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Zuerst erschienen in Die Neue Zeit, 1912/13, Bd. 1, S. 436–446.
Abgedruckt in Peter Friedemann (Hrsgb.): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890–1917, Bd. 2, Frankfurt/M, 1978, S. 704–18.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
Im letzten Juli begann Genosse Pannekoek in der Neuen Zeit eine Polemik gegen einen ganz unpolemischen Artikel über Massenaktionen, den ich ein Jahr vorher veröffentlicht hatte. Meine Entgegnung beantwortete Pannekoek dann durch eine Artikelserie, die er in der Leipziger Volkszeitung und der Bremer Bürgerzeitung zum Abdruck brachte, da sie in der Neuen Zeit vor dem Parteitag nicht mehr hätte erscheinen können.
Ich fühle mich nicht verpflichtet, und es wäre mir auch schon rein physisch unmöglich, alle Angriffe zu erwidern, die außerhalb der Neuen Zeit gegen mich veröffentlicht werden. So schwieg ich auch auf die Entgegnung Pannekoeks, da sie mich bloß zu Wiederholungen und Erläuterungen veranlaßt hätte, keine neuen Gesichtspunkte entwickelte. Damit hielt ich die Affäre für erledigt.
Indes legt Genosse Pannekoek Wert darauf, mir auch noch in der Neuen Zeit zu erwidern. Dadurch zwingt er mich, ihm doch noch zu entgegnen, sehr wider meinen Willen, denn mir erscheint der Moment der Kriegsgefahr als der ungeeignetste zur Ausfechtung von Streitfragen. Ich werde trachten, möglichst kurz zu sein. Das darf ich um so eher, als auch die jüngste Pannekoeksche Entgegnung neue Gesichtspunkte nicht bietet.
Nur drei Punkte will ich erörtern, die Methode, die Organisation, die Eroberung der Staatsgewalt.
Zunächst die Methode.
Durch meine Untersuchung des Wesens der Aktionen unorganisierter Massen war ich in meiner Artikelserie 1911 zu dem Resultat gekommen, daß sie unberechenbar seien und keine sichere Grundlage für unsere politischen Berechnungen und Erwägungen böten. Daraufhin hatte Pannekoek erwidert, zu diesem Ergebnis hätte ich nur kommen können, weil meine Methode eine unmarxistische sei, weil ich mein „marxistisches Rüstzeug“ vergessen.
Ich fand diese Auffassung sehr komisch, aber Pannekoek verweist mich nochmals sehr ernsthaft auf die Bewegungen des Mondes, die durchaus nicht unberechenbar seien, und meint, so müßten sich mit Hilfe der Marxschen Methode auch die Bewegungen der Massen vorausberechnen lassen:
Wenn man eine Erscheinung untersucht und man kommt zu dem Ergebnis, daß sie bald so, bald anders stattfindet und völlig unberechenbar ist, so beweist das bloß, daß man die wirkliche Ursache, die sie beherrscht, nicht gefunden hat. (S. 275)
Pannekoek spricht hier immer nur von einer Ursache, die die Erscheinungen beherrscht, das ist kennzeichnend für die Art seiner Methode. Er übersieht den komplizierten Charakter der menschlichen Gesellschaft, der bewirkt, daß jede gesellschaftliche Erscheinung das Produkt zahlreicher Faktoren ist, von denen jeder seinerseits in beständigem Flusse begriffen ist.
Der Marxismus setzt uns instand, die Entwicklungsrichtungen der Gesellschaft mit einiger Genauigkeit zu erkennen; die Tendenzen bloßzulegen, die sich in ihr immer wieder durchsetzen. Aber mehr zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Zukunft vermag er nicht zu leisten, und man sollte meinen, diese Leistung schon sei eine ungeheure. Bereits in meinem Erfurter Programm erklärte ich, nachdem ich dies auseinandergesetzt:
Das Erkennen der Richtung des geschichtlichen Fortschritts hat seine Grenzen. Denn das Getriebe der menschlichen Gesellschaft ist ein ungemein verwickeltes, und für den schärfsten Denker ist es unmöglich, alle ihre Seiten so eingehend zu erforschen, alle Kräfte, die in ihr wirken, so genau zu bemessen, daß er mit Sicherheit voraussehen könnte, welche gesellschaftlichen Formen sich aus dem Zusammen- und Aufeinanderwirken dieser Kräfte ergeben werden ...
