Karl Kautsky

Marxismus und Philosophie

(1924)


Aus: Die Gesellschaft: Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Erster Band (Hrsg. von Rudolph Hilferding), Dietz Verlag, Berlin 1924, S. 306–314.
Nachgedruckt von Verlag Sauer & Auermann KG, Frankfurt/Main 1968.
Transkription: Ben Lewis.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Karl Korsch
Marxismus und Philosophie
Leipzig, C.L. Hirschfeld, 1923. 71 S.

Die ganze Quintessenz dieser hochphilosophischen Abhandlung finden wir zusammengedrängt in einem kleinen Sätzchen einer Fußnote, in dem der Verfasser wörtlich erklärt:

„Während der ganzen (!) zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Verflachung und Verarmung der marxistischen Lehre zum Vulgärmarxismus allmählich eingetreten“ (S. 28).

Wir dürfen hier nicht ein nebensächliches Ausgleiten der Feder annehmen. Auf Seite 61 behauptet Korsch abermals:

„Man sieht, dass die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht bloß den Marxismus vulgarisiert hat.“

Dem Nachweis, dass sich’s wirklich so verhält, ist die ganze Arbeit gewidmet.

Die „Verflachung und Verarmung“ des Marxismus ist danach noch bei Lebzeiten von Marx und Engels eingetreten, in dem Zeitalter, in dem die erste Internationale begründet und das „Kapital“ abgefasst wurde. Sollten Marx und Engels an dieser Verflachung selbst schuld sein?

Ganz so meint es Korsch nicht.

Er belehrt uns: In seiner ersten Epoche, bis zur Revolution von 1848 und ihren Ausläufen war der Marxismus eine „mit philosophischem Denken durch und durch gesättigte Theorie der ... als lebendige Totalität begriffenen und betätigten sozialen Revolution (S. 29, 30).

Dann aber kam die „praktisch durchaus unrevolutionäre Epoche, welche die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa im wesentlichen ausgefüllt hat“ (S. 30).

Das habe leider auch auf die Arbeiten abgefärbt, die Marx und Engels in jener Epoche veröffentlichten. Doch bedeutete die daraus hervorgehende Änderung der Sprache nicht auch eine Änderung ihres Denkens.

„Nur bei oberflächlicher Betrachtung scheint es, als hätte die reine Theorie des Denkens die Praxis des revolutionären Willens zurückgedrängt. An allen entscheidenden Stellen, besonders im 1. Bande des Kapital, bricht aber dieser unterirdisch in jedem Satze des Werkes gegenwärtige revolutionäre Wille auch äußerlich wieder hervor. Man denke nur an den berühmten 7. Unterabschnitt des 24. Kapitels über die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“ (S. 32).

Diese unterirdische Seite der Publikationen von Marx und Engels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollen wir „Epigonen” nicht beachtet haben. Daher unser ausserordentlich verflachter und versimpelter Vulgärmarxismus (S. 26).

Mir persönlich wird dabei unterschoben, dass ich zu diesem Zweck der Versimpelung Marx absichtlich gefälscht habe. Denn in meinem Vorwort zur Neuausgabe der Inauguraladresse von 1864 habe ich „bezeichenderweise“ aus einem von mir zitierten Brief von Marx an Engels den Satz weggelassen, „dass es Zeit braucht, bis die wiedererwachte Bewegung die alte Kühnheit der Sprache erlaubt“.

Die Weglassung dieses Satzes sei für mich notwendig gewesen, wenn Ich mir „die Möglichkeit schaffen“ wollte,

„die in einem gedämpfteren Tone gehaltene Inauguraladresse von 1864 gegen den feurig-flüssigen Stil des Manifestes von 1847/48 und gegen die ‚illegalen Agenten der 3. Internationale‘ auszuspielen“ (S. 31).

In Wirklichkeit habe ich nie die Inauguraladresse gegen die „illegalen Agenten der 3. Internationale“ ausgespielt. In meiner schon erwähnten Vorrede kam ich auf diese in einem ganz anderen Zusammenhang zu sprechen, nämlich im Zusammenhang mit einer „konfidentiellen Mitteilung“ über Bakunin, die Marx 1870 an den deutschen Parteiausschuss richtete und in dem er völlig ungedämpft die „alte Kühnheit der Sprache“ entfaltete. Diese Mitteilung ist gerade heute von äußerstem, aktuellem Interesse.

