Karl Kautsky

Die Befreiung der Nationen


1. Die Selbstbestimmung der Nationen


Die Sozialdemokratie ist eine internationale und demokratische Partei.

Man sollte annehmen, daß sich das von selbst versteht, nachdem sie über ein halbes Jahrhundert lang in diesem Sinne gewirkt hat. Und doch ist es notwendig geworden, dies ausdrücklich festzustellen, da im Laufe dieses Krieges im Schoße der Sozialdemokratie selbst Stimmen laut wurden, die die Forderung der Selbstbestimmung der Völker für eine hohle Flause erklärten. Was ist aber der Kampf um die Demokratie anderes als der Kampf um die Selbstbestimmung des Volkes, und wie ist eine internationale Demokratie anders möglich als dadurch, daß die Selbstbestimmung nicht nur für das Volk, dem man angehört, sondern für alle Völker in gleichem Maße gefordert wird?

Von radikaler Seite wird gegen die Selbstbestimmung der Völker eingewendet, daß sie innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise unerreichbar sei, nur in einer sozialistischen Gesellschaft einen Sinn hätte. Aber in Wirklichkeit liegt die Sache vielmehr so, daß die Forderung der Selbstbestimmung in einer sozialistischen Gesellschaft überflüssig, weil schon erfüllt wäre. Der proletarische Sozialismus ist von vornherein demokratischer Sozialismus, die Demokratie die Grundlage, auf der er aufzubauen ist. In einer sozialistischen Gesellschaft zu verlangen, die Grundlage solle erst geschaffen werden, auf der sie steht, wäre abgeschmackt.

Dagegen muß die Demokratie, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise gerade um so mehr gefordert und der Kampf darum um so energischer geführt werden, je weniger wirkliche Demokratie in ihr noch durchgesetzt ist. Der Kampf des Proletariats um die Demokratie ist gleichbedeutend mit seinem Kampf um die Staatsgewalt, um die politische Macht. Den Kampf um das Selbstbestimmungsrecht der Völker innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise für aussichtslos erklären, heißt seinen Kampf um die politische Macht für aussichtslos erklären, heißt auf die Gewinnung der Staatsmacht als Hebel zur Umwälzung des Kapitalismus verzichten, heißt sich in dem Ringen nach seiner Überwindung auf rein ökonomische, unpolitische Mittel beschränken wollen.

Diese Denkweise hat bisher den Anarchismus von der Sozialdemokratie geschieden. Wer von radikaler Seite aus die Forderung der Selbstbestimmung der Völker ablehnt, begibt sich damit, wenn auch vielleicht unbewußt oder wider Willen, auf den Boden des Anarchismus. Mit dem brauchen wir uns hier nicht auseinanderzusetzen. Was über ihn zu sagen ist, findet man zur Genüge in unserer früheren Parteiliteratur. Neue Gedankengänge auf diesem Gebiet sind nicht zutage getreten.

Auf der anderen Seite sind es die Imperialisten unter den Sozialdemokraten, die die Forderung der Selbstbestimmung der Völker ablehnen. Einmal deswegen, weil es ein Naturrecht, also auch eines der Selbstbestimmung der Völker, nach marxistischer Auffassung nicht gebe. Das ist richtig, trifft jedoch nur eine etwaige naturrechtliche Begründung jenes Rechtes, nicht die Forderung selbst. Diese ergibt für den marxistischen Standpunkt sich aus den Lebens- und Kampfesbedingungen des Proletariats. Es hat von keiner Klasse Hilfe zu erwarten, es muß sich selbst befreien. Seine Kraft beruht in seiner Masse. Nur dort kann es siegen, wo es die Masse des Volkes darstellt, wo die Masse des Volkes seinen Klassenkampf kämpft, wo Staatsverfassung oder politische Situation die Masse des Volkes zum entscheidenden Faktor im Staate machen. Darum muß jeder, der die Befreiung des Proletariats fördern will, die Demokratie, das Recht der Selbstbestimmung des Volkes anstreben. Wohl bedeutet der Besitz demokratischer Rechte noch nicht die Befreiung des Proletariats – diese erheischt noch besondere soziale Voraussetzungen. Aber die Befreiung des Proletariats ist unmöglich ohne den Besitz oder die Eroberung politischer Rechte. Je größer diese Rechte, je ausgedehnter das Recht auf Selbstbestimmung, desto leichter und aussichtsreicher unter sonst gleichen Bedingungen der proletarische Klassenkampf.

