmten. Kaputte Fensterscheiben wurden nicht ersetzt, sondern die Fenster statt dessen mit Papier zugeklebt.

Im Hof spielten oft blasse, rachitische Kinder aus jenen Familien, die in den Seitengebäuden wohnten. Doch ich hatte strenges Verbot, mich zu ihnen zu gesellen. Man wollte mir weismachen, dass in den Seitenflügeln immerzu Kinderkrankheiten, wie Masern oder Diphtherie, umgingen. Dennoch brachte ich es fertig, Kontakt zu den Mädchen anzuknüpfen, die mir gut gefielen. Aus dem Kinderzimmer ließ ich den Kindern an einem Strick Süßigkeiten und Spielzeug, mitunter auch ein Kleidungsstück von mir hinunter, wofür es natürlich immer etwas setzte.

Ich wollte zu gern wissen, wie diese armen Leute lebten, denn ich wusste nur aus Büchern von ihnen. Am furchtbarsten war es, wenn ganze Familien auf die Straße gesetzt wurden, weil sie die Miete schuldig geblieben waren. Die Familie mitsamt den zerlumpten Kindern lud ihr bisschen Habe – zerschlissene Kissen, staubige Decken, einen Samowar ohne Henkel und Ähnliches – auf kleine Schlitten. Die Kinder hatten blau gefrorene Hände und rote Nasen, aber sie standen die ganze Zeit wortlos und geduldig neben den beladenen Schlitten, bis ihr Vater, gewöhnlich ein Arbeiter, der keine Arbeit hatte, das Zeichen gab: „Nun denn, Kinder, auf geht’s!“ Die beladenen Schlitten zog meist die Mutter oder die Großmutter. Die Familie zitterte vor Kälte in ihren Lumpen. „Wo gehen sie denn nun hin?“ wollte ich wissen. „Warum jagt man sie fort?“ Manchmal konnte ich das jammervolle Bild nicht mehr mit ansehen und lief in die Küche. Ich bat die Köchin, den Kindern Tee und Brötchen zu geben. „Siehst du denn nicht, Marfuschka, dass die Kinder ganz durchfroren sind, und du hast doch auf dem Herd Tee und heißes Wasser stehen.“ Aber die Köchin scheuchte mich aus der Küche. „Als ob ein Glas Tee bei solchem Unglück helfen könnte. Der Arbeitslose wird sowieso früher oder später Hungers sterben. Die Zeiten sind jetzt eben schwer, Arbeit findet man nicht so leicht.“ So blieben die frierenden Kinder ohne Tee. Das tragische Bild des Leidens aber, wie diese Familie eines Arbeitslosen, die wegen der Mietrückstände von den Hausbesitzern auf die Straße gesetzt worden war, blieb mir für immer im Gedächtnis haften, und des Nachts krampfte sich mir das Herz zusammen.

Ich dachte viel darüber nach, was zu tun sei, damit es keine armen Leute und keine Ungerechtigkeit mehr gebe. Als ich jedoch versuchte, mit meinen Schwestern darüber zu sprechen, lachten sie mich aus und sagten:

„Du bist noch zu klein, um über derart große und ernste Dinge urteilen zu können. Gott hat es so eingerichtet. Jeder hat eben sein Kreuz zu tragen.“

Das gefiel mir ganz und gar nicht. Ich sah nicht, dass Mutter oder ich irgendein Kreuz trügen, so dass ich mir vornahm, mit meiner Lehrerin, Maria Strachowa, darüber zu reden. Ich war unendlich glücklich, als sie mir zustimmte, dass es in Russland eine Menge Ungerechtigkeit gebe und das Volk viel leiden müsse. Sie sagte, es gebe Länder, in denen die Armen ein leichteres Leben hätten. Voller Wissbegier fragte ich sie: „Wo sind denn diese Länder?“ – „Wenn wir nicht nur die physische, sondern auch die politische Geographie durchnehmen, wirst du es erfahren.“

Immerhin gab mir Maria Strachowa ein kleines Buch über Neuseeland. Das Buch gefiel mir allerdings nicht. Dort stand nichts darüber, wie sich die Menschen ihr Leben besser einrichteten. Dabei wollte ich doch gerade lernen, wie das alles gemacht werden müsste, damit es niemand mehr wagte, einen Arbeitslosen auf die Straße zu jagen, damit es keine Kinder mit blau gefrorenen Händen und frostroten Nasen mehr gab, die auf der Straße frieren mussten und niemals Spielzeug oder Süßigkeiten hatten.

Geduldig wartete ich auf die Stunden in politischer Geographie.

Meine Schwestern wohnten nicht mehr mit uns zusammen. Meine älteste Schwester, Adele, hatte den vierzig Jahre älteren Cousin meines Vaters geheiratet. Er war ein kluger, gebildeter Mann mit liberalen Ansichten, der aktiv bei der Bauernbefreiung mitgewirkt hatte, aber selbstverständlich war das keine Liebesheirat, sondern eine Vernunftehe. Er hatte eine Vorliebe für die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts, sprach jedoch niemals von aktuellen sozialen Problemen. Als echter Liberaler trat er eifrig für die Freiheit des Handels ein und war der Auffassung, dass damit alle sozialen Probleme in Russland gelöst würden. Er war alles andere als schön und noch dazu kahlköpfig. Adele hingegen war gerade zwanzig, gesund und in der vollen Blüte ihrer Jugend. Aber sie wollte eben eine gesicherte Position haben. Sie konnte nicht vergessen, wie unsere Familie nach der Gerichtsverhandlung gegen ihren Vater geächtet worden war. [1] Meine Mutter befürwortete diese Verbindung. Schließlich bekamen ihre beiden Töchter keine Mitgift. Die Hochzeit wurde mit allem Pomp gefeiert, und Adele schien glücklich zu sein. Ob sie es aber auch wirklich war?