Marx führte dort aus, warum er England für den großen Hebel der proletarischen Revolution halte. Die Engländer besäßen alle materiellen Vorbedingungen der großen Revolution. Was ihnen fehle, sei „der Geist der Verallgemeinerung“, d. h. der theoretische Sinn, und „die revolutionäre Leidenschaft“.

In meinem Vorwort zur Inauguraladresse zitierte ich diese Stellen ausführlich, jedenfalls aus dem Grunde, weil Ich Marxens „revolutionäre Leidenschaft“ aus jener Zeit nicht zutage treten lassen wollte.

Der Leipziger Staatsanwaltschaft war die konfidentielle Mitteilung bei einer Haussuchung in die Hände gefallen und sie benutzte sie im Leipziger Hochverratsprozess gegen Bebel und Liebknecht. Gegenüber dem Bakunismus hatte Marx dort unter anderem davon gesprochen, dass der Generalrat der Internationale es vorziehe, „ernste und ungesehene Arbeit an Stelle lauter Marktschreierei“ zu setzen. Daraus hatte der Staatsanwalt geschlossen, der Generalrat betriebe unterirdische, also illegale Arbeit. Dazu bemerke ich in meinem Vorwort, dass der Staatsanwalt fälschte, da hier die „ungesehene“ Arbeit nicht in Gegensatz zur legalen Arbeit, sondern zu lauter Marktschreierei gesetzt sei.

„Die illegale, unterirdische Arbeit schliesst aber laute Marktschreierei nicht aus, ist vielmehr oft mit ihr eng verbunden. Es gibt keine lauteren Marktschreier als die illegalen Agenten der dritten Internationale” (Vorwort zur Inauguraladresse, S. 11).

Glaubt Korsch wirklich, ich hätte mir die Möglichkeit genommen, die Marktschreien der dritten Internationale zu verlachen, wenn ich das Sätzschen von der „alten Kühnheit der Sprache” meinen Lesern mitteilte?

Unmittelbar auf den oben zitierten Satz folgen aber in meinem Vorwort die Worte: „Inauguraladresse und Kommunistisches Manifest sind aus dem gleichen Geist geboren.”

In dieser Weise suche ich die „in einem gedämpften Ton gehaltene Inauguraladresse von 1864 gegen den feurig-flüssigen Sill des Manifestes von 1847/48 ... auszuspielen“.

Allerdings, ich konstatiere, dass die Inauguraladresse „bei aller Übereinstimmung im grundsätzlichen Teil“ ein „ganz anderes Gesicht zeigt als das Kommunistische Manifest“.

Diese Veränderung bezieht sich aber nicht bloß auf den „feurig flüssigen Stil“, wie Korsch sich ausdrückt. Das wäre ganz nebensächlich. Ich sage darüber in der Vorrede:

„Der Standpunkt, den Marx einnahm, war 1864 derselbe, wie 1847. Aber die Situation hatte sich vollständig gewandelt ... So hielt es Marx für zweckmäßig, 1864 eine andere Sprache zu sprechen, als siebzehn Jahre vorher. Doch nicht bloß die Sprache änderte er. In diesen siebzehn Jahren hatte er ungeheuer viel gelernt; es war der Zeitraum, in dem das Kapital geschaffen wurde. Da musste er nicht bloß die Sprache ändern, sondern auch manche Anschauung dazu“ (Vorwort, S. 12, 13).

So hielt Engels (also wahrscheinlich auch Marx) noch 1850 den Zehnstundentag in einem kapitalistischen Staat für unmöglich. In der Inauguraladresse konstatiert er kurz dessen tiefgehende Wirkungen als die einer anerkannten Einrichtung. Neben den Zehnstundentag pries er die Produktivgenossenschaften, wenn sie in nationalen Dimensionen mit nationalen Mitteln gefördert würden.

Also erhebliche Wandlungen der Anschauungen, nicht bloß der Sprache, liegen vor. Von denen handelt aber Korsch nicht, sondern nur vom „feurig-flüssigen Stil“.

