MIA > Deutsch > Marxisten > Kautsky > Serbien u. Belgien
Ganz anders wie auf die südlichen wirkte die französische Revolution auf die nördlichen Niederlande. Die Trennung der beiden, die seit dem Abfall von Spanien begonnen hatte, blieb auch jetzt noch bestehen, nicht bloß innerlich sondern auch äußerlich. Die nördlichen Niederlande fuhren fort, ein gesondertes Gemeinwesen zu bilden, auch nachdem in Frankreich an Stelle der Republik das Kaiserreich Napoleons getreten war. Aus der von Frankreich abhängigen Batavischen Republik machte er ein abhängiges Königreich, das er seinem Bruder Louis verlieh (1806).
Ob Republik, ob Königreich, die nördlichen Niederlande wurden nicht wie Belgien ein Teil des großen französischen Staates, teilhaftig aller Vorteile, die dieser seinen Bürgern bot, sondern ein abhängiger Vasallenstaat, der eine französische Armee ständig zu garnisonieren und zu erhalten hatte. Diese heuchlerische Art, die Abhängigkeit unter dem Anschein der Selbständigkeit zu verbergen, wirkt womöglich noch erbitternder als offene Knechtschaft.
Die Anforderungen des französischen Militarismus wurden schließlich derartige, daß Louis Napoleon selbst sich dagegen auflehnte, sie zu befriedigen. Er dankte 1810 ab. Nun wurde sein Königreich mit Frankreich vereinigt. Diese Vereinigung kam jedoch zu spät, um auf die Holländer dieselbe Wirkung üben zu können wie früher auf die Belgier. Sie erfolgte zu einer Zeit wo das Napoleonische Kaiserreich den letzten Rest seiner revolutionären Traditionen und Funktionen verloren hatte und nichts mehr repräsentierte als einen nackten Militarismus. In dieser Form wirkte sie nicht mehr anziehend, sondern nur noch abstoßend.
Dazu kam, daß die ökonomische Lage in Holland ganz anders war als in Belgien. Wie im sechzehnten Jahrhundert das Spanien Philipps II. und im siebzehnten das Frankreich Ludwigs XIV. hatten sich im achtzehnten Jahrhundert die Vereinigten Staaten der Niederlande in dem Streben erschöpft, gleichzeitig die See zu beherrschen und eine starke Landmachf zu bilden. Diese Doppelaufgabe hat schließlich jeden dieser Staaten ruiniert. Er brachte auch für die Niederlande nach glänzendem Aufstieg völlige wirtschaftliche Stagnation. Das Zeitalter Napoleons vermehrte sie noch, indem es die nördlichen Niederlande den völligen Verlust ihrer wichtigsten Reichtumsquellen erleiden ließ. Da sie mit Napoleon verbündet waren, standen sie im Kriege mit England. Das kostete sie ihre Kolonien und ruinierte ihren überseeischen Handel.
So wirkte die Zeit der französischen Herrschaft auf die Holländer ganz anders als auf die Belgier. Nach der Schlacht bei Leipzig erhoben sich mit den Deutschen die Holländer im Aufstand gegen das französische Joch, während die Belgier keinen Finger rührten, von Frankreich loszukommen. Dies wurde ohne ihr Zutun durch die Großmächte bewirkt, die Napoleon niedergeschlagen hatten, vor allem durch England.
Wir haben gesehen, daß die französische Revolution vermocht hatte, was vor ihr keiner der mächtigen Dynastien Spaniens und Österreichs gelungen wah die Belgier widerstandslos, ja freudig einem großen Staate einzuverleiben. Der französischen Revolution war aber auch gelungen, woran der nach der Beherrschung Europas trachtende Ludwig XIV. gescheitert war, sich ganz Belgiens zu bemächtigen, ohne durch England daran gehindert zu werden.
Indes bestand Englands alte Politik noch fort, jede starke Militärmacht als ihren Todfeind anzusehen, die, Belgien benachbart, sich dieser Basis zum Stoß ins Herz Britanniens bemächtigte. Im Winter 1792/93 war Belgien französisch geworden, in demselben Winter gesellte sich England der Koalition gegen Frankreich bei und wenn es von da an den Krieg gegen die Republik und das ihr folgende Kaiserreich zäher und mit geringeren Unterbrechungen als ein anderer Staat Europas bis zum Sturze Napoleons führte, so trug dazu nicht zum wenigsten die Tatsache bei, das Belgien französisch war.
Nach Napoleons Fall war eine der ersten Sorgen der englischen Staatsmänner die, Belgien von Frankreich abzutrennen. Die Völker wurden damals bei derartigen Prozeduren nicht gefragt. Belgien wurde nicht selbständig gemacht – man mißtraute ihm wohl zu sehr wegen seiner starken französischen Sympathien – sondern Holland zugeteilt, mit dem es zusammen das Königreich der Vereinigten Niederlande bilden sollte. In dieser Verbindung hoffte man es von allen französischen Vergrößerungsgelüsten sicherzustellen. Zum König des neuen Reiches wurde Wilhelm von Oranien bestimmt, der Sohn des letzten Statthalters der Republik, ein Schützling Englands.