Das galt bisher in der Sozialdemokratie als etwas Selbstverständliches. Auch die imperialistischen Sozialdemokraten leugnen es nicht für ihre Nation. Aber sie leugnen die allgemeine Anwendung des Grundsatzes auf alle Nationen. Sie behaupten, man müsse einen Unterschied zwischen den Nationen machen. Die „großen Kulturnationen“ hätten ein Recht auf „eine gewisse zwangsweise Einverleibung oder Aussaugung der kleinen, ‚verkrüppelten‘ Natiönchen“. [1]

Dem steht jedoch entgegen der internationale Charakter der Sozialdemokratie, der ebenso wie ihr demokratischer Charakter auf den Lebens- und Kampfesbedingungen des Proletariats beruht. Die Proletarier der verschiedenen Staaten und Nationen haben keine voneinander verschiedenen Interessen, sie haben schon gar nicht gegensätzliche Interessen. Sie können ihren Befreiungskampf nur führen in engster Gemeinschaft. Für sie ist die Internationalität nicht ein schöner Traum, sondern ein dringendes Bedürfnis.

Die Internationalität bedeutet aber, daß ich anderen Nationen die gleichen Rechte zubillige, die ich für die eigene verlange. Dieselbe Rechtsgleichheit, die von der Demokratie für die einzelnen Individuen innerhalb eines Volkes verlangt wird, muß für die einzelnen Völker innerhalb der Völkergemeinschaft die Konsequenz der Internationalität werden. Eine Unterscheidung der Völker in höher berechtigte große und minder berechtigte kleine, in solche von größerer oder geringerer „Kulturfähigkeit“, in Herren- und Dienernationen bildet das geistige Rüstzeug der modernen Eroberungs- und Kolonialpolitiker, der geschworenen Feinde des eigenen wie jedes fremden Proletariats, sie ist unvereinbar mit internationalem Denken.

Cunow beruft sich allerdings auf einige Artikel der Neuen Rheinischen Zeitung aus dem Jahre 1849, die er Marx zuschreibt. Ich vermute, daß sie eher von Engels stammen, was aber für unsere Zwecke hier keinen Unterschied macht. Jene Artikel wendeten sich gegen die Bestrebungen der österreichischen Slawen (ausgenommen die Polen) nach nationaler Selbständigkeit. Diese Slawen, heißt es dort, gehörten zu den „Völkerabfällen“, die „bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung und Entnationalisierung die fanatischen Träger der Konterrevolution bleiben“.

Gegen Bakunin, der zugunsten der Slawen den „souveränen Willen der Völker“ anrief und die „Völkerverbrüderung“ predigte, führte einer jener Artikel das Beispiel der Vereinigten Staaten an, einer Republik, die gegen eine andere Republik, Mexiko, einen Eroberungskrieg geführt hatte. Hüben wie drüben gab’s eine Demokratie, sei das Volk souverän gewesen, und doch kam’s zum Eroberungskrieg. Und wir hätten diesen Krieg mit Freuden begrüßen müssen, denn er wurde „einzig und allein im Interesse der Zivilisation geführt. Dann höhnt der Artikel:

Und endlich, welches „Verbrechen“, welche „fluchwürdige Politik“, daß die Deutschen und Magyaren zu der Zeit, als überhaupt in Europa die großen Monarchien eine „historische Notwendigkeit“ wurden, alle diese kleinen, verkrüppelten, ohnmächtigen Natiönchen zu Einem großen Reich zusammenschlugen und sie dadurch befähigten, an einer geschichtlichen Entwicklung teilzunehmen, der sie, sich überlassen, gänzlich fremd geblieben wären.