Was keiner kann, weder der mächtigste Monarch, noch der tiefste Denker, ist, die Richtung der Entwicklung nach seinem Willen bestimmen und die Formen, die sie annehmen wird, genau vorherzusagen. (10. Auflage, S. 139, 141)
Man sieht, wenn das „marxistische Rüstzeug“ die Gabe mit sich bringen soll, die Formen der kommenden Entwicklung, unserer Kämpfe und ihrer Resultate genau vorherzusagen, dann habe ich schon zur Zeit der Abfassung des „Erfurter Programms“ dies Rüstzeug nicht besessen. Merkwürdigerweise hat das bis heute niemand bemerkt. Mit dem obigen Satz hatte ich auch gar nichts Überraschendes gesagt, sondern nur ausgesprochen, was seit langem schon marxistische Praxis war. Wir Marxisten haben stets nur Richtungen der Entwicklung prophezeit, nie ein bestimmtes Verhalten der Volksmasse in bestimmten Situationen. Wir blieben uns stets dessen bewußt, daß immer noch das Unerwartete die größte Rolle in der Geschichte spielt und, wenn auch nicht die allgemeine Richtung, so doch die besonderen Formen des Geschehens in besonderen Momenten bestimmt.
Am meisten gilt das für die Aktionen unorganisierter Volksmassen, und gerade darin, in dem Unberechenbaren und Unerwarteten ihres Auftretens, liegt die Ursache der großen historischen Wirkungen, die sie zeitweise ausüben.
Alle geschichtliche Erfahrung bis in die jüngste Zeit bestätigt das. Ihr setzt Pannekoek das entgegen, was er das marxistische Rüstzeug nennt, nämlich die Erkenntnis, daß die große Masse heute überwiegend ein proletarisches Klasseninteresse hat. Damit erscheint ihm ihr Verhalten unter allen Umständen vorgezeichnet und berechenbar. Was aber dann, wenn das marxistische Rüstzeug noch in einer anderen Erkenntnis besteht als der heute nachgerade zu einem Gemeinplatz gewordenen, daß die Masse proletarische Interessen hat?
Für den Marxismus hängt die Art des Handelns einer bestimmten Klasse oder Schicht nicht nur von ihren materiellen Interessen ab, sondern von den materiellen Bedingungen, unter denen sie lebt. Diese bestimmen ihre materiellen Interessen, bestimmen aber auch die Art und Weise, wie sie sie erkennt, sich ihrer bewußt wird und sie zu verfechten trachtet; welche Forderungen sie stellt, wo sie ihre Feinde sucht, ob, wann, mit welcher Kraft, welchen Mitteln sie den Kampf gegen die Gegner aufnimmt. Alles das kann innerhalb der gleichen Klasse bei gleichen Interessen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Schichten die mannigfachsten und wechselndsten Formen annehmen. Von der Gestaltung und der Kombination aller dieser Faktoren ebenso wie von der Gestaltung der äußeren Verhältnisse, unter denen sie wirken, hängt es ab, ob und wann die unorganisierte Masse sich zu einer gemeinsamen Aktion zusammenfindet, welche Formen und welche Kraft diese erlangt.
Wird Pannekoek durch sein marxistisches Rüstzeug instandgesetzt, alle diese Faktoren für die deutsche oder sonst irgendeine unorganisierte Volksmasse und für einen gegebenen Zeitpunkt genau zu bestimmen und daraus jener Masse im voraus zu berechnen, dann ist ihm sicher zu gratulieren. Dann vermag er mehr als irgendeiner der Lebenden. Aber ich fürchte, sein ganzes marxistisches Rüstzeug besteht in diesem Punkt darin, daß ihm die Erkenntnis noch nicht aufgedämmert ist, es müßten zum mindesten alle die genannten Faktoren genau festgestellt sein, ehe man eine Aktion unorganisierter Massen vorherberechnen könne. Er wird nur deshalb so schnell fertig mit seiner Rechnung, weil er die unbekannten Größen ohne weiteres gleich Null setzt. Die Fixigkeit gewinnt dadurch bedeutend.
Aber ich bin altmodisch genug, auf die Richtigkeit größeren Wert zu legen.
Unser zweiter großer Differenzpunkt ist unsere Stellung zu den proletarischen Organisationen. Wohl sind wir beide der Überzeugung, daß eine der Bedingungen des Machtaufstiegs des Proletariats in der Erweiterung und Verstärkung seiner Organisationen liegt. Aber wir sind sehr verschiedener Anschauung über die Frage, wodurch sich diese Erweiterung und Verstärkung vollzieht. Das heißt, wir stimmen auch darin überein, daß wir beide annehmen, die proletarischen Machtorganisationen seien Kampfesorganisationen, die sich im Kampf bewähren, durch den Kampf wachsen und gedeihen. Aber Pannekoek versteht darunter den Kampf im allgemeinen, ich nur den erfolgreichen Kampf.