Wieso meine eben angeführten Darlegungen unmöglich geworden wären, wenn ich das Sätzchen von der „alten Kühnheit der Sprache“ zitiert hatte, bleibt Korschs Geheimnis.

Was ihm als bloße Dämpfung eines feurig-flüssigen Stils erscheint, das haben dann nach seiner Darstellung die „Epigonen“ zu einer völligen „Deformation“ des Marxismus gestaltet, über die Marx und Engels selbst aufs äußerste entrüstet gewesen seien.

Der Abstieg trete deutlich zutage, wenn man die von Marx verfassten Statuten der ersten Internationale vergleiche

„mit den Programmen der sozialistischen Parteien Mittel- und West- Europas und besonders der deutschen sozialdemokratischen Partei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es ist hinlänglich bekannt, mit welcher Bitterkeit und Schärfe sich Marx und Engels darüber geäußert haben, dass die deutsche Sozialdemokratie, die führende marxistische Partei Europas, in ihren Programmen von Gotha (1875) und von Erfurt (1891) auf politischem wie auf kulturellem und ideologischem Gebiet fast nur reformistische Forderungen aufstellte, in denen von dem wirklichen, materialistisch-revolutionären Prinzip des Marxismus kein Hauch mehr zur spüren war“ (S. 86).

Diese Tatsache scheint denn doch noch nicht „hinlänglich bekannt“ zu sein. Mir wenigstens ist sie ganz neu. Ich bin zunächst überrascht davon, zu erfahren, dass die deutsche Sozialdemokratie 1875 „die führende marxistische Partei Europas“ war. Die Parteigeschichte vor Korsch nahm bisher an, 1875 habe es in ganz Europa keine marxistische Partei gegeben. Die ersten sozialistischen Zeitschriften, die auf marxistischem Boden standen (abgesehen von den von Marx selbst herausgegebenen), der Züricher Sozialdemokrat und die Stuttgarter Neue Zeit wurden erst während des Sozialistengesetzes gegründet. Erst von dem Bestehen dieser beiden Organe an kann man von einer marxistischen Schule sprechen. Es dauerte noch einige Zeit, ehe diese Schule die Mehrheit der Partei zu einer marxistischen machte. Bekundet wurde dieser Fortschritt durch das Programm von Erfurt.

Auch hier ist mir keineswegs „hinlänglich bekannt“, dass Engels sich darüber mit „Bitterkeit und Schärfe“ geäußert babe. Korsch weist freilich auf die Engelsschen Glossen zum Erfurter Programmentwurf hin. Aber sein glühender Hass gegen jede „Verflachung“ und „Versimpelung“ des Marxismus hat ihn leider verhindert, diese Glossen genau zu lesen, sonst müsste er gemerkt haben, dass sie sich nicht gegen meinen Entwurf wenden, der dann vom Kongress akzeptiert wurde, sondern gegen einen vorhergehenden. Meinen Entwurf hat Engels nicht nur nicht abgelehnt, sondern sogar zur Annahme empfohlen.

Die andere große, sozialistische Partei in „Mittel und Westeuropa“, deren Begründung Marx und Engels noch erlebten, war die französische Arbeiterpartei der Marxisten Guesde und Lafargue. Ihr Programm stammte von Marx selbst her (1880). Das scheint Korsch auch nicht „hinlänglich bekannt“ zu sein, sonst würde er kaum die Behauptung wagen, bei einer Vergleichung eines jeden sozialistischen Parteiprogramms West- und Mitteldeutschlands mit den Statuten der Internationale trete die „Deformation“ des Marxismus durch seine „Epigonen“ deutlich zutage.