Schenja wählte einen anderen Weg. Da sie sich entschlossen hatte, Sängerin zu werden und einmal ans Marientheater zu gehen, arbeitete sie ernsthaft an ihrer Stimme, befasste sich mit Musiktheorie, trieb Bewegungsstudien und las Bücher, die eine Vorstellung von den in den verschiedenen Opern vorkommenden historischen beziehungsweise legendären Gestalten vermittelten. Nachdem sie ihren Unterricht bei dem russischen Gesangslehrer Prjanischnikow abgeschlossen hatte, beschloss sie, nach Italien zu fahren, um dort ihre musikalische Bildung zu vervollkommnen.

Mutter und ich begleiteten Schenja nach Italien. Ich kann mich noch gut an unseren Aufenthalt in Mailand erinnern. Wir mieteten eine kleine, bescheidene Wohnung in der Nähe der Galleria Vittorio Emanuele. Die Passage mit ihrem Glasdach, den Restaurants und den Geschäften mit italienischen Raritäten machte ungeheuren Eindruck auf mich.

Schenja und mir bereitete die neue Atmosphäre, in der wir lebten, großes Vergnügen. Ich leistete Schenja sehr gern Gesellschaft, wenn sie loszog, die alten Denkmäler und die Werke italienischer Künstler kennenzulernen. Da waren die von der Zeit verblichenen Fresken Leonardo da Vincis, die dunklen italienischen Gotteshäuser, in denen es sogar in der größten Hitze kühl war, die Reste des römischen Amphitheaters und schließlich der berühmte Mailänder Dom, aus lauter Marmor, gleichsam in Spitzen gehüllt. Wir stiegen ganz nach oben, wo einem schwindlig wurde von der Höhe, doch Schenja hatte mir eine zusätzliche Portion Eis in der Galleria Vittorio Emanuele versprochen, wenn ich mit ihr zusammen da hinaufkletterte. Schenja entdeckte mit Feuereifer all die Schätze der italienischen Kultur für sich. Sie sagte: „Das wird mir helfen, in den Rollen historischer Persönlichkeiten lebendige Gestalten zu schaffen, wenn ich erst einmal an der Oper bin.“

Schenja konnte mit einfachen Worten erklären, warum irgendein alter, verfallener Palast interessant war, welche Rolle die Familie Sforza im Kampf zwischen Nord- und Süditalien gespielt hatte und dergleichen mehr. Von ihr habe ich eine Menge gelernt.

Das ganze Leben in Mailand war für mich etwas Neues. Wir hatten kein Dienstpersonal. Morgens bereitete Mutter selbst duftenden Kaffee in einer ulkigen Kanne, die zu pfeifen begann, wenn der Kaffee soweit war. Ich bekam Geld und wurde in die nächste Bäckerei nach Brot geschickt. Zu meinen Obliegenheiten gehürte es, den Tisch abzuräumen, die Tassen abzuwaschen und Staub zu wischen. Darauf ging Schenja zu ihrem Gesangslehrer, mich ließ Mutter französische, deutsche oder englische Texte lesen. Mittags aßen wir in irgendeinem bescheidenen Restaurant der Galleria. Abends wurde ich manchmal in die Scala mitgenommen. Die Tage vergingen wie im Fluge. Wie alle Kinder hatte ich schon bald die italienische Umgangssprache gelernt und Freundschaft mit den Nachbarskindern geschlossen. Es wäre alles herrlich gewesen, wenn ich nicht unbedingt laut fremdsprachige Bücher hätte lesen müssen, „der richtigen Aussprache wegen“, wie Mutter sagte.

So verging der Sommer. Im Herbst meinte Mutter dann, Schenja sei nun ein vernünftiges und seriöses Mädchen und könne durchaus allein bleiben, um ihren Unterricht bei dem italienischen Gesangslehrer zu Ende zu führen. Wir fuhren wieder nach Hause, und zwar direkt auf Großvaters Gut in Kuusa, während Schenja im September ihr erstes Engagement bekam – an der Oper in der kleinen Provinzstadt Vittorio in der Nähe von Venedig.

Schenja war gerade neunzehn Jahre alt, schön wie eine Madonna von Raffael, bescheiden und ernsthaft, interessierte sich nur für ihren Gesang und betrieb gewissenhaft ihre Studien. Sie debütierte als Gilda in Rigoletto und eroberte sich sogleich die Herzen der musikliebenden Italiener. Ihre Stimme war wundervoll klar. Sie sang ohne die geringste Anstrengung, so, wie die Vögel singen. Ihre Stimme schien ihr jederzeit zu Diensten zu stehen – sie brauchte nur den Mund zu öffnen, und schon entströmten ihm reine, herrliche Töne.

In der kleinen italienischen Stadt Vittorio musste Schenja zum ersten Mal erfahren, dass es im Leben einer Sängerin auch viele Schattenseiten gibt. Die schöne Schenja wurde mit Briefen und unmissverständlichen Angeboten überhäuft. Im Grunde war Schenjas Absicht, Künstlerin zu werden, eine kühne Entscheidung gewesen. Zu jener Zeit gingen Töchter aus „gutem Hause“ niemals zur Bühne. Meine Mutter hatte sich lange widersetzt und bangte nun um ihre schöne Tochter. Sie war selbst sehr musikalisch und spielte gut Klavier. Doch Klavierspielen für die Familie und zum eigenen Vergnügen war eines, sich ins „Abenteuer“ zu stützen und vor Publikum aufzutreten hingegen ganz etwas anderes. Schenja antwortete meiner Mutter gelassen: „Ich werde meine Würde schon zu bewahren wissen.“

Mitte der achtziger Jahre bekam Schenja dann ein Engagement ans Marientheater in Petersburg. Zu einer ihrer ersten Vorstellungen erschien der Zar mit dem ganzen Hof. Man wollte doch gar zu gern sehen, was das für ein Mädchen aus guter Familie war, das sich entschlossen hatte, simple Komödiantin zu werden. Nach der Vorstellung wurde Schenja in die Zarenloge gerufen, wo der Zar ihren Gesang lobte. Am nächsten Tag schloss die Operndirektion mit ihr einen Vertrag für drei Jahre ab. Damit war aus meiner Schwester Schenja Jewgenija Mrawina geworden.