Besagten diese Sätze wirklich das, was Cunow aus ihnen herausliest, sie müßten das Herz eines jeden Annexionisten und Eroberungspolitikers lachen machen.

Beachten wir zunächst das Datum der Artikel: 1849. Nun ist es bekannt, daß die Vertiefung und Reifung des historischen Materialismus und seiner Anwendung gerade in dem Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Revolution von 1848 ihre wichtigsten Fortschritte aufzuweisen hatte. In der Frage des Krieges wie in so mancher anderen nahmen Marx und Engels im Zeitalter der Internationale und des Kapital eine ganz andere Haltung ein als im Zeitalter des Kommunistischen Manifests. Wo aber Unterschiede zwischen dem früheren und dem späteren Standpunkt zu finden sind, hat der letztere für uns mehr Gewicht zu haben als der erstere.

Die Verurteilung des Eroberungskriegs durch Marx in den Adresse der Internationale über den Deutsch-Französischen Krieg ist für uns von größerer Bedeutung als seine bedingte Anerkennung eines solchen Krieges aus dem Jahre 1849.

Dabei besagen aber die von Cunow zitierten Sätze nicht einmal alles das, was dieser aus ihnen herausliest. Was Engels (oder Marx) über die Politik der Deutschen und Magyaren „zu der Zeit“ sagt, „als überhaupt in Europa die großen Monarchien eine historische Notwendigkeit wurden“, bezieht sich offenbar auf die Vergangenheit, nicht auf unsere Politik in der Gegenwart, sonst könnte man mit gleichem Recht Marx und Engels nicht nur als Verfechter nationaler Vergewaltigung, sondern auch als Verfechter dynastischer Politik hinstellen, als Verfechter der Größe und gewaltsamen Ausdehnung der Monarchien, die eine „historische Notwendigkeit“ nicht nur gewesen seien, sondern noch fortführen zu sein.

Soweit aber Marx und Engels 1849 wirklich für das Recht der Eroberung unter gewissen Umständen plädierten, waren sie nicht sehr glücklich mit den Beweisen, auf die sie sich beriefen.

In Texas konnte man von einem ausgesprochenen Volkswillen kaum sprechen. Dies Land, das größer ist als Deutschland, zählte zur Zeit, als es sich von Mexiko losriß, in den dreißiger Jahren, ganze 40.000 Einwohner, darunter der energischste Teil Einwanderer aus den Vereinigten Staaten. Diese Einwanderer waren es, die die Fahne der Empörung gegen Mexiko aufhißten und Texas zu einer selbständigen Republik machten, die sich nach zehnjährigem Bestand 1846 den Vereinigten Staaten anschloß. Mexiko suchte dies in einem Kriege zu verhindern, in dem es geschlagen wurde. Man sieht, diese „Eroberung“ ist sehr sonderbarer und vieldeutiger Natur.

Auf keinen Fall aber geschah sie „einzig und allein im Interesse der Zivilisation“. Die Einwanderer aus den Vereinigten Staaten waren in der Mehrzahl Besitzer schwarzer Sklaven, Pflanzer, die nach neuem und billigem Boden suchten und sich gegen die mexikanische Herrschaft namentlich deshalb empörten, weil in Mexiko die Kaufsklaverei aufgehoben war. Durch die Annexion von Texas gewannen die Sklavenhalter der amerikanischen Union einen neuen Sklavenstaat, der im Bürgerkrieg auf Seite des Südens stand.

Nicht minder unglücklich wie die Berufung auf Amerika war die Bezeichnung der Slawen Österreichs als „Völkerabfälle“, die „gänzlicher Vertilgung oder Entnationalisierung“ entgegengingen und bis dahin notwendigerweise „fanatische Träger der Konterrevolution“ seien. Freilich, im Jahre 1849 mochte es so scheinen, aber die ganze seitherige Entwicklung hat auf das offenkundigste gezeigt, wie verfehlt diese Auffassung war. Kann es etwas Lächerlicheres geben, als sich gerade auf sie zu berufen? Es bezeugt bloß ein völliges Fehlen anderen Beweismaterials, wenn Cunow heute noch wagt, die Lebensunfähigkeit der österreichischen Slawen als Argument ins Feld zu führen. Welchen Grad politischen Analphabetentums traut Cunow seinen Lesern zu?