Er meint, der Geist, der die Organisation beherrsche, sei die Hauptsache, und der werde durch jeden Kampf angestachelt, ob er Sieg bringe oder Niederlage. Und dieser Geist treibe immer wieder zur Erneuerung der Organisation, wenn gegnerische Gewalt sie zerstöre. Das letztere bestreite ich durchaus nicht, aber ich meine, es gilt nur so lange, als das Proletariat in der Organisation das Mittel sieht, seine Kämpfe siegreich zu führen.
Ein kraftvolles Heer wird wohl durch eine einzelne Niederlage nicht entmutigt werden, und die Tüchtigkeit des Heeres, die Kunst des Feldherrn tritt in manchem Rückzug deutlicher zutage als in einem Sieg. Aber das gilt nur für Heere, die gewöhnt sind, zu siegen, und denen eine Reihe vorhergehender Siege vollstes Zutrauen zu ihren Führern eingeflößt hat. Und selbst solche Heere dürfen nicht allzu oft geschlagen werden, wenn nicht alle Wirkung der früheren Siege verlorengehen und eine allgemeine Deroute einreißen soll.
Pannekoek meint, mein Warnen vor den schlimmen Folgen einer Niederlage entstamme einer veralteten Denkweise. Es könnte am Platze gewesen sein in den Anfängen des Organisationslebens, nicht heute. Ich stecke eben mit meinen Anschauungen noch in den Kinderschuhen des Proletariats und vermöge mich nicht zu der höheren Einsicht der modernen Geister aufzuschwingen. Das klingt sehr großartig. Geht man aber vom Gebiet bloßer Hirnweberei, um mit Marx zu sprechen, auf das der Wirklichkeit, dann findet man das Gegenteil dessen, was Pannekoek behauptet. Daß man sich durch bloße Erbitterung zu Kämpfen hinreißen läßt, ohne zu erwägen, ob sie Erfolg versprechen oder nicht, und daß der bloße Kampf schon aufrüttelnd und befreiend wirkt, auch wenn er keinen Sieg bringt, ist nicht eine Erscheinung, die ein hochentwickeltes Organisationsleben anzeigt, sondern eine Erscheinung seiner Anfänge.
Pannekoek braucht zum Beispiel nur das Buch von Engels über die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) einzusehen, um dort über die Gewerkschaften den Passus zu finden:
Die Geschichte dieser Verbindungen ist eine lange Kette von Niederlagen der Arbeiter, unterbrochen durch einzelne Siege. (2. Auflage, S. 220)
Man wird fragen, weshalb denn die Arbeiter in solchen Fällen, wo doch die Nutzlosigkeit der Maßregel auf der Hand liegt, die Arbeit einstellen? Einfach „weil sie gegen die Herabsetzung des Lohnes und selbst gegen die Notwendigkeit dieser Herabsetzung protestieren müssen“, weil dieser tatsächliche Protest, „die Geldgier des Bourgeois in gewissen Schranken hält und die Opposition der Arbeiter gegen die gesellschaftliche und politische Allmacht der besitzenden Klasse lebendig erhält“.
Man sieht, was Pannekoek als neueste Taktik meinen veralteten Vorstellungen entgegensetzt, das ist die primitivste Form des gewerkschaftlichen Kampfes, dort am Platze, wo es erst gilt, den Arbeiter zum Bewußtsein seiner Menschenwürde zu erwecken, zur Opposition gegen die Allmacht der besitzenden Klassen, und wo seine Lage so schlecht ist, daß eine Niederlage ihm nichts rauben kann.
Sie gilt nicht für organisierte Arbeiter, die in langen Kämpfen Erfolge erzielt und Positionen erobert haben, die sie behaupten müssen; deren Klassenbewußtsein stark genug entwickelt ist und in steten politischen Kämpfen immer wieder aufs neue wach gehalten wird, so daß sie nicht notwendig haben, sich zu diesem Zweck in gewerkschaftliche Kämpfe unter Bedingungen einzulassen, wo, wie Engels sagt, „deren Nutzlosigkeit auf der Hand liegt“.