Sehr bald schon war sie Publikumsliebling. Besonders beliebt war sie bei den Studenten und der fortschrittlichen Intelligenz. Dort vergötterte man sie nicht nur wegen ihres Talents, sondern auch, weil sie sich ihren Lebensweg selbst gewählt hatte.

Jewgenija Mrawina war eine glänzende Koloratursängerin (Neschdanowa erinnert an sie), aber neu war auf der Opernbühne, dass sie ihre Rollen zu gestalten wusste. Der bekannte Musikkritiker und Musikkenner Wladimir Stassow sagte von ihr, die Mrawina habe das russische Publikum dazu gebracht, die Schönheit der Musik russischer Komponisten, der Musik Glinkas, Rimski-Korsakows und Dargomyschskis, zu erkennen. Sie machte die Antonida aus Iwan Sussanin, die Ljudmila und vor allem das Schneeflöckchen zu lebensvollen Gestalten. Sie alle hatten etwas Märchenhaftes an sich, strahlten die naive Schönheit der russischen Heldensagen aus. Einige Kritiker fanden, die Mrawina besitze zu wenig Temperament, doch andere sahen geradezu einen Vorzug darin, dass sie die halb dem Mädchen entstammenden Gestalten im Stile der Heldengedichte darzustellen wusste. Sie interpretierte die Rollen auf ganz eigene Weise. So war die Elsa in Lohengrin für sie die Verkörperung reiner, argloser Mädchenhaftigkeit, zugleich aber auch eine „Närrin“, und wer je die Mrawina in der Rolle der Elsa gesehen hatte, fand selbst die berühmtesten Sängerinnen der Welt in ihrem Spiel unbefriedigend. Bei Tatjana betonte sie deren Bestreben, aus der stickigen Enge der provinziellen Abgeschiedenheit auszubrechen. „Verwelkt mein Herz, mein Geist verschmachtet, ich muss vergehn in stummer Pein“ – in diese Worte legte Jewgenija Mrawina einen ganz besonderen Sinn, sie verdeutlichte, dass Tatjana in Onegin nicht einfach den Gatten, sondern auch einen Ausweg aus dem bedrückenden Provinzmilieu suchte.

Die Jugend verehrte sie stürmisch und feierte sie. Nicht selten spannten nach der Vorstellung im Marientheater Studenten die Pferde von Jewgenija Mrawinas Wagen aus und zogen diesen selbst bis zum Haus in der Nikolskaja-Straße. Auf der Treppe bildeten die jungen Leute Spalier und applaudierten ihr. Sie lehnte es niemals ab, zugunsten studentischer Organisationen oder für Wohltätigkeitsvereine zu singen, die progressive Ziele verfolgten.

Mir imponierte, dass meine Schwester Schenja so verehrt und geliebt wurde, und mich erboste, wenn das Publikum anderen Sängern mehr Beifall spendete als Schenja, was freilich nur selten vorkam. Mir gefiel auch, dass die Besucher, wenn ich durch das Foyer oder die Gänge des Marientheaters ging, zueinander sagten: „Das Mädchen da ist die Schwester der Mrawina. Auch nicht gerade übel!“

Doch je mehr ich heranwuchs, um so häufiger dachte ich: Ich will nicht nur die Schwester der Mrawina sein, ich werde auch etwas Großes in meinem Leben vollbringen.

Nach einem Jahr heiratete Schenja. Sie tat diesen Schritt weniger aus Liebe als vielmehr, um sich vor aufdringlichen Verehrern zu schützen. Das beste Mittel war da eben, einen rechtmäßig angetrauten Ehemann zu haben. Er hingegen vergötterte Schenja. Ihr Gatte war Gardeoffizier, aber da Schenja Sängerin war, wurde ihm von vorgesetzter Stelle nahegelegt, aus dem Regiment auszuscheiden. Es ging nicht an, dass ein Gardeoffizier mit einer von der Bühne verheiratet war ...
 

Worüber man sprach

Der Charakter eines Menschen wird bekanntlich von der Umwelt und von den in der Kindheit gewonnenen Eindrücken geformt. Meine frühe Kindheit verlief in der Atmosphäre des Russisch-Türkischen Krieges, jenes Krieges, durch den das bulgarische Volk von der türkischen Gewaltherrschaft befreit worden war.

Von Kindesbeinen an war ich gewohnt, im Arbeitszimmer meines Vaters leidenschaftliche politische Meinungsstreite zu hören. Begriffe aus der internationalen Politik, wie internationale Verträge, Friedenskongresse, Befreiungskrieg, diplomatischer Sieg oder diplomatischer Rückzug, waren mir geläufig. Ich verstand zwar nicht, was dies alles bedeutete, doch die Wörter prägten sich mir als Kind tief ins Gedächtnis ein.

In den achtziger Jahren wurde nicht mehr nur die Balkanfrage erörtert, sondern es standen auch Probleme der Innenpolitik zur Debatte: ob der Parlamentarismus nützlich und was besser sei – beschränkte Monarchie oder Republik. Beschränkung der Selbstherrschaft war der Traum aller fortschrittlichen Menschen im damaligen Russland.

Wenn ich von den achtziger Jahren spreche, fällt mir unwillkürlich der große Salon in der Wohnung meiner Eltern ein. Drei hohe Fenster mit Spiegeln dazwischen, auf deren Konsolen schwere Bronzeleuchter standen. Wuchtige, solide hellblaue Plüschmöbel, in der Ecke ein Kachelofen. Links vom Salon lag das Arbeitszimmer meines Vaters, rechts das Esszimmer.