Nicht einmal das ist richtig, daß die Slawen Österreichs beständig konterrevolutionär, die Deutschen, Magyaren, Polen beständig revolutionär waren. Es gehörte zu den Maximen österreichischer Regierungskunst, die verschiedenen Nationen gegeneinander auszuspielen und dadurch die Regierung von ihnen allen unabhängig zu machen. Dabei wurden einmal die einen, ein andermal die anderen Nationen begünstigt. Die Nichtbegünstigten gebärdeten sich stets revolutionär, die Begünstigten konterrevolutionär. Jede der großen Nationen Österreichs schwankte im Laufe des letzten Jahrhunderts, oft recht unvermittelt, zwischen Hochverrat und Byzantinismus hin und her; den Führern der großen Nationen Österreichs winkte ebenso der Galgen wie der Ministersessel. Das galt für Magyaren, Polen, Deutsche ebenso wie für Tschechen, Kroaten, Ruthenen. Bereits 1848 waren Andeutungen davon zu erkennen. Die Tschechen waren keineswegs von Anfang an konterrevolutionär. Die erste österreichische Rebellion, die Windischgrätz niederkartätschte, war die der Tschechen in Prag. Und die Wiener wieder waren selbst in den ersten Tagen ihrer neugewonnenen Freiheit so wenig eindeutig revolutionär, daß sie zahlreiche begeisterte Freiwillige für die Armee Radetzkys lieferten, die bestimmt war, die italienische Revolution niederzuschlagen.

Die österreichische Revolution von 1848 scheiterte ebensosehr an dem Streben der Deutschen nach der Oberhoheit über Tschechen und Italiener und der Ungarn nach der Beherrschung der Kroaten, wie an der daraus entspringenden konterrevolutionären Haltung der Slawen.

Will man sich schon auf die Lehren der Revolution von 1849 stützen, so beweisen sie nur, wie sehr jede moderne revolutionäre Bewegung sich selbst gefährdet, die den internationalen Standpunkt der Selbstbestimmung der Nationen verläßt.

Indes selbst wenn Marx-Engels 1849 die historische Zukunft der österreichischen Slawen ganz richtig eingeschätzt hätten, bewiese das nicht das mindeste gegen die Forderung der Selbstbestimmung der Nationen, die heute im Kriege erhoben wird. Es fiel Marx und Engels nicht ein, die Oberhoheit einer Nation über die andere und den Krieg als Mittel zur Durchsetzung dieser Oberhoheit zu proklamieren. Was sie proklamierten, das war die Oberhoheit der europäischen Revolution über die einzelnen Nationen. Sie lehnten den Drang nach Selbstbestimmung einer einzelnen Nation dort ab, wo er in Gegensatz geriet zu der allgemeinen Revolution und diese gefährdete. Damit setzten sie sich nicht in Widerspruch zu ihrem internationalen Standpunkt, das war vielmehr seine notwendige Konsequenz.

Gerade weil die Völker und vor allem ihre arbeitenden Klassen innerhalb der modernen Produktionsweise in ihrem Gedeihen aufs engste voneinander abhängen, sind sie alle in gleichem Maße am gesellschaftlichen Fortschritt und der Hinwegräumung seiner Hindernisse interessiert. Unter dem Scheitern der Revolution von 1849 litten alle Völker Österreichs in gleichem Maße, diejenigen, die als Konterrevolutionäre dies Scheitern herbeigeführt, nicht minder als jene, die sich revolutionär betätigt hatten. Durch den Sieg der Revolution wären sie alle gefördert worden. Die Freiheit hätte freilich nicht den nationalen Frieden gebracht, sondern die nationalen Kämpfe erst recht entfesselt, wie sie ja auch die Klassenkämpfe entfesselte, aber der geistige und wirtschaftliche Aufschwung jeder der Nationen wäre dabei gefördert worden. Den Beweis dafür liefert die relativ liberale Ära Österreichs, die der Niederlage von 1866 folgte. Sie brachte wohl zunächst die Oberhoheit der Deutschen und Magyaren, machte 0ber auch den Aufschwung der österreichischen Slawen unwiderstehlich.