Die gleiche Methode, Parteigeschichte zu schreiben, befolgt Korsch in seiner ganzen Arbeit. So bemerkt er auf Seite 6:

„Die meisten philosophierenden Marxisten (Kantianer-, Dietzgenianer-, Machianer-Marxisten) haben seitdem (seit 1914) mit Wort und Tat bewiesen, dass sie nicht bloß in ihrer Philosophie, sondern in notwendigem Zusammenhang damit auch in ihrer politischen Theorie und Praxis die Loslösung vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft in Wirklichkeit noch nicht vollzogen haben.“

Der „bürgerlich-reforrnistische Charakter des Kantianermarxismus“ erscheint Korsch so offenkundig, dass er keinen Beleg für notwendig hält. Über Mach habe Lenin schon 1908 alles nötige gesagt, und dass Dietzgen zum bürgerlich-reformistischen Denken führen müsse, beweise sein Sohn. Also der Machianer Fritz Adler, ja selbst der mit dem Bolschewismus in manchen Punkten sympathisierende Max Adler sind „bürgerliche Reformisten“. Korsch schenkt sich jeden Beleg dafür. Dass aber auch der alte Dietzgen, der Zeitgenosse von Marx und Engels, nichts produzierte als bürgerlichen Reformismus, wird besonders jene seiner Anhänger sehr in Erstaunen setzen, die in Holland zu den radikalsten Kommunisten gehören.

Nach diesen Leistungen auf dem Gebiete der Parteigeschichte kann man sich die Treue vorstellen, mit der Korsch die Anschauungen der „Vulgärmarxisten“ wiedergibt, die von ihm in Grund und Boden verdonnert werden. Ein Pröbchen genügt.

Korsch behauptet mit vollster Bestimmtheit, die „marxistischen Epigonen“ legten die materialistische Geschichtsauffassung in der Weise aus, dass nur hinter den ökonomischen Anschauungen wirkliche Tatsachen ständen, hinter den anderen gesellschaftlichen Bewusstseinsformen dagegen stecke entweder nicht viel oder überhaupt nichts.

„Die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Bewusstseinsformen des geistigen Lebensprozesses wird von sehr vielen Vulgärmarxisten bis zum heutigen Tage nicht einmal in abstracto zugestanden. Die gesamte geistige (ideologische) Struktur der Gesellschaft wird vielmehr unter Berufung auf gewisse Äußerungen von Marx und namentlich Engels ganz einfach, für eine Scheinwirklichkeit erklärt, die nur als Irrtum, Einbildung, Illusion in den Köpfen der Ideologen existiere, aber nirgends in der Wirklichkeit einen realen Gegenstand hätte … Wir könnten, indem wir diese Denkweise zur größeren Deutlichkeit ein wenig zuspitzen, geradezu sagen, es gibt für sie drei Abstufungen von Wirklichkeit: 1. die wirkliche und letzten Endes wirklich reale, überhaupt nicht ideologische Wirklichkeit der Ökonomie; 2. die schon nicht mehr ganz so wirkliche, vielmehr schon bis zu einem gewissen Grade ideologisch verkleidete Wirklichkeit von Recht und Staat; 3. die gänzlich gegenstandslose und unwirkliche reine Ideologie (der ‚reine Blödsinn‘)“ (S. 54, 55).

Sehr richtig: der reine Blödsinn. Korsch bringt diesen Ausdruck in Gänsefüßchen, als zitiere er hier einen „Vulgärmarxisten“. Leider vergisst er, auch nur anzudeuten, bei wem von uns er diesen „reinen Blödsinn“ entdeckt hat. Nach der bei ihm beliebten Methode betrachtet er auch diese Auffassung als so „hinlänglich bekannt“, dass sie keines Belegs bedarf.

Zu wiederholten Malen reibt er sich an Hilferding, dessen Finanzkapital auch zu den Produkten des „verflachten, „versimpelten“, „reformierten“ Marxismus gerechnet wird.

Hilferding unterscheidet sehr gut zwischen der Methode des Marxismus und ihren Resultaten. Er bemerkt, dass diese Resultate heute zum Sozialismus führen; deswegen werde diese Methode von den Verfechtern des Bestehenden abgelehnt.

„Nur in diesem Sinne ist er (der Marxismus) Wissenschaft des Proletariats und der bürgerlichen Ökonomie entgegengesetzt, während er den Anspruch jeder Wissenschaft auf die objektive Allgemeinheit ihrer Ergebnisse unbeugsam festhält.“

Diesen sehr wichtigen Satz Hilferdings zählt Korsch zu den bösartigen „Deformationen“ des Marxismus. Wie kann ein Klassenkämpfer Anspruch „auf objektive (das heißt hier über den Klassen stehende) Allgemeingültigkeit“ seiner Sätze erheben? Das dürfte er höchstens tun „aus praktisch-taktischen Erwägungen zum Nutzen der proletarischen Klasse“ (Fußnote, S. 34.)