Worüber wurde in diesen großen Zimmern gesprochen?

Im großen blauen Salon saßen an den Abenden beim Schein einer Petroleumlampe mit hohem Fuß gewöhnlich meine Mutter und ihre Freundinnen um den Marmortisch. Bei einer Handarbeit besprachen die Frauen, wer heiraten und wer sich scheiden lassen wollte oder bei wem Nachwuchs angekommen war. Manchmal war auch meine älteste Schwester Adele dabei. Sie bestickte schwarzen Atlas mit bunter Seide. Hübsch, lebhaft und jung, wie sie war, erzählte sie gern vom Theater und von den Premieren, die sie sich angesehen, von den Bällen, die sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Senator, besucht hatte. Mit ihr unterhielt man sich zum Beispiel über das Gastspiel der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt. Gewöhnlich wurden deren seltsame Allüren verurteilt: Weshalb die langen schwarzen Handschuhe und der struppige Lockenkopf? Warum schlief sie nicht in einem Bett, sondern in einem Sarg? Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, sie habe eine Liaison mit einem russischen Großfürsten. All dieser Klatsch interessierte mich jedoch nicht.

Ich ging dann meist in den anderen Salon, den grünen. Dort traf ich gewöhnlich meinen Stiefbruder, den Sohn Mrawinskis, an. Zu ihm kamen häufig Kollegen und Freunde. Mein Stiefbruder wohnte jetzt bei uns. Er arbeitete als Jurist in einem Ministerium. Seine Freunde waren ebenfalls Juristen, entweder im Staatsdienst oder in den neuen konzessionierten Industriebetrieben. Sie hielten sich für die fortschrittliche Jugend und bedienten sich mit Vorliebe einer liberalen Ausdrucksweise. Aber die zaristische Politik kritisierten sie nicht, wie das im Arbeitszimmer meines Vaters getan wurde. Sie glaubten an die Möglichkeit von Reformen und begeisterten sich für Westeuropa und dessen Erfolge. Die Menschheit schreite vorwärts, die Technik entwickle sich, Bildung und Wissenschaft ständen in Blüte. Die Rettung Russlands werde aus dem Westen kommen, von den kulturell hochstehenden und zivilisierten Ländern, und wir müssten eifrig vom Ausland lernen ... Ich hörte gern zu, wenn Freunde meines Bruders, die unlängst im Ausland gewesen waren, von den Wundern der Elektrizität und von anderen Neuerungen der Technik berichteten. In meinem Schlafzimmer suchte ich dann immer Bücher heraus, in denen die wissenschaftlichen Leistungen des Auslands beschrieben wurden.

In Vaters Arbeitszimmer gab es nach wie vor Dispute um die Politik des Zaren, wurde die Handlungsweise der zaristischen Regierung mit gedämpfter Stimme kritisiert. Da fielen bissige Bemerkungen über die neuen Günstlinge des Zaren und wurden Erinnerungen an die siebziger Jahre und die Hoffnungen auf Reformen laut. Zar Alexander III. war, wie es hieß, damit beschäftigt, einen festen und dauerhaften Frieden in Europa herzustellen, was auf die uneingeschränkte Unterstützung der reaktionärsten Staaten Europas, Österreichs und Preußens, hinauslief.

Die Generäle im Arbeitszimmer meines Vaters verurteilten den neuen außenpolitischen Kurs des Zarismus ganz entschieden. Sie verdammten diesen Schwachkopf von Zaren, den Pobedonoszew, der „böse Geist Russlands“, völlig im Schlepptau hatte. Der gehorsame „Diener des Zaren“, wie sich Pobedonoszew nannte, hatte bis in alle Einzelheiten einen Plan entwickelt, wie Russland grausam und unerbittlich durch reaktionärste und härteste Maßnahmen regiert werden sollte. Allerdings hatte er einen wichtigen Faktor außer acht gelassen – die staatlichen Finanzen. Das war ein Faktor, der schon bald sein sorgfältig ausgearbeitetes Projekt für einen Block der reaktionären Monarchen Europas zunichte machen sollte.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre befand sich die Staatskasse in äußerst beklagenswertem Zustand. Jahraus, jahrein war der Staatshaushalt unausgeglichen. Russland brauchte Kapital. Die einzige Rettung war, Kapital in Russlands Wirtschaft zu pumpen. Doch woher dieses Kapital nehmen?

In Europa gab es nur ein Land, das nach neuen Kapitalanlagemärkten suchte und in der Lage war, Russland die nötigen Fonds für den Währungsausgleich zu bieten. Dieses Land war Frankreich. Ihm ging es darum, den Kleinrentiers mehr Einkünfte zu verschaffen und auf diese Weise die Republik stabiler zu machen. Um Frankreichs Finanzen stand es bestens. Die Banken barsten vor Gold. Französische Seide, französische Weine und alle möglichen französischen Luxusartikel überschwemmten den Weltmarkt. Frankreich war eines der reichsten Länder Europas geworden und konnte in finanzieller Hinsicht sogar mit London konkurrieren.

In Petersburg nun überlegte man sich: Gewiss könnten die beiden starken und befreundeten Monarchien Deutschland und Österreich zuverlässige Bundesgenossen für die reaktionäre Politik Russlands sein, doch Russland Kapital zu liefern schickten sie sich nicht an.

In Paris dagegen hieß es: Wenn es in Russland auch keine republikanischen Traditionen gibt, so wird das französische Gold doch auf keinen Fall Schaden nehmen, wenn es aus Russland Profite und Einkünfte für die französische Nation herausholt. Geld stinkt schließlich nicht.