Die Pannekoeksche Auffassung ist die der gewerkschaftlichen Bewegung dort, wo sie schwach ist. Sie erinnert an die Theorie der „revolutionären Gymnastik“, mit der sich die französischen Syndikalisten über die Schwäche ihrer Anfänge zu trösten suchten. Sobald sie erstarken, hängen sie selbst diese Theorie an den Nagel. Pannekoek nimmt sie ihnen ab, um sie uns als feinste Blüte des fortgeschrittenen Marxismus zu präsentieren.
Es ist gar nicht daran zu denken, daß sie jemals in Deutschland Einfluß gewinnt und die deutschen Organisationen der Partei oder der Gewerkschaften dazu übergehen, freiwillig Kämpfe hervorzurufen, ohne vorher die Chancen des Erfolges zu prüfen – und nur um solche Kämpfe kann sich die Diskussion drehen. Über Kämpfe, die uns aufgezwungen werden, die nicht von uns abhängen, ist ebensosehr jede Diskussion überflüssig wie über Kämpfe, die Erfolg versprechen. Pannekoeks Theorie der Organisation ist für die deutschen Organisationen ganz ungefährlich, denn sie wird nie Einfluß auf sie gewinnen. Ich hätte es auch für überflüssig gehalten, gegen sie zu polemisieren, wenn er sie nicht im Namen des Marxismus vorgebracht hätte. Auch französische Syndikalisten lieben es, sich auf Marx zu berufen und als die einzig wahren Marxisten zu gebärden. Da erscheint es mir doch geboten, durch meinen Protest zu bezeugen, daß für Pannekoeks revolutionäre Gymnastik nicht der Marxismus verantwortlich zu machen ist.
Am weitesten entfernen sich wohl unsere Standpunkte voneinander in der Auffassung der Ziele des politischen Kampfes.
Wie unsere ganze Partei seit jeher, betrachte auch ich als dieses Ziel die Eroberung der Staatsgewalt. Pannekoek dagegen erklärte, wir hätten die Staatsgewalt gleichzeitig zu erobern und zu zerstören.
Ich traute meinen Augen nicht, als ich das las. Zerstörung der Staatsgewalt, das war bisher das Ziel der Anarchisten, das sie unserem Ziel der Eroberung der Staatsgewalt entgegensetzten. Pannekoek will beides. Und diese Vereinigung des Unvereinbaren erschien ihm so selbstverständlich, daß er in seinen Artikeln der Neuen Zeit, wo er zuerst jene Auffassung proklamierte, sie in einigen Zeilen andeutete ohne eingehendere Darstellung oder Begründung.
Hier hielt ich es am ehesten für möglich, daß sich Pannekoek bloß mißverständlich ausgedrückt hatte. Hier hoffte ich am ehesten, daß er meinen Hinweis auf den anarchistischen Charakter seiner Sätze damit beantworten werde, ihnen eine andere Deutung zu geben als jene, die sie auf den ersten Blick hervorriefen.
Zu meinem Erstaunen hält er an der Auffassung fest, unser politischer Kampf führe zur Zerstörung der Staatsgewalt. Er führte dies in den erwähnten Artikeln der Leipziger Volkszeitung und der Bremer Bürgerzeitung aus. Für jene unserer Leser, die die erwähnten Artikel nicht kennen, seien die kennzeichnenden Stellen hier wiedergegeben.
Pannekoek höhnt meine Kritik an seinem Hinweis auf die Zerstörung der Staatsgewalt in folgender Weise:
Denken wir uns, lieber Freund Kautsky, daß durch irgendeinen Umstand mit einem Zauberschlag die ganze Staatsgewalt verschwunden wäre. Den Untertanen ist die preußische Räson völlig ausgegangen, die Polizisten sind nützliche Bürger geworden ohne irgendwelche Autorität, in den Amtsstuben und Regierungsgebäuden wird nicht mehr regiert, auf die Landräte hört kein Mensch mehr, die Ministerien sind verödet und der Reichskanzler studiert ungestört seine Philosophie auf Hohenfinow. Aber trotzdem die Macht, die der Herrschaft des Proletariats über die Gesellschaft im Wege stand, nun beseitigt ist, ist es doch völlig außerstande, seine Welt der sozialistischen Freiheit aufzubauen. Gelähmt steht es da – aus dem Sozialismus kann nichts werden, denn es ist keine Staatsgewalt mehr da, um ihn durchzuführen! Fühlen Sie nicht und fühlt nicht jedermann die Widersinnigkeit dieses ganzen Gedankenganges? Es ist doch klar, daß es für ein Proletariat, das sich trotz allen hemmenden Widerstandes gegen die schlimmste Gewalt so mustergültige Organisationen aufzubauen wußte, ein leichtes ist, innerhalb zweimal vierundzwanzig Stunden einen fertigen Apparat zur Leitung und Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu schaffen.