Also die proletarische Wissenschaft, wie Korsch sie versteht, wird nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass sie die Welt vom proletarischen Standpunkt aus betrachtet, sondern auch noch dadurch, dass sie keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit ihrer Sätze erhebt. Sie sollen nur für das Proletariat richtig sein! Höchstens aus agitatorischen Gründen dürfte man ihre Allgemeingültigkeit behaupten!

Für Korsch ist der Marxismus nichts anderes als eine Theorie der sozialen Revolution (S. 62.)

In Wirklichkeit gehört zu den hervorragendsten Kennzeichen des Marxismus die Überzeugung, dass die soziale Revolution nur unter bestimmten Umständen, also nur in bestimmten Ländern und Zeiten möglich ist. Das hat die kommunistische Sekte, zu der Korsch gehört, ganz vergessen. Für sie ist die soziale Revolution überall, unter allen Umständen stets möglich.

Wäre der Bolschewismus nicht dieser durch und durch unmarxistischen Anschauung, dann könnte er unmöglich sagen, der Marxismus sei eins mit der sozialen Revolution. Wie die materialistische Geschichtsauffassung soll nur für die soziale Revolution gelten? Ist diese Geschichtsauffassung nicht gewonnen worden durch die Betrachtung der bisherigen Geschichte, die in ihrer Gesamtheit vor der sozialen Revolution liegt? Und wird sie nicht auch gelten für die Zeit nach der sozialen Revolution, wenn es kein Proletariat mehr gibt?

Es ist also ganz absurd, zu sagen, es stehe im Widerspruch zur Lehre vom Klassenkampf, wenn der Marxismus Anspruch auf Allgemeingültigkeit seiner Sätze auch für die anderen Klassen, nicht bloß für das Proletariat erhebe, und der Marxismus sei beschränkt auf das Stadium der sozialen Revolution.

Indessen weiß Korsch einen schlagenden Beweis dafür, wie verderblich der Satz von der Allgemeingültigkeit der Sätze des Marxismus sei. Wer das annehme, der bahne jenen den Weg, die aus der Marxschen Methode antisozialistische Konsequenzen zögen.

„Hilferding kann am Beispiel solcher Marxisten wie Paul Lensch sehen, dass sich diese Art von ‚wissenschaftlicher Wissenschaft‘ (!) allerdings ‚ganz gut‘ auch gegen den Sozialismus gebrauchen lässt“ (S. 34).

Diese Argumentation zeigt Korsch wieder als großen Kenner der Parteigeschichte. Anderen Leuten ist es „hinlänglich bekannt“, dass Lensch bis 1914 nicht Hilferdings, sondern Rosa Luxemburgs getreuester Anhänger war, derselben Luxemburg, die Korsch auf S. 39 als diejenige feiert, die in Deutschland die marxistische Theorie regeneriert und den Vulgärsozialismus theoretisch vernichtet habe.

Auch die revolutionärste Auffassung sichert nicht gegen Renegatentum – nicht einmal die Korschs.

Und es gibt so manche Parallele zwischen Korsch und Lensch. Beide haben z. B. die Begeisterung für die Diktatur gemein. Allerdings sind sie nicht einig in Bezug auf die Person des Diktators; der eine zieht Stinnes vor, der andere Lenin. Aber der Gegensatz zwischen beiden wird von Tag zu Tag geringer, die Stinnesleute und die Leninleute machen schon ganz gute Geschäfte miteinander und ihre Annäherung wird nicht wenig gefördert durch den Hass gegen den ihnen gemeinsamen Feind, den „Vulgärmarxismus“.