Dann kam Mitte der achtziger Jahre der Tag, da der russische Selbstherrscher, der allmächtige Zar, stehend und mit entblößtem Haupt die Hymne der Französischen Republik, die Marseillaise, anhören musste. Viele schmunzelten, wusste doch jeder, wie es zu dieser Wende in der Außenpolitik Russlands gekommen war. Das Ergebnis eines „Linksrucks“ in der russischen Politik war sie am allerwenigsten. Die französischen Kapitalisten schickten sich in den achtziger Jahren keineswegs an, in Russland liberale Reformen zu unterstützen. Sie fürchteten sich vor einer Revolution im eigenen Lande. Das alles bedeutete lediglich, dass nunmehr französisches Kapital in die russische Industrie floss.

Das russische und das französische Volk indessen fassten die Annäherung zwischen Frankreich und Russland auf ihre Weise auf.

Ich erinnere mich noch an den Tag, da die ersten französischen Handelsschiffe in den Petersburger Hafen einliefen. Mein Bruder Mrawinski schlug mir vor, zum Galeerenhafen zu fahren und dort die französischen Dampfer anzusehen. Sie lagen, mit französischen Flaggen geschmückt, auf Reede, und von dort klang die Marseillaise herüber. Am Hafenkai drängte sich die Menge – Matrosen, Studenten, Arbeiter und einfach Schaulustige aus der Stadt. Vom Ufer her wurde den französischen Matrosen auf den Schiffen „Hurra, die Franzosen!“ zugerufen, von den Schiffen schallte es „Vive la Russie!“ zurück.

Zu den Klängen der Marseillaise liefen die Schiffe in den Hafen ein. Am Ufer stimmte die Menge in die herrliche Hymne ein. Die Polizei geriet in Bewegung, doch offensichtlich hatte sie Weisung bekommen, die Kontakte mit den Gästen nicht zu behindern. Die französischen Matrosen kamen an Land. Die russischen Seeleute eilten ihnen entgegen, umarmten sie und riefen: „Ein Hurra auf unsere französischen Freunde!“ Die Menge am Kai stimmte ein: „Es lebe die Freundschaft mit den Franzosen!“ Die Matrosen zogen Arm in Arm in breiten Kolonnen zum Stadtzentrum. Die begeisterten Willkommensrufe nahmen kein Ende. Man sang die Marseillaise. Aus einer nahe gelegenen Süßwarenfabrik kam eine Gruppe junger Arbeiterinnen gelaufen. Sie trugen Sträußchen der blass-blauen nördlichen Veilchen, der Blumen des Frühlings, und drückten sie den französischen Matrosen ungeschickt und verlegen in die Hand.

Die Franzosen machten Anstalten, die Arbeiterinnen zu umarmen, doch diese nahmen kreischend Reißaus. Harmonikaklänge waren zu vernehmen. Wieder kam Bewegung in die Polizei. Mein Bruder nahm mich bei der Hand, bog mit mir in die nächste Straße ein und schickte mich mit einer Droschke nach Hause. Doch ich hatte noch lange die Klänge der Marseillaise und die freudigen Rufe „Frankreich hurra!“ und „Es lebe das republikanische Frankreich!“ im Ohr.
 

Zum ersten Mal in Stockholm

Ich war fünfzehn und lernte eifrig. Im Frühjahr 1888, wenn ich sechzehn wäre, würde ich an einem Knabengymnasium die Prüfungen ablegen und das Reifezeugnis erhalten. Dieses Zeugnis würde es mir ermöglichen, Lehrerin zu werden, und vielleicht ginge ich dann irgendwann einmal in ein gottverlassenes Dorf weit weg von Petersburg, weit weg von meinen Angehörigen und Freunden. Wie eine Romanheldin jener Jahre würde ich den russischen Bauern Bildung bringen. Aber bis zum Heldendasein war es noch ein langer Weg. Vorerst saß ich, von Lehrbüchern umgeben, im sonnenüberfluteten Schulzimmer. Meine Lehrerin Maria Strachowa kam oft, um zu kontrollieren, wie ich lernte. In diesem Winter hatte ich an allem ausnehmend viel Spaß und Freude. Das Lernen machte mir Vergnügen, und ich wollte die Prüfungen unbedingt gut bestehen. Ein frohes Gefühl hatte sich meiner bemächtigt. Da stand ich, Schura Domontowitsch, nun an der Schwelle zum wirklichen Leben. Noch ein paar Schritte, und ich würde ein erwachsenes junges Mädchen sein ...

Im Hochsommer fuhren meine Mutter, meine Freundin Ljolja Witowskaja und ich mit einem finnisch-schwedischen Dampfer von Petersburg aus nach Schweden. Meine Freundin und ich waren sehr guter Dinge. Wir hatten Spaß an dieser Reise, bei der es so herrliche schwedische Delikatessen zu essen gab. Unter den Passagieren waren viele junge Leute, so dass wir abends allerlei Spiele veranstalteten und ich mich köstlich amüsierte.

Dann lief der Dampfer in den Stockholmer Hafen ein. Wir stiegen in einem Hotel am Gustav-Adolf-Platz ab. Vom Fenster aus war das alte Schloss zu sehen, in dem heute das Außenministerium seinen Sitz hat. Meine Mutter sagte, auf das Schloss zeigend:

„Dieses alte Schloss gehörte nicht der jetzigen Königsdynastie, sondern den echten alten Herrschern Schwedens, dem Hause Wasa. [2] Sie sind jedoch bei der Revolution vom Thron gestützt worden. Es ist ein historisches Gebäude, und ich nehme an, dass wir es besichtigen können.“

Die Dynastie Wasa und ihr Haus interessierten mich nicht im Geringsten, zumal ja eine Revolution dieser Dynastie ein Ende gemacht hatte. In jenen längst vergangenen Jahren wusste ich nicht, dass eine Zeit kommen würde, da ich häufig in dem alten Schloss weilte, um gemeinsam mit dem Außenminister Schwedens und seinen Mitarbeitern politische und ökonomische Probleme zu erörtern ...