Wir brauchen, meint Pannekoek weiter, die Zerstörung der Staatsgewalt gar nicht anzustreben, sie kommt von selbst aus unserem Kampf um demokratische Rechte, vor allem das gleiche Wahlrecht. Dieser Kampf kann nur dadurch gelingen, daß Massenaktionen die Staatsgewalt lahmlegen.
Die Zerstörung der Machtmittel des Staates ist also kein vorausgesetztes Ziel, sondern ein unvermeidliches Resultat des Kampfes. Damit fällt alles Gerede, ich wolle die Staatsgewalt zerstören und wolle also etwas anderes als andere Sozialdemokraten, in sich zusammen. Es handelt sich nicht um das, was ich will, sondern um das, was sein wird. Während die Organisation der Staatsgewalt zerfällt und ihre Macht dahinschwindet, wächst zugleich schon die neue Organisation der Gesellschaft, die selbstgeschaffene demokratische Kampforganisation des Proletariats als immer größere gesellschaftliche Macht empor und übernimmt die Funktionen, die zur allgemeinen Regelung der Produktion notwendig sind.
Das ist der genaue Gedankengang der Syndikalisten. Der Massenstreik ist die Waffe, durch die das Proletariat vorwärts kommt. Je mehr seine gewerkschaftlichen Organisationen wachsen, desto stärker seine Massenstreiks, desto mehr lähmen und zerstören sie die Staatsgewalt, desto mehr bauen sie die neue Organisation der Gesellschaft auf. Das kann man in jeder syndikalistischen Kundgebung lesen.
Pannekoek bildet sich freilich ein, seine Auffassung sei nicht anarchosyndikalistisch, sondern marxistisch. Er beruft sich auf Engels, der in seinem Vorwort zum Bürgerkrieg in Frankreich schrieb:
Daraus folgt dann eine abergläubische Verehrung des Staates und alles dessen, was mit dem Staat zusammenhängt, und die sich um so leichter einstellt, als man sich von Kindesbeinen daran gewöhnt hat, sich einzubilden, die der ganzen Gesellschaft gemeinsamen Geschäfte und Interessen könnten nicht anders besorgt werden, als wie sie bisher besorgt worden sind, nämlich durch den Staat und seine wohlbestallten Behörden ... In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere. (S. 13)
Ich hatte eine Deutung derartiger Stellen zugunsten der Pannekoekschen Auffassung vorausgesehen und davor gewarnt:
Nicht darum handelt es sich bei unserer jetzigen Erörterung, wie sich der Verwaltungsapparat des „Zukunftsstaats“ gestalten wird, sondern darum, ob unser politischer Kampf die Staatsgewalt auflöst, ehe wir sie erobert haben. (Neue Zeit, XXX, 2, S. 725)
Pannekoek begreift diese Warnung so wenig, daß sie ihn nur belustigt. Er meint:
Da wird Kautsky selbst stutzig und fügt hinzu, daß er nur über die Gestaltung des Gegenwartsstaates spricht. Ja, aber wir reden doch über die Eroberung der Herrschaft. Was geht uns da die Gestaltung des Gegenwartsstaats an?
Man sollte meinen, daß sie uns alles angeht. Wir wollen doch im Gegenwartsstaat die politische Herrschaft erobern. Für den Zukunftsstaat würde diese Frage sinnlos, sie hieße da die Eroberung der politischen Herrschaft, nachdem wir die politische Herrschaft erobert haben.
Der Einwand Pannekoeks beweist nur so viel, daß ich mehr vorausgesetzt habe, als wirklich vorhanden war. Ich nahm an, er kenne den Standpunkt von Marx und Engels in der Frage so genau, daß eine Andeutung genüge.
Ich sehe jetzt, daß ich ausführlicher werden muß.
In ihrer Stellung zum Staate hatten Marx und Engels nach zwei Fronten zu kämpfen, wie so oft.
Auf der einen Seite waren die Staatssozialisten, die im Staate eine Institution sahen, die über den Klassen stehe, entweder wirklich oder doch der Idee nach.
So sagte zum Beispiel Lassalle in seinem Arbeiterprogramm:
Der Staat ist es, welcher die Funktion hat, diese Entwicklung der Freiheit, diese Entwicklung des Menschengeschlechtes zur Freiheit zu vollbringen.
