Karl Kautsky

Serbien und Belgien in der Geschichte
Österreich und Serbien


9. Mazedonien und Albanien


Die fortschreitende Verbitterung der Beziehungen zwischen Österreich und Serbien wurde nicht gemildert, als nach der russischen Revolution die Balkanfrage selbst wieder einen akuten Charakter annahm durch die mazedonischen und albanischen Unruhen und die Türkische Revolution.

Mazedonien bildete auf dem Balkan das letzte Gebiet, dem es noch nicht gelungen war, das Joch des türkischen Feudalismus abzuwerfen, das um so mehr lastete, je mehr die Türkei ökonomisch verkam, je auffallender der Unterschied zwischen der Lage der christlichen Bauern in Mazedonien und der in Serbien und Bulgarien war, je tatkräftiger endlich die Ermunterung, die der mazedonische Insurrektion aus diesen beiden Staaten zuteil wurde, von denen jeder nach der Beute verlangte. Diese Ermunterung war sicher vorhanden, doch täte man unrecht, die ganze Bewegung als künstliche Mache auswärtiger Hetzer zu betrachten. Das ist immer die Darstellung jener, die ein Interesse an dem Fortbestehen der Mißbräuche haben und nicht zugeben wollen, daß diese Mißbräuche vorhanden sind und aufreizend wirken. Wie die Lage der Bauern in Mazedonien war, bezeuge folgendes: Dr. Cleanthes Nicolaïdes schreibt in seinem Buche über Mazedonien (Berlin 1903, Calvary):

Der christliche Landmann in Mazedonien hat folgende Abgaben zu leisten:

 

Prozent des
Ernteertrags

1. Der Großgrundbesitzer erhält vom Ernteertrag

331/3

2. Die Staatssteuern betragen

162/3

3. Die Schulsteuer

  2   

4. Die Gewerbe- und Einkommensteuer

  5   

5. Die Leistungen für Wegebau

  5   

6. Die Abgabe für die Kirche

  1   

Zusammen

63   

Rechnet man nun, daß 15 Prozent zur nächstjährigen Aussaat erforderlich sind, so würden dem Bauern für sich und seine Familie noch 22 Prozent von der Ernte verbleiben. (S. 88)

Aber auch die blieben ihm nicht, er mußte sie mit Räubern teilen – den gesetzlichen Räubern, Steuergendarmen und Grundherren, und den ungesetzlichen Räubern, Bauern, die aus Verzweiflung oder aus Trotz sich gegen die gesetzliche Ordnung erhoben, gegen die Unterdrücker Front machen, um sich zu behaupten, die aber auch die Bauern besteuerten.

Je entsetzlicher die Lage der Bauern, desto größer die Zahl der Räuberbanden. Es hing bloß von der allgemeinen Situation ab, ob sie gewöhnliche Räuber blieben oder zu Freiheitskämpfern wurden – genau wie ein Jahrhundert vorher in Serbien.

Diese mazedonische Insurrektion wollte nicht enden.

Anders liegt die Sache in Albanien. Dort herrschen die gleichen Zustände, doch noch primitiver, die sich bis ins achtzehnte Jahrhundert in Hochschottlanf erhielten. Walter Scotf hat sie in seinen schottischen Romanen so plastisch geschildert. In dem schwer zugänglichen Bergland erhält sich die Gentilverfassung noch in voller Kraft, mit dem ganzen trotzigen Freiheitssinn, der diese Gesellschaftsform kennzeichnet. Die Unzugänglichkeit ihrer Berge schnitt die Albanesen vom Weltverkehr ab und verhinberte ihre militärische Niederwerfung. Die Unwirtlichkeit des Berglandes schützte ihre Freiheit auch dadurch, daß sie nur eine äußerst ärmliche Hirtenwirtschaft aufkommen ließ, die niemandes Begehrlichkeit lockte. Diese Armut verwandelt aber auch wieder den Albanesen in einen geborenen Räuber, jedoch ganz anderer Art als den Mazedonier.