Wir blieben eine Woche in Stockholm, und Mutter wollte unbedingt, dass wir uns alle Sehenswürdigkeiten anschauten. Damals gab es noch keine Autos. Meist bummelten wir zu Fuß durch Stockholm, schweißgebadet vor lauter Hitze. Manchmal fuhren wir mit der Pferdebahn, die wohlgenährte und gepflegte Pferde zogen.

Wir sahen uns natürlich auch das große Königsschloss an. Mutter ließ uns immer wieder die Größe der Zimmer und die Farbe der Wände bewundern.

„Dieses Schloss hat der begabte schwedische Architekt Tessin erbaut. Merkt euch diesen Namen, Kinder!“

Ich gab mir jedoch keine Mühe, den Namen zu behalten. Das Examen in Geschichte hatte ich hinter mir. Ljolja und mir gefiel das Schloss des Königs aus einem anderen Grunde – die Gemächer waren so schön groß und kühl. Als wir unseren Rundgang beendet hatten, setzten wir uns beide auf die kalten steinernen Stufen der Haupttreppe und taten meiner Mutter kund, dass wir keinen Schritt weitergehen würden.

Viele Jahre später (und zwar 1930) musste ich abermals diese Treppe hinaufsteigen. Ich machte meinen Antrittsbesuch beim schwedischen König Gustav V., um ihm mein Beglaubigungsschreiben als Außerordentlicher Gesandter und Bevollmächtigter Vertreter der Sowjetregierung zu überreichen ...

Meine Mutter suchte uns zu überreden, noch die uralte Riddarholmskirche zu besichtigen, doch wir protestierten entschieden.

„Es reicht mit all den Altertümern“, erklärten wir, „gehen wir lieber in das kleine Restaurant unter der Brücke. Dort gibt es so leckere Schokolade und auch Waffeln mit Konfitüre.“

Als wir damals durch Stockholms blitzsaubere Straßen bummelten, hatte ich nicht die geringste Ahnung, dass ich einst durch die gleichen Straßen in einer goldenen Kutsche fahren oder ein Wagen der Polizei mich, die Bolschewikin und politische Emigrantin, 1914 durch ebendiese Straßen ins Zentralgefängnis von Stockholm bringen sollte. Nur gut, dass man die Zukunft nicht vorhersehen kann. Sonst hätten mir wohl die Schokolade und die Waffeln in dem kleinen Restaurant unter der Brücke nicht so geschmeckt. Hätte jemand meiner Mutter gesagt, was die Zukunft für mich bereithielt, hätte sie dies wohl als Ausgeburt der Phantasie abgetan; denn solche Dinge gab es schließlich nur in Romanen ...
 

Ich will Schriftstellerin werden

Die Schule lag hinter mir. Nun begann der Abschnitt in meinem Leben, da ich nach den Gepflogenheiten jener Zeit und der Kreise, denen unsere Familie angehörte, allmählich „in die Gesellschaft eingeführt“ werden musste, das heißt, ich hatte Bälle zu besuchen und Einladungen wahrzunehmen, mir eine entsprechende Garderobe zuzulegen und auf den passenden Freier zu warten.

Meine Pläne indessen sahen anders aus. Ich war eigentlich fest entschlossen, meine Bildung zu vervollständigen und mich im Herbst für die Bestuschew-Kurse [3] einzuschreiben. Sonja Dragomirowa überredete mich jedoch, gemeinsam mit ihr die Privatkurse zu besuchen, die die Französin Troubat für die Töchter begüterter Familien eingerichtet hatte. Sonja Dragomirowa war die Tochter eines der Helden des Balkankrieges, des berühmten Generals Dragomirow. Der hochgewachsene Mann, der im Krieg verwundet worden war, wirkte imposant, wenn er, schwer auf seinen Stock gestützt, daherkam. (Seine Züge sind in Repins Gemälde Die Saporoscher Kosaken festgehalten.)

Sonja Dragomirowa galt als Schönheit. Sie hatte große schwarze Augen und wundervolles kastanienbraunes Haar. Die großen russischen Maler Repin und Serow haben sie in ukrainischer Tracht gemalt; ein Porträt von ihr hängt in der Tretjakow-Galerie. Da sie sehr wohl wusste, dass sie gut aussah, war sie sehr selbstbewusst und blickte auf uns andere Mädchen ein wenig von oben herab. Mir fehlte jede Selbstsicherheit, und ich hatte oft Zweifel, ob ich mich im Umgang mit Erwachsenen richtig benahm ...

Ich besuchte also die Kurse der Troubat. Die Lektoren dort waren gut. Sonja und ich verbesserten unsere französischen Sprachkenntnisse bei der damals populären Mademoiselle Robert. Sie verlangte von uns, dass wir einwandfrei französisch sprechen lernten. Ihr Unterricht ist mir später im Leben sehr zustatten gekommen. Sowohl zu der Zeit, da ich als sozialistischer Agitator Frankreich bereiste und vor französischen Arbeitern und Arbeiterinnen sprach, als auch Jahre darauf, wenn ich als sowjetische Gesandte in Französisch Noten an die norwegische, die mexikanische und die schwedische Regierung abfasste beziehungsweise als Doyen des Diplomatischen Korps in Stockholm mit meinen Kollegen zu tun hatte.