Der Staat ist diese Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen, eine Einheit, welche die Kräfte aller einzelnen, die in diese Vereinigung eingeschlossen sind, millionenfach vermehrt, die Kräfte, die ihnen allen als einzelnen zu Gebote stehen würden, millionenfach vervielfältigt...
Der Zweck des Staates ist somit der, das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen, mit anderen Worten, die menschliche Bestimmung, das heißt die Kultur, deren das Menschengeschlecht fähig ist, zum wirklichen Dasein zu gestalten; er ist die Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechtes zur Freihei (Ausgabe Bernstein, II, S. 46)
Demgegenüber erkannten Marx und Engels den Staat als Organ der Klassenherrschaft. Da das Proletariat durch seine Klassenlage gezwungen wird, die Klassenunterschiede aufzuheben, sobald es die Gesellschaft beherrscht, so hebt es damit auch die Grundlage des Staates auf, verwandelt die Funktionen der Staatsgewalt aus einer Regierung von Menschen über Menschen immer mehr in die „einer Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen“. (Engels, Anti-Dühring, 3. Auflage, S. 302)
Ausführungen, die Engels an verschiedenen Stellen in diesem Sinne machte, sind schon oft von Anarchisten für sich ausgenützt worden: merkwürdigerweise ahmt sie jetzt Pannekoek auch darin nach.
Aber wenn ein Denker nach zwei Fronten gleichzeitig kämpft, geben Argumente, die gegen die eine gerichtet sind, für sich allein ein sehr einseitiges, ja falsches Bild seiner Anschauung. Man muß sie zusammenhalten mit den gegen die andere Seite gerichteten Anschauungen.
Da haben Marx und Engels nie ein Hehl gemacht aus der Bedeutung, die sie im Gegensatz zum Anarchismus der Staatsgewalt für den revolutionären Umwälzungsprozeß aus dem Kapitalismus in den Sozialismus zuerkennen. Die Geschichte hatte ihnen gezeigt, daß die Staatsgewalt nicht bloß ein Mittel ist, die ökonomische Herrschaft einer Klasse aufrechtzuhalten, daß sie auch wiederholt ein Mittel wurde, die ökonomische Herrschaft einer Klasse zu brechen, sie zu expropriieren. Aus der großen französischen Revolution hatten sie ersehen, daß die revolutionären Klassen wohl zeitweise die ihnen gegenüberstehende Staatsgewalt lähmten, daß sie aber diesen Vorteil nicht dazu benützten, die Staatsgewalt überhaupt aufzulösen, sondern dazu, die staatlichen Machtmittel so zu gestalten, daß sie aus Werkzeugen der alten Klassen zu Werkzeugen der neuen wurden. So sahen sie in der Staatsgewalt auch das Mittel, das berufen sei, die Klassenherrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie zu begründen, die „Expropriation der Expropriateure“ durch Einführung gesellschaftlicher Produktion durchzusetzen, sobald das Proletariat die staatlichen Machtmittel erobert.
Den Anarchisten aber, die sie beschuldigen, daß sie damit eine neue Klassenherrschaft aufbauen wollten, hielten sie entgegen, daß das Proletariat als unterste der Klassen im Staate seine Beherrschung der Staatsgewalt nur dazu benützen könne, die ökonomischen Klassenunterschiede und damit jede Klassenherrschaft aufzuheben; daß auch das Proletariat trachten müsse, die Staatsmaschinerie, sobald es sich ihrer bemächtigt, sofort in seinem Sinne umzuwandeln, ehe es sie für seine eigenen Zwecke in Bewegung setze. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß Marx und Engels die Eroberung der Staatsgewalt in Gegensatz zur anarchistischen Zerstörung der Staatsgewalt als tragenden Pfeiler ihres Aktionsprogrammes aufbauten.
So sagten sie zum Beispiel im Kommunistischen Manifest:
Der erste Schritt in der Arbeiterrevolution ist die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie.
Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benützen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, das heißt des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.
Unter den revolutionären Maßregeln, die das Manifest vorschlug, finden sich folgende:
1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben;
2. starke Progressivsteuer;
3. Abschaffung des Erbrechtes;
4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen;
5. Zentralisation des Kredits dieser Art in den Händen des Staates durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol;
6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staates usw.
Wie denkt sich wohl Pannekoek die Durchführung dieses Programms durch eine „zerstörte“ und „zerfallene“ Staatsgewalt?
Es kann nicht meine Aufgabe sein, eine neue Anarchistendebatte zu inszenieren. Wir haben heute Wichtigeres zu tun. Ich untersuche daher nicht, welche Anschauung die berechtigte ist, die marxistische oder die anarchistische. Ich konstatiere bloß, daß die Pannekoeks über die Zerstörung des Staates wie über die revolutionäre Gymnastik ganz die anarchosyndikalistische ist.