Vom Standpunkt des Nationalitätenprinzips hätten die Flämen über diese Gestaltung überglücklich sein müssen. Sie wurden getrennt von Frankreich, in dem sie eine hoffnungslose Minderheit gebildet hatten. Sie wurden mit ihren nördlichen Sprachgenossen vereinigt und mit ihnen bildeten die große Mehrheit im Staate, denn 1½ Millionen Wallonen standen nun 5 Millionen Angehörige der flämisch-holländischen Sprachgemeinschaft gegenüber. Aber auch jetzt erwies es sich wieder, daß das moderne nationale Streben kein „natürliches“, „ewiges“, sondern ein von bestimmten sozialen und politischen Bedingungen abhängiges ist, das es vor allem aus dem Drange nach demokratischer Selbstbestimmung des Volkes im modernen Staate erwächst.
Diese Selbstbestimmung fehlte den Belgiern im niederländischen Staate, den Flämen nicht minder als den Wallonen. So sehr hatten sich die Mächte daran gewöhnt, Belgien als unselbständigen Teil eines anderen Staates anzusehen, das sie 1814 nicht von einer Vereinigung Belgiens mit Holland sprachen, sondern ersteres dem letzteren als „Gebietszuwachs“ zuwiesen. Als erobertes Lans wurde es von den regierenden Klassen Hollands betrachtet und behandelt, und diese Behandlung lähmte alle Gefühle der Zusammengehörigkeit, die etwa aus der Sprachgemeinschaft hervorgehen konnten. Obwohl Belgien über 3½ Millionen Einwohner zählte, Holland nur 2½ Millionen, entsandte es doch nicht mehr Abgeordnete als dieses in das Parlament (die Generalstaaten). Aber noch wichtiger als das Schattenparlament in jener Zeit der Reaktion war die Staatsverwaltung. Sie blieb vollständig in den Händen der Holländer. Im Jahre 1830 war von 7 Ministern nur einer ein Belgier, von 117 Beamten im Ministerium des Innern waren nur 11 belgische, von 1.967 Offizieren der Armee nur 288 belgische.
Entscheidend war damals die Königliche Macht im Staate, und Wilhelm fühlte sich ausschließlich als Holländer.
Was die Belgier an Freiheiten noch aus der Franzosenzeit besaßen, wurde ihnen genommen, so die Geschworenengerichte. Statt von belgischen Landsleuten wurden sie hinfort von holländischen Berufsrichtern gerichtet. Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens wurde beseitigt.
Die Preßfreiheit war in dem Grundgesetz (Art. 227) gewährt; tatsächlich aber war sie, unter dem Vorwand der Gefahr der Napoleonischen Invasion, durch eine übermäßig strenge Verordnung vom 20. April 1815 konfisziert worden, die zur Kognition aller Vergehen einer aufregenden Natur, durch Schrift, Rede ober Tat ein außerordentliches Tribunal bestellte und in den Strafbestimmungen bis zur Ausstellung am Pranger, Brandmarken, Gefängnis bis zu sechs Jahren und 10.000 Franken Buße vorging. (Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, S. 554)
Das waren die richtigen Methoden, eine sprachverwandte, aber anders gewöhnte Bevölkerung von sich abzustoßen.
Zu politischer Unterdrückung gesellte sich ökonomischer Gegensatz. Holland hatte in den vielen Jahren, in denen es als selbständiger Staat Krieg geführt, eine ansehnliche Staatsschuld angesammelt – zwei Milliarden. Die Belgiens war winzig – 30 Millionen. Nun wurden beide Staatsschulden zur gemeinsamen Schuld des ganzen Staates.
Belgien war in der Franzosenzeit ein aufstrebender Industriestaat geworden, in Holland dominierten die Interessen der Agrarier und der Handelsleute. Holland verlangte nach freier Einfuhr von Industrieprodukten, Belgien nach Zollschutz für sie.
Zu alledem gesellte sich endlich der religiöse Gegensatz zwischen Katholizismus und Kalvinismus. Er regte besonders die Flämen gegen die Holländer auf, denn in der flämischen Bevölkerung lebte ein weit stärkerer katholischer Fanatismus als in der wallonischen, die, mehr industriell und mehr von der französischen Literatur beeinflußt, religiöser Indifferenz und Freidenkerei zugänglicher war.
Alle diese Faktoren wirkten zusammen, um die gesamte belgische Bevölkerung Wallonen und Flämen, Freimaurer und Klerikale, Republikaner und Monarchisten, in wachsendem Haß gegen das holländische Regime zu vereinigen. Die belgische Opposition nahm immer schärfere Formen an.