Da ich davon träumte, Schriftstellerin zu werden, befasste ich mich nun besonders intensiv mit russischer Literatur. Begeistert vertiefte ich mich in die Lektüre von Pissarew und Dobroljubow. Ich wollte einmal nicht nur einfach unterhaltsame Erzählungen verfassen, sondern als Schriftstellerin „ideellen“ Einfluss ausüben, damit meine Leser lernten, Unterdrückung, Aberglauben und Ungerechtigkeit zu hassen. Ich wollte sie lehren, die Ideale der Freiheit und der Gleichheit zu lieben. Maria Iwanowna Strachowa riet meiner Mutter, den bekannten Lehrer für Philologie und russische Literatur Viktor Petrowitsch Ostrogorski zu bitten, mir zusätzlichen Unterricht zu erteilen. „Da sich Schura ernsthaft für Literatur interessiert, muss ihr geholfen werden, fundiertes Wissen zu bekommen“, meinte Maria Iwanowna Strachowa. Mutter war einverstanden, und seitdem kam Viktor Petrowitsch zweimal in der Woche zu uns, um mich in russischer Sprache und Literatur zu unterrichten. Durch ihn habe ich die russischen Schriftsteller kennen- und lieben gelernt

Anfangs traute mir Ostrogorski nicht so recht ?er den Weg. Wozu sollte sich ein M?chen aus der besseren Gesellschaft wohl mit russischer Philologie abgeben? Sie w?de ja doch bald einen Freier finden. Als er sich jedoch ?erzeugt hatte, dass ich wirklich arbeitete, nahm auch er den Unterricht ernst und erwies sich als sehr anspruchsvoll, insbesondere was den Stil anbelangte.

„Das Russische ist die reichste und schönste Sprache der Welt“, sagte Viktor Petrowitsch. „Es ist Sünde, sie zu verunstalten. Erhabene Gedanken müssen schlicht und exakt ausgedrückt werden. Da bedarf es nicht vieler Beiwörter und Schaltsätze. Scheuen Sie nicht die Mühe, nach der besten und genauesten Formulierung für Ihre Gedanken zu suchen. Einfachheit und Klarheit sind die Hauptsache. Weitschweifigkeit macht den Gedanken nur verworren.“

Später, wenn ich die in Bezug auf Sprache und Klarheit des Gedanken mustergültigen Reden und Artikel Lenins las, musste ich immer wieder an diese Worte meines alten Lehrers denken.

Fesselnd für mich waren bei den Kursen der Troubat die Vorlesungen von Professor Menschinski über Weltgeschichte. Starken Eindruck hinterließen bei mir die Zeit des Kampfes der Niederlande gegen die Tyrannei des katholischen Spanien, der heldenhafte Kampf des Volkes gegen die Grausamkeiten König Philipps, gegen Barbarei und Inquisition, und die Selbstlosigkeit, mit der das niederländische Volk seine Freiheit und Selbständigkeit verteidigte. Eines setzte mich in Erstaunen: Wie war es möblich, dass Frankreich und Spanien zwar endlos in Fehde lagen, die Katholiken Spaniens wie die Frankreichs sich aber bei der Unterjochung der Niederlande und bei der Verfolgung der Protestanten schlechthin völlig einig waren? Spanien hatte nämlich in Frankreich und vor allem in der mir so verhassten Partei des Herzogs von Guise eine starke Stütze.

Bei einer Leistungskontrolle äußerte ich diesen für mich so frappanten Gedanken gegenüber Menschinski. Er blickte mich aufmerksam an und ließ mich wiederholen, was ich soeben gesagt hatte. Von da an unterhielt sich Menschinski hin und wieder nach dem Unterricht mit mir und gab mir Hinweise, welche Arbeiten über Geschichte ich lesen sollte.

Dieser ganze Unterricht lieferte mir reichlich Stoff zum Nachdenken, und ich widmete mich meinen Studien mit Begeisterung ...

Wenn auch seit unserer Abreise aus Bulgarien bereits zehn Jahre vergangen waren, hatte doch mein Vater die Verbindungen zu dem Volk und dem Land, das er so liebte, nicht abreißen lassen. In unserem Hause lebten ständig junge Bulgaren, die mit nichts als dem, „was sie auf dem Leibe trugen“, wie mein Vater sich auszudrücken pflegte, nach Petersburg gekommen waren, um in Russland zu studieren, anstatt zum Studium nach Deutschland geschickt zu werden, wie es Battenberg angeordnet hatte. Gewöhnlich kamen diese jungen Leute direkt zu meinem Vater und baten ihn, sie an einer Ausbildungsstätte unterzubringen. Häufig blieben sie dann bei uns und lebten monatelang in unserem Haus. Mein Vater erwirkte für sie bei der Slawischen Gesellschaft ein Stipendium. Er erreichte, dass sie an Lehranstalten aufgenommen wurden, und erwies ihnen jegliche Fürsorge, wie ihm dies für Angehörige der eigenen Familie oder andere Verwandte nicht im Traum eingefallen wäre.

Nach der Lektüre von Turgenjews Roman Vorabend betrachtete ich mir die bulgarischen Studenten genauer und suchte bei ihnen eine Verwandtschaft mit Insarow. Jedoch glichen sie alle nicht dem Turgenjewschen Helden. Sie interessierten sich kaum für die Politik ihres Landes, vermieden es, über die Verschwörungen gegen den Fürsten Battenberg zu sprechen, und nach Russland gekommen waren sie nur mit dem einen Wunsch, einen Beruf zu erlernen, der ihnen eine Existenz in Bulgarien sichern würde. Sie ließen sich nicht an Universitäten immatrikulieren, sondern gingen an Schulen für Steuerleute, Topographen oder Agronomen, besuchten Lehrgänge für Arzthelfer oder Mechaniker.

Nachdem ich Dobroljubows Aufsatz Wann endlich kommt der Tag? gelesen hatte, war ich beruhigt: Ich brauchte mich überhaupt nicht in einen Bulgaren zu verlieben und mit ihm nach Bulgarien zu gehen, um für die Freiheit des Volkes zu kämpfen. Ich würde auch in Russland ganz ohne einen Insarow meinen Weg finden.