Aber damit will ich keineswegs behaupten, Pannekoek sei ein vollendeter Syndikalist. Er unterscheidet sich von der anarchischen Spielart der Syndikalisten sehr erheblich darin, daß er nicht die Benutzung des Wahlrechtes und des Parlaments bekämpft. Freilich, warum er das nicht tut, ist nicht recht einzusehen.
Denn wenn die außerparlamentarische Aktion des Proletariats die Staatsgewalt auflöst, wozu der Kampf ums und im Parlament? Dieses hat die Aufgabe, Gesetze zu machen, die von der Regierung durchzuführen sind, und es hat die weitere Aufgabe, die Regierung zu überwachen. Wozu das, wenn die Regierung aufhört, irgend eine Wirkung zu üben? Wird aber das Parlament nutzlos, welchen Wert hat noch das demokratische Wahlrecht? Warum den Kampf darum führen und nicht gleich Massenaktionen um materielle Vorteile für das Proletariat?
Ziehen wir die Konsequenzen der Pannekoekschen Auffassung, dann hat die Teilnahme an den Wahlen, der Kampf um Erweiterung des Wahlrechts, die parlamentarische Tätigkeit keinen rechten Zweck mehr. Der Parlamentarismus wird da zu einem rudimentären Organ, das die Sozialdemokratie ererbt hat wie der Mensch den Blinddarm, und womit sie sich abfinden muß, obwohl das Organ nur noch schädlich wirken, Ministerialismus und Reformismus erzeugen kann – Blinddarmentzündungen am politischen Körper des Proletariats.
Logisch ist die Abfindung Pannekoeks mit dem Parlamentarismus eine Inkonsequenz. Sie wird begreiflich durch seine politische Situation.
Zu einem richtigen Syndikalisten gehören Syndikate, Gewerkschaften, auf die er sich bei seinem Gegensatz zur parlamentarischen Partei stützen kann. Die fehlen Pannekoek. Will er sich auf eine proletarische Organisation stützen, dann bleibt ihm nur die politische übrig, deren Aufgaben drehen sich aber alle um den verteufelten Parlamentarismus, sei es, daß es sich um Wahlen handelt, um Wahlrechtskampf, um Einwirkungen auf unsere Vertretungskörper oder um die Forderung ihrer Einberufung. Was würde aus unserer politischen Organisation, wenn sie sich um Parlament und Wahlen nicht mehr kümmerte! So hat sich Pannekoek mit dem Parlamentarismus abzufinden, aber Vergnügen macht es ihm nicht.
Unter diesen Umständen mußte ihm die Idee des politischen Massenstreiks besonders sympathisch werden. Das war das Band, Syndikalismus und Sozialdemokratie miteinander zu vereinigen.
Leider ist die deutsche Auffassung des Massenstreiks in verschiedenen Punkten eine andere als die der Syndikalisten. So wollen die Syndikalisten durch den Massenstreik den Parlamentarismus und den Kampf um die Staatsgewalt überflüssig machen, wir dagegen betrachten den Massenstreik als ein Mittel, diesen Kampf und den Parlamentarismus zu fördern. Andererseits erscheint den Syndikalisten der Massenstreik als eine Waffe, die bei jeder Gelegenheit anzuwenden ist, wo das Proletariat auf einen politischen oder ökonomischen Gegner stößt, ganz ohne Rücksicht darauf, ob ein Erfolg direkt zu erwarten ist oder nicht, wenn nur die Erbitterung der Massen dadurch wächst. Für die große Mehrheit der Genossen in Deutschland ist der politische Massenstreik die ultima ratio, dasselbe, was der Krieg für den Staat; nur dann anzuwenden, wenn alle anderen Mittel versagen, wenn es sich um eine Lebensfrage handelt und der Drang der Massen seine Anwendung aufs stürmischste und unwiderstehlichste begehrt.
Diese Auffassung genügt Pannekoek nicht, er neigt zur syndikalistischen, obwohl bittere Erfahrungen sie bei den Syndikalisten selbst immer mehr zurückdrängen. Um so weniger besteht Aussicht, daß syndikalistische Tendenzen in Deutschland zum Durchbruch gelangen. Da kommt das Wort „Massenaktion“ wie gerufen. Seit zwei Jahren verdrängt das Wort „Massenaktion“ das Wort „Massenstreik“ aus dem Wortschatz Pannekoeks und seiner Freunde. Wieso kommt das?