Damit soll nicht gesagt sein, dass die Ansichten Lenschs und Korschs über die Diktatur ganz die gleichen seien, Korsch ist es gelungen, in dieser Beziehung den Vogel abzuschießen und Stinnes wie Lenin, ja sogar Mussolini zu überbieten. So erklärt er am Schlusse seiner Arbeit:

„So wenig durch die ökonomische Aktion der revolutionären Klasse die politische überflüssig gemacht wird, so wenig wird auch durch die ökonomische und die politische Aktion zusammen die geistige Aktion überflüssig gemacht (sind jene beiden Aktionen nicht auch geistige Aktionen, oder betrachtet Korsch die Politik als geistloses Geschäft? Kautsky). Sie (die geistige Aktion) muss vielmehr als revolutionäre wissenschaftliche Kritik und agitatorische Arbeit vor der Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat, und als organisierende wissenschaftliche Arbeit und ideologische Diktatur nach der Ergreifung der Staatsgewalt, ebenfalls theoretisch und praktisch bis zu Ende durchgeführt werden“ (S. 70).

Die Diktatur im Reiche der Ideen – das ist bisher noch niemand eingefallen, nicht einmal Sinowjew oder Dscherschinskyj. Es zeugt von tiefem Verständnis, dass Korsch wissenschaftliche Kritik nur bis zur Ergreifung der Staatsgewalt durch das „revolutionäre Proletariat“, das heißt, durch ihn und seine Freunde, für notwendig hält. Nachher wird sie verpönt. Die Kritik, die er selbst übt, ist notwendig und heilsam. Die Kritik, die an ihm geübt wird, ist ein todeswürdiges Verbrechen. Wehe den Vulgärmarxisten nach der Ergreifung der Staatsgewalt durch die Kommunisten, namentlich nach Einsetzung der „ideologischen Diktatur“.

Leider erfahren wir nicht, wie diese auszusehen hat. Sollen etwa alle Denkapparate im Lande expropriiert und dem Diktator zur Verfügung gestellt werden, nach dessen Anweisungen sie fortan zu funktionieren haben?

Wie wir „Vulgärmarxisten“ darüber denken, ist klar. Korsch behauptet selbst, dass nach der Auffassung des Vulgärmarxismus alle höhere Ideologie „reiner Blödsinn“ ist. Da wird er zugeben müssen, dass die Diktatur in der Ideologie für uns nichts anderes sein kann als der Gipfel des Blödsinns.

Indes liegt doch ein tiefer Sinn in dem kindischen Spiel, das uns der kommunistische „Theoretiker“ präsentiert. Es umfasst eine Reihe von Absurditäten, die nur auf sein Konto allein gehen. Aber den Kern seiner Auffassung hat er mit der ganzen kommunistischen Lehre gemein. Alle Theoretiker des Kommunismus stützen sich mit Vorliebe auf den primitiven Marxismus, auf die Erstlingswerke, die Marx und Engels vor ihrem dreißigsten Lebensjahr bis zu der Revolution von 1848 und ihren Nachwirkungen 1849 und 1850 verfasst hatten. Mit deren späteren Schriften, namentlich dem Kapital, wissen sie, abgesehen von einzelnen Sätzen, wenig anzufangen. Das ist kein Zufall. Schon die Erstlingswerke zeigen die Tatze des marxistischen Löwen, zeigen die Größe seiner Methode. Aber diese kommt dort zu manchen Resultaten, einzelnen Auffassungen und Forderungen, die Marx und Engels später selbst als veraltet bezeichneten. Gerade diese überholten Resultate sind es, die den Bolschewismus besonders entzücken, die er als wahrhaften Marxismus dem späteren „verflachten“, „versimpelten“, „deformierten“ Marxismus „der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ entgegenstellt.

Als Marx und Engels ihre ersten Werke schrieben, standen sie einem Deutschland gegenüber, das ökonomisch ähnlich rückständig war, wie heute Russland, und politisch noch nicht imstande war, den Absolutismus zu überwinden, auch darin dem heutigen Russland ähnlich, wo mit kurzer Unterbrechung, bis heute, wenn auch unter gewechselter Firma, ein absolutes Regime die Volksmasse knechtet. Kein Wunder, dass die Produkte des revolutionären deutschen Denkens der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine Partei besonders anmuten, die im absolutistischen Russland als revolutionäre Partei emporgekommen ist und dem revolutionären Geburtsschein wenigstens in der Theorie weiter entsprechen will, wenn sie ihm auch in der Praxis schon längst untreu geworden ist.

