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Nachdem wir den österreichisch-serbischen Gegensatz in der Vergangenheit kennengelernt, kommen wir zur wichtigsten, entscheidenden Frage: Was nun? Wie den Konflikt lösen, der aus dem Zusammenstoß zwischen österreichischem Imperialismus und serbischem Nationalismus entstanden war? Wie ihn lösen auf dem Wege der Verständigung, in einer Weise, die den sofortigen Friedensschluß ermöglicht und doch einen dauernden Frieden sichert?
Und vor allem: ist eine solche Lösung innerhalb der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung überhaupt erreichbar? Man muß sich von dem Köhlerglauben befreien, als sei es moglich, innerhalb dieser Ordnung alle auftauchenden Fragen befriedigend zu lösen, als bedürfe es dazu nur des nötigen Scharfsinns. Wenn dem so wäre, würde der Sozialismus, das heißt die Überwindung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung überflüssig. Wir sind Sozialisten gerade deshalb, weil wir die wichtigsten Fragen des heutigen politischen und gesellschaftlichen Lebens im Rahmen dieser Ordnung nicht für lösbar halten.
Augenblicklich werden wir schon zufrieden sein müssen, wenn es gelingt, eine Lösung zu finden, die den baldigen Frieden herbeiführt, ohne Verschlechterung des Zustandes vor dem Kriege, in einer Weise, die nicht einen sofortigen Antrieb zu einem neuen Kriege hinterläßt und die den beteiligten Völkern die Freiheit politischer und sozialer Weiterentwicklung über die bestehende Ordnung hinaus bietet. Nur von dieser Entwicklung erwarten wir methodischen, allseitigen, wirklichen Fortschritt. Von der Revolution und nicht vom Kriege.
Aber daraus, daß wir nicht erwarten, schon innerhalb der heutigen Gesellschaft alle unsere Forderungen durchzusetzen, folgt natürlich nicht, daß mit unseren Forderungen nicht jetzt schon zu formulieren haben. Wir müssen das tun, zu praktischen Zwecken, um heute schon so viel davon durchzusetzen, als die bestehenden Machtverhältnisse gestatten, und um unsere praktische Arbeit zu einer einheitlichen und zielbewußten zu gestatten; dann aber auch zu propagandistischen Zwecken, um der noch nicht für uns gewonnenen Masse der Arbeitenden Klassen in greifbarer Weise zu zeigen, wie wir die heutigen Schwierigkeiten beseitigen würden, wenn wir die Macht dazu hätten; um auf diese Weise die Masse und die Macht, die in der Klasse liegt, für unsere Ideen zu gewinnen.
Die tiefstgehende Triebkraft im serbischen Konflikt ist das Streben des serbischen Volkes nach nationaler Einigung, ein Streben, das auf einer gewissen Kulturstufe, wie wir gesehen haben, mit derselben Notwendigkeit entspringt, wie das noch moderner Demokratie. Es bildet im Grunde nur eine der Formen des Strebens nach Demokratie und ist, soweit es damit zusammenhängt, von der internationalen Demokratie zu fördern. Das nationale Streben des serbischen Volkes ist in seinem Wesen nicht verschieden von dem, das seit dem beginn des neunzehnten Jahrhunderts das deutsche und italienische Volk bewegte, einem Streben, an dem unsere Vorkämpfer, die Marx und Engels, Lassalle, Liebknecht, Bebel mit vollem Herzen Anteil nahmen. Das deutsche Volk hat seit 1866 und 1870 eine wenn auch unvollkommene Lösung dieses Problems erreicht. Die Serben werden von ihm noch völlig beherrscht.