„Vaters Bulgaren“, wie wir sie nannten, lernten gewissenhaft und kamen gut voran. Mein Vater sagte:

„Vorerst ist das besser so. Bulgarien ist zerrüttet. Mit Verschwörungen allein lässt sich nicht viel erreichen. Das Volk wird durch das von Berlin aufgezwungene Regime geknebelt. Genauer gesagt, Bismarck selbst regiert Bulgarien. Bulgarien allein ist machtlos gegenüber Deutschland. Doch es wird der Tag kommen“, prophezeite mein Vater optimistisch, „da das russische Volk abermals dem bulgarischen Volk die Bruderhand reichen und ihm helfen wird, die Ideale der Unabhängigkeit zu verwirklichen, von denen wir Russen geträumt haben, als wir 1877 auf dem Balkan für die Befreiung Bulgariens kämpften.“
 

„Körperliche Arbeit ist für jeden gut“

So pflegte meine Mutter zu sagen. In jenen Jahren war für junge Mädchen an Turnen nicht zu denken. Aber Mutter fand einen anderen Ausweg, mich zu körperlicher Betätigung zu veranlassen. Sie machte mit einem Buchbinder – Pawel Iwanowitsch – aus, dass er sonntags vormittags zu uns kam, um mich in der Buchbindekunst zu unterweisen. Der Gedanke, dass ein Mädchen aus wohlhabender Familie ein Handwerk erlernt, war möglicherweise durch Tschernyschewskis Roman Was tun? wach geworden.

Pawel Iwanowitsch war groß und hager, trug einen schütteren Bart und hatte gütig blickende Augen. Sein fadenscheiniges Jackett roch stark nach Leim. In meinem Schulzimmer wurden neben dem Schreibtisch nun Werkbänke und alle möglichen anderen Gerätschaften zum Buchbinden aufgestellt. Ich machte mir nichts aus diesem Unterricht. Es bereitete Mühe, die dicke Pappe zu zerschneiden sowie die Bücher zu pressen und zu beschneiden. Er hingegen begriff nicht, wozu ich mich mit Buchbinderarbeiten befasste. Aber die Herrschaften hatten ja so allerlei Grillen im Kopf. Da erklärte ich ihm:

„Sehen Sie, ich will Schriftstellerin werden und werde sehr viele Bücher schreiben, die der Menschheit und dem russischen Volk Nutzen bringen sollen. Und ich möchte meine Bücher selbst binden können.“

„Vielleicht haben Sie schon jetzt irgendein Buch, das wir mit einem schönen Einband versehen könnten?“

Offenbar wollte Pawel Iwanowitsch mit diesem Vorschlag mein Interesse für seinen Unterricht wecken. Ich dachte nach und entsann mich plötzlich: Ich hatte ja die Zeitschrift Semejnyje Wetschera, die sich in einem schlimmen Zustand befand. Dabei enthielt sie doch einen Roman, der mir sehr gefiel.

Wir berieten uns lange, was für einen Einband die Zeitschrift bekommen sollte.

„Kommen Sie doch mal zu mir in die Werkstatt, um eine Hülle auszusuchen. In der Werkstatt haben wir eine Menge Muster. Und im übrigen könnten wir einen Goldschnitt für den Band machen.“

Das weckte nun doch mein Interesse. Am nächsten Tag ging ich in Pawel Iwanowitschs Werkstatt, um einen schönen Einband auszuwählen, aber als ich die Werkstatt betrat, waren alle Buchdeckel augenblicklich vergessen. Die Werkstatt befand sich im Keller. Dort war es dunkel und feucht. Mein Lehrer arbeitete da mit zwei jungen Burschen für den Besitzer der Buchbinderei. Pawel Iwanowitsch wohnte gleich neben der Werkstatt in der Küche. Er war Witwer und hatte zwei Kinder. Ich traf sie beim Mittagessen an. Die Kinder löffelten zusammen mit den Arbeitern aus der großen Schüssel dünne Kohlsuppe und aßen einen Kanten Schwarzbrot dazu. Das war ihr ganzes Mittagessen. Die Kinder waren spillerig und zerlumpt. Ringsum herrschte so himmelschreiendes Elend, dass ich mit einem Mal begriff, warum Pawel Iwanowitsch großen Wert auf den Unterricht legte, auf den ich schon verzichten wollte. Die drei Rubel in der Woche waren ihm eine beträchtliche Hilfe für sein mageres Budget. Ich durfte also den Unterricht nicht absagen, sondern musste ihn im Gegenteil möglichst über lange Zeit hinziehen. Zu Hause bekundete ich daher plötzlich außergewöhnliches Interesse für das Buchbinderhandwerk. Ich versicherte meinen Schwestern, dass dies die beste Erholung vom Lernen sei, und meine Mutter freute sich.

„Endlich hat Schura eine nützliche Beschäftigung gefunden.“

Den ganzen Winter über kam Pawel Iwanowitsch sonntags zu uns und raubte mir wertvolle Stunden, die ich hätte darauf verwenden können, historische Romane in der Art von Laschetschnikows Der Andersgläubige zu schreiben. Doch ich hielt eisern an den Stunden bei Pawel Iwanowitsch fest.

Im Frühjahr wurde er krank und kam ins Spital. Ich sah ihn nie wieder.

* * *

Fußnoten

1. Ingenieur Mrawinski, der erste Mann von Alexandra Kollontais Mutter, war als angeblicher Komplize der Revolutionäre, die das Attentat auf den Zaren geplant hatten, unbegründet festgenommen und verurteilt worden (er hatte als Experte einen unterirdischen Gang unter dem Gebäude begutachtet, wo später die Explosion erfolgte, als Alexander II. vorbeifuhr).

2. Die Dynastie Wasa besteht seit 1523. Sie geht auf den Adligen Gustav Wasa zurück, der den Aufstand gegen die Dänen anführte und als Gustav I. zum König von Schweden gewählt wurde; seine Macht wurde für erblich erklärt.

3. Bestuschew-Kurse – von einem Zirkel der fortschrittlichen Intelligenz 1878 in Petersburg gegründete Hochschulkurse für Frauen mit philologisch-historischer und physikalisch-mathematischer Fakultät. Die Kurse wurden von K. N. Bestuschew-Rjumin, Professor für russische Geschichte, geleitet und auch nach ihm benannt.


Zuletzt aktualisiert am 28. Juni 2020