Unsere Partei hat unzweideutig erkennen lassen, daß sie nicht geneigt ist, bei jeder Gelegenheit zum Massenstreik zu greifen. Dagegen kommt sie aus den Massenaktionen nicht heraus, aus dem einfachen Grund, weil die Sozialdemokraten so zahlreich geworden sind, daß jede ihrer Aktionen notwendigerweise eine Massenaktion wird. Jede Versammlung, jede Demonstration, jedes der verschiedenen Agitationsmittel, die wir seit Beginn unserer Bewegung seit jeher anwenden, gestaltet sich von selbst zu einer Massenaktion.
Heute von unserer Partei Massenaktionen fordern, heißt einfach fordern, daß sie das Selbstverständliche tut, daß sie sich bewegt.
Pannekoek und seine Freunde sprachen aber von Massenaktionen so, als wäre das etwas, was nur sie allein verlangten, was von dem anderen Teil unserer Partei zurückgewiesen oder nur unter ihrer Pression akzeptiert würde; etwas, das eine so neue Taktik darstelle, daß seine Bedeutung nur von den modernsten und feinsten Köpfen des Marxismus begriffen werden könne. Indem sie mit größter Emphase behaupten, daß zweimal zwei vier ist, erwecken sie den Anschein, als ob sie einen schweren Kampf für die Verbreitung dieser vielumstrittenen Erkenntnis zu führen hätten. Und sie gewinnen obendrein den Vorteil, den Boden für die Forderung zu ebnen, daß wir jede Gelegenheit zu Massenstreiks benützen müssen. Man braucht nur Massenstreik und Massenaktion nicht streng auseinanderzuhalten, um diese Wirkungen zu erzielen. Jede Ablehnung eines Massenstreiks in einem bestimmten Falle wird zu einer Ablehnung jeglicher Massenaktion gestempelt. Und die Anerkennung der Notwendigkeit einer Massenaktion kann als Anerkennung der Notwendigkeit des Massenstreiks gedeutet werden.
Daher wohl die jetzige Vorliebe für das Wort Massenaktion und die Schweigsamkeit über das Wort Massenstreik.
Aber trotzdem dürfte die neue Richtung des Radikalismus dabei nicht viel gewinnen.
Durch die Unbestimmtheit des Wortes Massenaktion kann wohl die Propagierung der hier in Rede stehenden Tendenzen erleichtert werden. In demselben Maße verliert aber die neue Taktik der parlamentarisch-syndikalistischen Massenaktion an Klarheit. Sie ist jetzt glücklich in dem Stadium angelangt, in dem sie von aller Welt mißverstanden wird. Und sie scheint nicht einmal an propagandistischer Kraft seitdem gewonnen zu haben.
Das bestätigt in seiner Weise Pannekoek selbst in einer Fußnote seines Artikels, in der er bemerkt:
Der Chemnitzer Parteitag hat in der Tat schon – darin liegt seine Bedeutung als Übergang zu einer Neuorientierung – das Zusammengehen des Hauptteils der Radikalen mit den Revisionisten auf einer mittleren Linie, auf einer vom Parteivorstand vertretenen Taktik des gemäßigten Reformismus (Typus Stichwahlabkommen mit Dämpfung) gebracht. (S. 274)
Es ist die alte Geschichte. Wer im Eisenbahnzug fährt, dem kommt es vor, als liefen die Telegrafenstangen vorbei und er bleibe immer auf dem gleichen Fleck. Wenn ihn die Richtung seiner Gedanken zum Syndikalismus hintreibt, erscheint das Pannekoek als das Hintreiben der Radikalen zum Revisionismus.
Gerade wer glaubt, die Zeit zu entscheidenden Massenaktionen sei gekommen, der muß danach trachten, die Massen zusammenzuführen; er muß alles in den Hintergrund stellen, was sie zu trennen vermöchte. Pannekoeks Taktik ist dagegen dazu angetan, immer wieder neue Trennungslinien in die Partei einzuführen. Ob sie theoretisch berechtigt sind, will ich nicht weiter untersuchen, praktisch wirken sie dahin, Pannekoek und seine Freunde immer mehr zu isolieren.
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war es ein beliebtes Thema unserer Intellektuellen, die Wertvorstellung des isolierten Menschen zu untersuchen. Ich fürchte, Pannekoek sammelt Materialien zu einem Buche, das man betiteln könnte: Die Massenaktion des isolierten Menschen.
Zuletzt aktualisiert am 8.1.2012