Der König glaubte durch die Macht seiner Persönlichkeit auf die Belgier Eindruck machen zu können, unternahm eine Reise durch Belgien 1829, um sich seinen dortigen Untertanen zu zeigen. Und er erreichte es in der Tat, daß er von den Neugierigen angehocht wurde, die gekommen waren, ihn zu sehen. Wie das anderen schon passiert ist, nahm auch er das für den Ausdruck der wahren Volksstimmung, und als in Lüttich, das wegen seiner revolutionären Gesinnung schwarz angeschrieben war, ihn besonders lauter Jubel empfing, sagte er zum Stadtrat:
Ich sehe jetzt, was ich von den angeblichen Beschwerden zu halten habe, die so lärmend erhoben werben. Jetzt weiß ich, daß das Ganze weiter nichts ist als das Werk einiger Menschen, die ihre Sonderinteressen für das allgemeine Bedürfnis ausgeben. Das ist ein schändliches, ein ehrloses Betragen.
Der Erfolg zeigte, daß wenn schon ein gewöhnlicher Tourist die Denkweise der Bevölkerung eines Landes ferner kennenlernt und leicht durch zufällige Äußerlichkeiten zu falschen Urteilen verleitet wird, ein gekrönter Tourist dabei noch leichter irrt. Seine Irrtümer können aber in bewegten Zeiten sehr folgenschwer werden. Wilhelms Brandmarkung der belgischen Opposition als ehrlos sollte ihn bald teuer genug zu stehen kommen.
Wie einst die holländischen Schiffer den Namen der Geusen, mit dem man sie beschimpfen wollte, zu einem Ehrennamen für sich gemacht hatten, so nannten sich die Belgier Ehrlose. Man prägte Denkmünzen der Ehrlosen, die an einem Band getragen wurden und auf der einen Seite die Verfassungsurkunde, auf der anderen Seite das niederländische Pfeilbündel und die Namen berühmter Redner und Schriftsteller mit der Umschrift: Treu bis zur Ehrlosigkeit! darstellten. Die Regierung antwortete mit einem strengen Preßgesetz, das sie den Abgeordneten am 11. Dezember 1829 vorlegte. (Conscience, Geschichte von Belgien)
Ein verschärftes Preßgesetz, das war der erste Erfolg der Königsreise. Immer härter wurde die Verfolgung der belgischen Opposition. Sie wurde nicht besänftigt dadurch, daß die Regierung zur Unterdrückung auch noch die Korruption gesellte. Um die industriellen Kreise Belgiens zu gewinnen, hatte sie zur „Unterstützung der nationalen Industrie“ einen Jahresfonds von 1.300.000 Gulden ausgesetzt. Aber die Unterstützung der nationalen Industrie entpuppte sich als Unterstützung von Industrierittern, deren Nationalität Nebensache war, wenn sie nur dem König dienten.
Das Regierungsorgan in Brüssel, der National, wurde von einem Italiener Libri-Bagnano redigiert, der in Frankreich schon wegen Fälschung auf die Galeeren gekommen war. Er stand im Vorkampf gegen die Belgier. Sein Wort aus dem National: „Man muß den Belgiern einen Maulkorb anlegen wie Hunden“ machte die Runde durch ganz Belgien. Nun, zur Zeit der Beratung des verschärften Preßgesetzes, wurde es bekannt, daß von 1827 bis 1829 drei königliche Beschlüsse diesem sauberen Patron 85.000 Gulden aus dem Fonds „zur Unterstützung der nationalen Industrie“ zugewiesen hatten.
Das Maß war voll, es fehlte nur ein Tropfen, es zum Überlaufen zu bringen. In diese Stimmung fiel die Julirevolution in Frankreich. Einen Monat später war ganz Belgien in Flammen.
Die belgische Bourgeoisie erwies sich da als schwankend, ja doppelzüngig. Sie wollte die Unabhängigkeit, fürchtete aber den Sieg der Revolutionäre. In den entscheidenden Kämpfen jener Tage hielt sich die Bourgeoisie abseits. Es war das Proletariat, das seine Haut zu Markte trug und den Sieg errang. So wurden in den entscheidenden Straßenschlachten in Brüssel vom 21. bis 27. September 1830 auf Seite des Volkes nach einer Zählung Leon Defuisseaux’ 456 Mann getötet darunter nur 17 Bourgeois, 1.226 verwundet, davon 41 Bourgeois. (Camille Huysmans, La Révolution de 1830 et le Mouvement Politique, Gent 1905, S. 29)
Das Proletariat hatte die Schlacht gewonnen. Der Sieger war die Bourgeoisie. Am 4. Oktober dekretierte die provisorische Regierung in Brüssel die Unabhängigkeit Belgiens. Der darauf einberufene Kongreß wurde nach einem hohen Zensus (je nach der Gegend von 13 bis 150 Gulden schwankend) von nur 44.000 Wählern gewählt. Er beschloß mit 174 Stimmen gegen 13 Republikaner, Belgien solle eine parlamentarische Monarchie sein.
Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2019