Die ökonomischen Verhältnisse, wie sie in Albanien herrschen, begünstigen ungemein die Fruchtbarkeit der Bevölkerung. Adam Smith wies bereits in seinem Wealth of Nations auf die außerordentliche Fruchtbarkeit bei Bergschotten hin: „Armut scheint die Fruchtbarkeit zu fördern. Ein halbverhungertes Weib aus dem Hochland bringt häufig mehr als zwanzig Kinder zur Welt.“ (1. Band, 8. Kapitel) Was mit diesem kraftvollen, kampflustigen Menschenzuwachs beginnen? Die primitive Landwirtschaft kann ihn nicht ernähren. Zum Teil geht er zugrunde in den steten inneren Fehden der einzelnen Clans untereinander, die der Blutrache entspringen. Sie müßten jene Stämme längst vernichtet haben, wenn nicht der rasche Nachwuchs bestände. Ein anderes Sicherheitsventil ist der Kriegsdienst außerhalb der Berge. Nie haben die Albanesen eine türkische Armee in ihren Bergen lange geduldet. Aber sie waren stets bereit, sich dem Sultan zu verdingen, und bildeten in Konstantinopel seine zuverlässigste Truppe. So legte Pitt 1756 die Axt an „die Wurzel aller Aufstände und Anarchie in den Hochlanden“ (Lecky), als er dazu überging, in den schottischen Hochlandclans Anwerbungen für die Armee vorzunehmen.

Aber nicht jeder wollte der Heimat den Rücken kehren und sich der militärischen Disziplin unterwerfen. Der in der Heimat zurückbleibende sah nur ein Mittel, der Armut seiner Berge abzuhelfen: die Plünderung der Bauern.

In alledem bieten die Albanesen genau dasselbe Bild wie die schottischen Hochländer. Aber ihre Lage war keineswegs hier wie dort die gleiche. Die Hochschotten grenzten an ein hochkultiviertes Gemeinwesen, während die Nachbarn der Bergalbanesen selbst arme Teufel in höchst primitiven Verhältnissen waren, einerseits Serben und Griechen, andererseits die Albanesen der Küstenniederung. Das bewirkte aber nur, daß den Albanesen gegenüber die Mittel der Abwehr und schließlichen Niederwerfung weit geringer waren als den schottischen Hochländern gegenüber, konnte jedoch keineswegs dahin führen, daß die Raubzüge weniger schmerzlich empfunden wurden.

Die Albanesen blieben eine Geißel ihrer Umgebung, in ständiger Fehde mit ihr.

Dieser ewige Kriegszustand kümmerte Europa lange Zeit höchst wenig. Ein Interesse gewann er dagegen, als in Österreich die Tendenz für den Vormarsch nach Saloniki aufkam, Der Weg nach Mazedonien führte bei Albanien vorbei, ja zum Teil direkt durch albanesisches Gebiet. Die Gegnerschaft der kriegerischen Albanesen konnte sehr unangenehm, ihre Freundschaft sehr angenehm werden. Und die der Albanesen war billig zu haben – auch hierin den Hochschotten ähnlich.

Bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein, also die schottischen Niederlande schon längst zu innigster Gemeinschaft mit England gekommen waren, wußten die Könige Frankreichs sich noch einen Anhang unter den Bergschotten zu erkaufen, der England teilweise höchst unbequem wurde.

Für Österreich war ein Anknüpfungspunkt darin gegeben, daß in dem Stadium, in dem die Bergstämme Albaniens leben, neben der Gentilverfassumg bereits die kirchliche Organisation eine Rolle spielt, wenn auch noch jener Verfassung untergeordnet. Nun gibt es unter ihnen Mohammedaner, griechisch-orthodoxe Christen und Katholiken. Österreich wurde für die letzteren Schutzpatron.

Dabei fand es jedoch einen unliebsamen Konkurrenten in den Italienern, das heißt in dem italienischen Imperialismus.

Dieser ist ganz eigener Art. Seine Haupttriebkraft ist nicht das Finanzkapital, sondern die Überproduktion an Intelligenz. Die industrielle Entwicklung Italiens ist gering, groß aber die Zahl seiner Intellektuellen, ist es doch ein altes Kulturland mit vielen Universitäten und einem zahlreichen Kleinbürgertum, das einen großen Teil seines Nachwuchses intellektuellen Berufen zuweist. Weder Industrie noch Handel bieten für diese Elemente ausreichende Beschäftigung. Da wird die Versorgung durch den Staat, wird die Zahl der Beamtenstellen im Staat von größter Wichtigkeit für die Intellektuellen.

Der Staat, wie er besteht, reicht nicht aus für sie alle. Das wird ein Moment, das jede Bewegung verstärkt, die den Staat zu ändern oder auszudehnen strebt. Der Kampf um die Unabhängigkeit und Freiheit der Nation wurde so eine Sache nicht bloß der Idealisten, sondern auch nicht weniger Streber. Sobald dies Ziel einigermaßen erreicht war, erhoben die unversorgten Streber den Ruf nach kolonialem Besitz. Bis heute noch ist aber nicht die ganze Nation geeinigt, und so schwankt die öffentliche Meinung Italiens zwischen Nationalismus und Imperialismus hin und her. Einmal überwiegt das eine, ein andermal das andere Moment. Beide Strömungen fanden sich schließlich in dem Gegensatz gegen Österreich, nachbem sie eine Zeitlang einander in dieser Beziehung entgegengewirkt hatten.