Die Unterwerfung der Bedürfnisse der einzelnen Nation unter die Bedürfnisse der Gesamtheit der modernen Gesellschaft haben Marx und Engels später nicht nur in bezug auf die europäische Revolution, sondern in jeder Beziehung gefordert. Durch nichts wird die Gesellschaft mehr gefährdet und gelähmt als durch einen Krieg, namentlich einen Weltkrieg. Daher hat sich Engels zu wiederholten Malen dagegen gewendet, daß zur Durchsetzung der Selbstbestimmung einer Nation oder eines Nationsteils ein Weltkrieg entzündet werde. In diesem Sinne äußerte sich zum Beispiel Engels 1882 anläßlich des Aufstandes in Dalmatien (Kriwoschie) in einem Brief an Bernstein:

Wir haben an der Befreiung des westeuropäischen Proletariats mitzuarbeiten und diesem Zweck alles andere unterzuordnen. Und wären die Balkanstaaten usw. noch so interessant, sobald ihr Befreiungsdrang mit den Interessen des Proletariats kollidiert, können sie mir gestohlen werden. Die Elsässer sind auch unterdrückt ... Wenn sie aber am Vorabend einer sichtbar heranziehenden Revolution einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland provozieren, diese beiden Völker wieder verhetzen und die Revolution dadurch vertagen wollen, so sage ich: Halt da! Ihr könnt ebensoviel Geduld haben wie das europäische Proletariat. Wenn das sich befreit, seid ihr selbst frei, bis dahin aber dulden wir nicht, daß ihr dem kämpfenden Proletariat in die Parade fahrt.

Hier wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker allerdings den Bedürfnissen der allgemeinen sozialen Entwicklung untergeordnet, deren stärkste Triebkraft der proletarische Klassenkampf bildet. Es wird aber damit nicht abgelehnt, sondern seine allseitige Durchsetzung vielmehr als eine notwendige Folge unseres Sieges anerkannt. Abgelehnt wird nur eine besondere Methode, das Selbstbestimmungsrecht zur Geltung zu bringen. Engels verwirft den Weltkrieg als Mittel zu diesem Zwecke, und er darf das tun, ohne den Zweck aufzugeben, weil er ein besseres und wirksameres Mittel anstrebt: die proletarische Revolution. Revolution und Krieg sind die zwei Methoden, die Selbstbestimmung der Völker durchzusetzen. Solange die Bourgeoisie revolutionär War, an die Revolution glaubte, die Revolution anstrebte, sah sie auch bloß in der Revolution, im Kampfe der Völker gegen die Regierungen das Mittel, die Selbstbestimmung der Völker durchzusetzen, sowohl in der Weise, daß sie freiheitliche Verfassungen errangen, wie in der Weise, daß sie dort, wo eine Fremdherrschaft bestand, diese abschüttelten. Die demokratischen Parteien der verschiedenen Länder unterstützten einander dabei, sie bildeten die Anfänge einer Internationale. Ihnen gegenüber aber taten sich auch die Fürsten international zusammen. In dem Zeitalter von 1815 bis 1848 gab es keinen europäischen Krieg.