Die klassischste Form, das nationale Sehnen zu befriedigen, bietet der Nationalstaat. Es gibt keine natürlichen Hindernisse, die es erschweren würden, die Völker serbischer Zunge – inbegriffen die ihnen sprachverwandten Slowenen – in einem besonderen Gemeinwesen zu vereinigen. Der Kern ihrer Nation bildet ein geschlossenes Sprachgebiet, das auch ein Verkehrsgebiet darstellen kann, mit gutem Zugang zum Meer, reichlicher Küstenentwicklung. Auch die historischen Trennungslinien zwischen einzelnen Regionen des Sprachgebiets bilden keine Hindernisse mehr. Das größte, das der Religion, ist in deiner Bedeutung in raschem Schwinden begriffen, wenn es auch noch stark genug ist, manche Unbequemlichkeiten nach sich zu ziehen, zum Beispiel in Verschiedenheiten des Kalenders, der Schrift usw., die aber zu beseitigen sind.
Wie überall auf dem Balkan oder richtiger gesagt überall dort, wo eine moderne Nation erst im Werden ist, sind die Sprachgrenzen nicht genau zu ziehen. An der Peripherie sind die Sprachgebiete noch stark durcheinandergemischt, es wohnen Serben im Osten und Süden nicht bloß mit Bulgaren zusammen, sondern auch mit Albanesen, Griechen, Rumänen, Türken, im Norden mit Ungarn und Deutschen, im Westen mit Italienern. Aber das beweist nicht, daß eine bestimmte Grenze für den Nationalstaat nicht zu ziehen wäre, sondern nur, daß sie nicht von vornherein auf Grund der Sprachenkarte feststeht. Ist das Prinzip einmal angenommen, dann muß, wie das Marx und Engels 1848 schon für Polen verlangten, die Ziehen der Grenze im einzelnen der Verständigung der dabei in Frage kommenden Bevölkerungen überlassen werden, die nicht immer bloß nach sprachlichen Rücksichten, sondern auch nach Bedürfnissen des Verkehrs, nach historischen Überlieferungen und anderen Faktoren urteilen werden. Dabei hätte in allen zweifelhaften Fällen das letzte Wort die Demokratie zu sprechen, die Mehrheit der der Bevölkerung des strittigen Gebiets. Es darf über sie nicht ohne ihr Zutun, nicht af das Recht der Eroberung, des Rechtes des militärisch Stärkeren verfügt werden.
Der serbische Nationalstaat würde etwa 10 bis 11 Millionen Einwohner umfassen. Daß die Slowenen in ihn einbezogen werden, schüfe allerdings für die Völker Österreichs einen schweren Nachteil – sie verlören vollständig den Zugang zum Meer. Die verzweifelte Situation, in der sie bisher Serbien erhielten, würde dann die ihre werden.
Doch brauchen wir uns bei dieser Schwierigkeit nicht weiter aufzuhalten, da nicht die geringste Wahrscheinlichkeit besteht, daß der serbische Gesamtstaat ein Ergebnis des jetzigen Krieges sein wird. Er wäre nur durchzusetzen durch völlige Niederwerfung der österreichischen Monarchie. Das bloße Streben danach würde den Krieg in einer Weise verlängern, die ganz Europa völlig ruinieren müßte. Kein Volk würde dabei mehr leiden als das serbische selbst.
Nun wäre noch ein zweiter Weg denkbar, die serbische Nation zu einigen. Er würde das gerade Gegenteil der Begründung eines serbischen Nationalstaats bilden. Dieser Staat wäre nur zu erreichen durch Losreißung sämtlicher südslawischen Gebiete von Österreich. Man könnte aber auch versuchen, die Serben zu vereinigen innerhalb Österreichs; statt sieben Millionen Südslawen vom Großstaat abzureißen, was eine verzweifelte Operation wäre, könnte man die Kleinstaaten Serbien und Montenegro der Monarchie einverleiben.
Diese Lösung lag in der Richtung der Entwicklung des Kaiserstaats. Wir haben gesehen, daß er im achtzehnten Jahrhundert bereits vorübergehend Serbien annektiert hatte, daß dann die aufständischen Serben im beginn des neunzehnten Jahrhundert Österreich baten, es möge sich ihrer annehmen und sie annektieren. Österreich war damals in Deutschland und Italien zu beschäftigt und zu sehr Feind jeder Revolution, als daß es Interesse, Kraft und Mut dazu gewonnen hätte.