Nach 1870, nach der Einverleibung des Kirchenstaats in das Königreich Italien, richteten die Italiener ihre Blicke nach Südtirol, Görz, Triest, die, von Italienern bewohnt, noch „unerlöst“ (irredenti) waren. Der Bund der „Irredenta Italia“, des unerlösten Italiens, der sich 1878 bildete, beherrschte jahrelang das öffentliche Leben Italiens. So groß war damals die Erbitterung gegen Österreich, daß Bundesmitglieder den Versuch machten, den Kaiser Franz Joseph zu ermorden, als er 1882 in demonstrativer Absicht zur Feier der fünfhundertjährigen Zugehörigkeit Triests zu dem habsburgischen Besitzstand nach dieser Stadt kam. Das Attentat wurde vereitelt, der eine der Attentäter entkam nach Italien, wo man ihn verhaftete und in Udine vor ein Geschworenengericht stellte, die ihn freisprach. Der andere, der Student Oberdank, wurde in Triest festgenommen und hingerichtet, was in Turin, Bologna, Mailand, Rom stürmische Protestkundgebungen hervorrief. Oberdank wurde als Nationalheiliger verehrt. Zahlreiche Oberdankklubs bildeten sich. Doch war die österreichische Regierung klug genug, daraus keinen Kriegsfall zu machen und der italienischen Regierung kein Ultimatum zu senden.

Immerhin erschien die Politik der Irredenta vielen Politikern Italiens zu gefahrvoll, sie suchten für den italienischen Expansionsdrang einen weniger gefährlichen Ausweg in der Politik kolonialer Erwerbung. Eigenartig wie der Imperialismus ist auch die Kolonialpolitik Italiens. Da sie nicht von den Bedürfnissen der Industrie, sondern von denen der Intellektuellen getrieben wird, sah sie sehr wenig auf den ökonomischen Wert der Gebiete, die sie besetzte. Sie hatte das Pech, sich der unfruchtbarsten und ärmsten Landstriche zu bemächtigen, und dabei gerade solcher, die von einer höchst wehrhaften Bevölkerung verteidigt wurden. Das galt zuerst für Abessinien, wo es sich 1885 festsetzte, wie später für Tripolis. Es galt in gleichem Maße für Albanien, das es in seine Einflußsphäre zu verwandeln suchte. Tripolis und Albanien sollten ihm helfen, die Adria und das östliche Mittelmeer in einen italienischcn See zu verwanbeln. Dabei stieß es auf die Konkurrenz Österreichs, das ebenfalls nach Albanien trachtete.

Eine Zeitlang hatte der Imperialismus Italiens dazu gedient, den aus dem nationalen Sehnen entspringenden Gegensatz gegen Österreich zu überwinden, Im Mittelmeer stieß es zunächst nicht auf Österreich, sondern auf Frankreich als Gegner, das ihm Tunis vor der Nase wegschnappte (1881). Gegensatz gegen Frankreich, Anschluß an Deutschland und Österreich war die erste Folge des italienischen Imperialismus.

Durch Albanien aber wurde nun Österreich für ihn zum Feind, derselbe Staat, der als Gegner der nationalen Bestrebungen erschien. Imperialismus und Nationalismus, deren auswärtige Politik eine Zeitlang gegensätzlich geworden waren, begegneten sich nun, das Resultat war Schwächung des Dreibunds, Annäherung Italiens an Frankreich, Arbeiten gegen Österreich in Albanien.

Bei ihrer Stellung zum Papst konnten sich die Italiener dabei nicht gut des katholischen Klerus bedienen. Der hielt treu zu Österreich. Die Italiener suchten daher Einfluß auf die Albanesen zu gewinnen durch Schulen.

Die Einwirkung von außen diente gerade nicht dazu, die von vornherein zu steter Unruhe geneigten Albanesen zu berubigen. Albanien und Mazedonien, die beiden letzten großen Gebiete, die die Türkei in Europa noch besaß, wurden immer mehr zu Ausgangspunkten ständiger Rebellionen, die den morschen Staat aufs tiefste erschütterten und der steten Gefahr auswärtiger Interventionen aussetzten.

Die türkische Regierung aber blieb in ihrem alten Schlendrian, tat nichts zur Abwendung der drohenden Gefahr. Der Staat schien zum Untergang verurteilt – da setzte die Revolution ein.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019