Nach 1848 begann die europäische Bourgeoisie an ihrer eigenen revolutionären Kraft zu zweifeln, sie begann die Revolution als eine proletarische Kraft zu fürchten. Soweit sie an ihrem Streben nach Selbstbestimmung der Völker noch festhielt, reduzierte sie es immer mehr auf den Drang nach Selbstbestimmung des eigenen Volkes, ohne Rücksicht auf andere, und sie suchte ihr Ziel nicht mehr zu erreichen durch Kampf gegen die Regierungen, sondern durch Abmachungen mit einzelnen Regierungen, die sie gegen andere unterstützte. Napoleon III., Viktor Emanuel, Bismarck wurden nun ihre Schrittmacher. Dann setzten sie den Krieg der Dynastien an Stelle der Revolutionen der Völker als Mittel, deren Selbstbestimmungsrecht zu erreichen. War das Menschenalter 1815 bis 1848 eine Zeit allgemeinen europäischen Friedens zwischen den Regierungen und immer wiederholter revolutionärer Erhebungen, so wurde das darauffolgende Menschenalter eine Zeit europäischer Kriege, bei denen revolutionäre Erhebungen höchstens als Begleiterscheinungen vorkamen.

Die neue Methode arbeitete höchst unvollkommen. Sie hinterließ ein unerlöstes Italien, rührte nicht an die polnische Frage, warf die Deutschösterreicher aus Deutschland heraus, vergrößerte das Deutsche Reich unter Mißachtung der Selbstbestimmung der Nationen durch Gebiete, deren Angliederung nationales Sehnen nicht befriedigte, sondern verletzte, internationale Konfliktstoffe nicht aus dem Wege räumte, sondern neu schuf. Und sie hinderte, daß auf dem Balkan ein selbständiges, von Rußland wie Österreich gleich unabhängiges großes Staatswesen erstand.

Die Parteien des aufstrebenden Proletariats konnten diese Methode zum Durchsetzen der Selbstbestimmung der Völker, nicht akzeptieren. Sie lehnten die Kriege bürgerlicher Regierungen als schwerstes Hindernis gesellschaftlicher Fortentwicklung ab, es fiel ihnen nicht ein, irgendeine der bestehenden Regierungen mit der Mission der Befreiung der Völker betrauen zu wollen. Wir haben keine von ihnen aufgefordert, zu diesem Zweck einen Krieg zu entzünden. Es wäre jedoch sehr unlogisch, wenn wir nach einmal ausgebrochenem Kriege anders verführen und eine der kriegführenden Regierungen aufforderten, ihn bis zur Befreiung einer noch nicht befreiten Nation fortzusetzen. Das hieße in einem Weltkrieg selbst dann, wenn die Befreiung einwandfrei gelänge, das Sonderinteresse jener ~Ration über das Gesamtinteresse Europas setzen, das des Friedens dringend bedarf. Wir haben aber auch nicht die geringste Garantie dafür, daß eine siegreiche bürgerlich~ Regierung das Selbstbestimmungsrecht der Völker achtet und ihre Macht als Sieger nicht dazu mißbraucht, über die Befreiung des unterdrückten Volkes hinauszugehen und durch Eroberung widerstrebender Gebiete neue Verletzungen der Selbstbestimmung der Völker und neue nationale Gegensätze hervorzurufen.

Müssen wir aber auch jeder Entfesselung wie jeder Fortsetzung eines Krieges bürgerlicher Regierungen für angebliche Zwecke der Völkerbefreiung entschieden widerstreben, so besagt das keineswegs, daß dort, wo es uns nicht gelingt, den Ausbruch des Krieges oder nach seinem Ausbruch seine Fortführung zu verhindern, die Art seines Ausgangs uns gleichgültig sein könne. Wir lehnen unter den heutigen Verhältnissen den Krieg als Mittel zur Herbeiführung von Grenzveränderungen ab, wo er aber trotzdem solche herbeiführt, haben wir zu unterscheiden zwischen solchen, mit denen wir uns befreunden können, und solchen, die wir bekämpfen müssen. Und hier kommt der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker zu praktischer Anwendung. Wir internationale Sozialisten müssen jede Grenzveränderung ablehnen, die von der Bevölkerung des betreffenden Gebiets abgelehnt wird. Als Vertreter der Arbeiterklasse können wir dabei als Gebiet eines Volkes nur jenes betrachten, das von ihm bearbeitet wird. Das braucht keineswegs zusammenzufallen mit dem Gebiet, das es besitzt oder beherrscht. Für die Konservierung überkommener Besitz- und Herrschaftsverhältnisse setzt sich die internationale Sozialdemokratie nicht ein. Es entspricht nicht ihrem Geiste, wenn die von David verfaßten Leitsätze über die Kriegsziele, die Reichstagsfraktion und Parteiausschuß der deutschen Sozialdemokratie am 15. August 1915 akzeptierten, in dem ersten Absatz erklären:

Die Sicherung der politischen Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Deutschen Reiches heischt die Abweisung aller gegen seinen territorialen Machtbereich gerichteten Eroberungsziele der Gegner.

Die internationale Sozialdemokratie geht nicht von den Bedürfnissen der Reiche, sondern denen der Völker aus, und sie verlangt für jedes von ihnen die Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Gebiets, das es bewohnt und bearbeitet, nicht die seines „Machtbereichs“. Wir sind die Partei der Arbeiter und nicht die der Machthaber.

Nicht minder steht im Widerspruch zu dem Geiste der internationalen Sozialdemokratie die Fassung des dritten Absatzes jener Leitsätze, der sagt:

Im Interesse der Sicherheit Deutschlands und seiner wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit im Südosten weisen wir alle auf Schwächung und Zertrümmerung Österreich.Ungarns und der Türkei gerichteten Kriegsziele der Verbündeten zurück.

Hier ist wieder von der Selbstbestimmung und den Bedürfnissen der Völker Österreichs und der Türkei nicht die Rede. Nicht was diese Völker wollen und brauchen, wird hier beachtet, sondern nur, welchen Nutzen Deutschland aus ihnen ziehen kann. Sie werden in der Davidschen Resolution nur als Deutschlands Werkzeuge in Betracht gezogen. Das ist durch und durch undemokratisch und nationalistisch gedacht. Wenn dem international Denkenden jedes Volk gleich wertvoll ist, kümmert den Nationalisten nur das eigene Volk. Bei den anderen fragt er bloß, inwieweit sie dem eigenen Volke nützen oder schaden können.

Wäre Deutschland augenblicklich zufälligerweise mit Rußland verbündet, wie es vorher lange Jahre gewesen, dann würde nach Davidschen Grundsätzen die deutsche Sozialdemokratie „im Interesse der Sicherheit Deutschlands und seiner wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit im Osten“ alle „auf Schwächung und Zertrümmerung Rußlands gerichteten Kriegsziele“ zurückweisen.

Da aber Rußland auf der anderen Seite steht, verlangte David in dem fünften seiner Leitsätze (der dann allerdings nicht akzeptiert wurde):

Die Zusammenfassung der eroberten russisch-polnischen Gebiete zu einem selbständigen, mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündeten Staatswesen.

Die „Unversehrtheit des territorialen Machtbereichs“ ist also für David keine internationale Forderung, die er für alle Staaten erhebt, sondern nur eine für Deutschland und seine Verbündeten. Für Rußland fordert er eine sehr erhebliche Versehrung seines Machtbereichs. Was er für Elsaß-Lothringen ablehnt, fordert er für Polen. Aber nicht etwa im Namen der Selbstbestimmung des polnischen Volkes. Nur der von „Rußland eroberte“ Teil Polens soll „selbständig“ werden, dabei wird aber in einem Atem die Selbständigkeit sofort wieder aufgehoben, da dem „selbständigen“ polnischen Staat ein Bündnis mit Deutschland und Österreich vorgeschrieben, seine auswärtige Politik also von vornherein festgesetzt wird.

Das alles ist deutschnational, nicht international gedacht, und auch nicht demokratisch. Also auch nicht sozialdemokratisch.

Fußnote

1. H. Cunow, Parteizusammenbruch, Berlin 1915, Verlag Vorwärts, S.36.


Zuletzt aktualisiert am 26 September 2009