Jetzt, nachdem die Bevölkerung des Königreichs Serbien selbst ihre Freiheit in zahlreichen blutigen Kämpfen eines Jahrhunderts erstritten und befestigt bat und nach all der furchtbaren Erbitterung, die die letzten Jahrzehnte vor dem Krieg und dieser selbst in ihr angehäuft haben müssen, wird sie nicht mehr so begierig wünschen, unter das Zepter Österreichs zu kommen. Und doch ist es nicht ausgeschlossen, daß gerade die unsäglichen Leiden des Krieges die Serben für die Idee eines Anschlusses an Österreich geneigter gemacht haben. Ob sie von einem Karageorgewitsch ober einem Habsburger beherrscht werden, dürfte ihnen gleichgültig sein, ökonomisch hätten sie eine enorme Verbesserung ihrer geographischen Situation zu erwarten. Sie bekämen sofortigen Zugang zum Meer und völlig zollfreien Zugang zu ihren nächsten und besten Kunden, den Industriegebieten österreichs, von denen sie bisher gewaltsam abgeschnitten waren, blieben ihnen ihre bisherigen politischen Rechte erhalten und würden sie dabei mit ihren Nationsgenossen, von denen sie bisher getrennt gewesen, in einem politischen Körper innerhalb eines Bundesstaats vereinigt, dann könnte ihr nationales Sehnen dabei zu seinem Rechte kommen.
Man sollte meinen, wenn die serbische Bevölkerung zustimmte, wäre das eine für beide Seiten annehmbare Lösung des serbischen Problems. Abgesehen natürlich von der republikanischen, von der wir noch sprechen werden. Denn wie könnte eine Schwierigkeit von der anderen Seite kommen, von Österreich? Das scheint ausgeschlossen, und doch ist dem so. Die herrschenden Klassen und Nationen Österreichs kämen durch die Annexion Serbiens in die größte Verlegenheit.
Da haben wir zunächst die Agrarier, vor allem in Ungarn. Jahrzehntelang waren sie aufs eifrigste bemüht, die Produkte der serbischen Landwirtschaft von österreich fernzuhalten, Sie haben um dieses Zieles willen ihren Staat im schwere Konflikte und Gefahren gestürzt, und nun sollten sie plötzlich den völligen Verzicht auf dieses Ziel zu ihrem Kriegsziel machen? Solange die agrarischen Intcrssen in Österreich-Ungarn Trumpf sind, ist diese Lösung nicht zu erwarten.
Sie widerspricht aber auch dem Bedürfnissen der Nationalisten in den Nationen, die bisher in der Monarchie die Führung hatten, der Deutschen wie der Ungarn. Mit Mühe behaupten sie sich gegenüber den anderen Nationen. In Cisleithanien kamen 1910 auf 10 Millionen Deutsche 18 Millionen Nichtdeutsche, darunter 17 Millionen Slawen. In Ungarn kamen auf 10 Millionen Magyaren 11 Millionen anderer Nationen, davon 6 Millionen Slawen, 3 Millionen Rumänen, 2 Millionen Deutsche. Je mehr die anderen Nationen sich ökonomisch und kulturell entwickeln, desto schwieriger wird es für Deutsche und Ungarn, ihr Übergewicht im Staate aufrechtzuhalten. Und da sollten sie wünschen, die Zahl der Slawen im Reiche noch zu vermehren?
Man erinnere sich der Haltung der Deutschen und eines großen Teiles der Ungarn in Österreich nach dem Berliner Kongreß 1878, der der Monarchie das Recht gab, Bosnien zu okkupieren und zu verwalten. Es war nicht einmal eine Einverleibung, sondern eine bloße Besetzung slawischen Bodens, die aus seinen Bewohnern nur Hörige, keine Wähler machte, und doch ängstigte sie die Deutschen aufs äußerste, während sie von den Slawen Österreichs freudig begrüßt wurde – denselben Slawen, die mit Serbien auch lebhafteste sympathisierten, dessen Bevölkerung wieder, soweit sie überhaupt politisch dachte, die Okkupation aufs schärfste verurteilte.