Als dann Marx nach der Revolution in England, dem klassischen Lande des Kapitalismus, dessen Mechanismus genau kennenlernte und die Wirkungen einer freien Presse und öffentlicher Massenorganisationen des Proletariats beobachten konnte, als ihm das Erwachen der Arbeiter und die Schwächung der absolutistischen Regierungen auf dem Festland Europas, namentlich in Deutschland und Frankreich, den Versuch nahelegte, die proletarische Massenorganisation und den Kampf um die Rechte, deren sie bedurfte, in alle kapitalistischen Länder durch die Internationale zu verpflanzen und mit der englischen Arbeiterbewegung in enge Verbindung zu bringen und so den Kampf der Arbeiter um die politische Macht vorzubereiten; als endlich seit 1870 ein neues Frankreich und ein neues Deutschland erstanden, in denen der Aufstieg der Arbeiterklasse und ihre Erkämpfung politischer Rechte unwiderstehlich wurde – da vervollkommnete Marx und mit ihm Engels seine Methode und sie erweiterten ihre Theorie des Klassenkampfes in der Weise, dass sie nicht bloss für das Stadium der Revolution, sondern auch für die nichtrevolutionären Zeiten anwendbar wurde. Diese Erweiterung der Theorie über die des Kommunistischen Manifestes hinaus wurde eingeleitet durch die Inauguraladresse (1864) und abgeschlossen mit dem Engels’schen Vorwort zur Neuausgabe der Marxschen Klassenkämpfe in Frankreich (1895).

Diese Erweiterung der Theorie beansprucht natürlich Allgemeingültigkeit für alle Länder. Aber gerade vom marxistischen Standpunkt aus ist es begreiflich, dass für diejenigen russischen Sozialisten, die den Marxismus in seiner Gesamtheit und nicht bloß das Überholte im primitiven Marxismus zu ihrer Basis machten, wie die Menschewiki, diese theoretische Überlegenheit zu einem Moment praktischer Schwäche gegenüber jenen Sozialisten wurde, die die westeuropäischen Anschauungen vom Sozialismus der russischen Eigenart anpassten und so einen nationalrussischen Sozialismus schufen, wie es Herzen und Bakunin und nach ihnen die Volkstümler und die Sozialrevolutionäre taten. Dennoch haben die Menschewiki in unermüdlichem Kampf gegen diese Elemente das russische Proletariat dem Marxismus zugeführt. Aber nicht sie waren die Nutznießer der Früchte ihrer mühseligen Arbeit, sondern die Bolschewiki. So lange der Schwerpunkt des Bolschewismus in der Emigration blieb, wirkte auf ihn die theoretische Überlegenheit des Menschewismus, aus dem er hervorging. Je stärker die Position der bolschewistischen Organisation in Russland wurde, desto mehr unterlag sie dem Einfluss des russischen Milieus, desto mehr suchte sie die marxistische Theorie, deren Popularität sie ausbeutete, ihren spezifisch russischen praktischen Augenblicksbedürfnissen anzupassen, ihr immer mehr bakunistische Züge einzuverleiben. Dazu eignete sich selbst für den geübtesten Talmudisten der Marxismus seit der Inauguraladresse schlecht. Eher waren dafür geeignete Sätze in den Marxschen Erstlingsschriften aufzufinden.

So wurde aus der offenkundigen Tatsache, dass der Marxismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in mancher Beziehung ein anderes Gesicht trägt als in seinen ersten Jahren, eine Bevorzugung des primitiven Marxismus gegenüber dem späteren reiferen.

Diese Auffassung kann zwar nicht auf Allgemeingültigkeit Anspruch erheben, für Russland wird sie jedoch psychologisch begreiflich.

Wer sie aber in Deutschland akzeptiert und noch dahin übertreibt, der primitive Marxismus sei der einzig wahre, der höher entwickelte bedeute eine Verflachung und Verarmung, der bezeugt dadurch nur seine geistige Unselbständigkeit und unkritische Abhängigkeit von fremden Vorbildern aus einem rückständigen Milieu, seine Verständnislosigkeit für die Bedingungen des proletarischen Klassenkampfes in höher entwickelten kapitalistischen Ländern und eigene knabenhafte Unreife.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012