Die eigenartigen Verhältnisse Österreichs erzeugen zu leicht derartige widerspruchsvolle Situationen.
Die Okkupation Bosniens war eine dringende Forderung des Kaisers gewesen. Dieser hatte sich persönlich für sie eingesetzt. Und die liberalen Deutschen – die „Verfassungspartei“ – besaßen ihre politische Macht nur von der Krone Gnaden. Nicht nur waren die Deutschen an Zahl geringer als die Nichtdeutschen in Österreich, die Deutschen waren obendrein gespalten. Die klerikalen und feudalen Deutschen gingen mit den Slawen. Nur durch ein künstliches Wahlsystem und die Regierungsgunst behaupteten die liberalen Deutschen ihre politische Machtstellung. Trotzdem war diesmal bei den meisten unter ihnen ihre nationale Furcht vor der Vermehrung der Slawen im Reiche stärker als ihre Angst vor der kaiserlichen Ungnade. Über dieser Frage spaltete sich die Verfassungspartei. Bei der entscheidenden Abstimmung des Abgeordnetenhauses über den Berliner Vertrag am 27. Januar 1879 wurde er mit 154 Stimmen gegen 112 genehmigt. Für ihn hatten die deutschen Feudalklerikalen und die Slawen gestimmt sowie 42 Deutschliberale, die dem Grundsatz huldigt, den Charmatz predigt:
Die Größe des Politikers besteht nicht in der Starrheit, sondern im richtigen Maß von Schmiegsamkeit, und so hätte die liberale Partei sich mit dem Fait accompli abfinden müssen. (Deutschösterreichische Politik, S. 362)
Jüngst hat diese Vorgänge wieder erzählt Eduard Sueß, der Führer jener 42 „schmiegsamen“ Liberalen, in seinen Erinnerungen. (S. 287 ff.)
Unter den 112 Abgeordneten, die gegen die Okkupation gestimmt hatten, waren 110 Deutschliberale, geführt von Herbst, der sich damals in einem großen Rededuell mit Sueß maß.
Jene Abstimmung wurde zur Katastrophe der Verfassungspartei, die von da an die Gunst her Krone verlor, aufhörte, regierende Partei zu sein, und dem Regime Taaffe Platz machte. Daher das Bismarcksche Witzwort von den „Herbstzeitlosen“.
Erregte schon die bloße Okkupation Bosniens solchen Widerstand, dann darf man wohl erwarten, daß die Aufnahme neuer 5 Millionen Serben in den Reichsverband noch größeren Schwierigkeiten begegnen würde. Diese 5 Millionen sind zum größten Teil seit Jahrzehnten an ein selbständiges, demokratisches politisches Leben gewöhnt. Sie zu den Bosniern, Kroaten, Dalmatinern uns Slowenen hinzugesellt, müßten der Sache der Südslawen in der Monarchie eine unwiderstehliche Stoßkraft verleihen. Der Dualismus würde unhaltbar, uns möchte nun an seine Stelle der Trialismus oder ein föderativer Bund der Nationen Österreichs überhaupt treten. Österreich würde zu einem slawischen Staat. Den 12 Millionen Deutschen und 10 Millionen Ungarn stünden dann 30 Millionen Slawen gegenüber. Es ist nicht zu erwarten, daß die führenden Elemente jener beiden Nationen sich für diese Lösung begeistern werden.
Die beiden radikalsten Lösungen des serbischen Problems haben also keine Aussicht, am Ende dieses Krieges zur Verwirklichung zu kommen, es sei denn, daß Österreich eine grundstürzende innere Wandlung durchmacht.
Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019