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Die Neue Zeit, Jg. 24.1905–1906, 1. Bd. (1905–1906), H. 24 (7. März 1906), S. 785–787.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bei alledem sind die Bedingungen, unter denen dem Revisionismus der ökonomische Fortschritt der Arbeiterklasse innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise gesichert erscheint, nirgends vollkommener einwickelt wie in den Vereinigten Staaten: völlige Demokratie, höchste Freiheit der Organisation und der Presse, hohe gesellschaftliche Gleichberechtigung. Trotz des Schwindens der Reserve freien Bodens ist sie noch immer nicht völlig erschöpft. Und zu alledem kommt noch eine starke Entwicklung der Gewerkschaften. Wir haben gesehen, dass von 1896 an der Rückgang des Wohlstandes der Arbeiterklasse datiert.
Gerade von diesem Datum an ist eine rasche Zunahme der gewerkschaftlichen Organisationen zu verzeichnen. Die wichtigste unter ihnen, die American Federation of Labor, der die meisten Gewerkschaften angehören, zählte 1896 272.315, 1904 dagegen 1.672.100 Mitglieder. Seitdem ist allerdings die Mitgliederzahl etwas zurückgegangen, 1905 verzeichnete man nur 1.513.200, fast 10 Prozent weniger.
Manche meiner guten Freunde werden nicht verfehlen, diese meine Feststellung dahin zu verdrehen, als meinte ich, die Gewerkschaften seien nutzlos oder hätten gar den Rückgang der Arbeiterlage verschuldet. Davon kann natürlich keine Rede sein. Aber die Entwicklung zeigt, dass eine Kraft aufgetreten sein muss, die imstande war, die Wirkungen der so kraftvoll einsetzenden gewerkschaftlichen Bewegung zu paralysieren. Und man braucht nicht weit zu suchen, um diese Kraft zu finden: Es ist der Trust, dessen Aufsteigen gleichzeitig mit dem eben erwähnten Erstarken der Gewerkschaften beginnt, der aber noch rascher als dieser seine Macht in den Vereinigten Staaten entfaltet. Er ist es, der die Preise aller Produkte direkt oder indirekt in die Höhe treibt, indes er das entsprechende Steigen der Löhne verhindert, diese mitunter sogar absolut herabdrückt.
Die Gewerkschaften verlieren dadurch nicht an Bedeutung, ja an Unentbehrlichkeit für die Arbeiterklasse, aber sie hören auf, Machtmittel zu sein, die für sich allein imstande sind, das Kapital zurückzudrängen, seine Ausbeutung zu verringern, seine Macht auszuhöhlen. Dieser Traum kann nicht mehr länger fortgeträumt werden. Durch die Gewerkschaften allein kommt bei entwickeltem Unternehmerverband die Arbeiterklasse als Ganzes nicht mehr vom Fleck. Freilich, ohne sie käme sie nur zu rasch vom Fleck, nämlich nach rückwärts; sie würde schnell alles verlieren, was sie erobert, und hoffnungsloser, absoluter Verelendung verfallen.
Wenn der Unternehmerverband die Gewerkschaft immer mehr als Mittel versagen lässt, das Kapital zurückzudrängen, so macht er sie um so unentbehrlicher für das Proletariat, soll es nicht vom Kapital völlig erdrückt werden. Ist der vereinzelte Arbeiter dem einzelnen Kapitalisten gegenüber schon im Nachteil, so versinkt er dem Unternehmerverband gegenüber in willenlose Sklaverei, vor der ihn nur die Gewerkschaft bewahren kann.
Aber die Gewerkschaften werden nicht nur immer unentbehrlicher zur Aufrechthaltung der Lage, die der Arbeiter einmal erobert hat, sie dürften auch unter den Verhältnissen Amerikas wichtig werden als Mittel zum Ausbau einer großen Arbeiterpartei mit sozialistischen Zielen.
Dass der amerikanische Proletarier unter den geschilderten Verhältnissen sozialistischem Denken immer mehr zugänglich werden muss, ist klar. Wohl stehen der sozialistischen Propaganda in den Vereinigten Staaten schwere Hindernisse im Wege; auf einige davon haben wir schon hingewiesen, so die große Zahl von Ausländern im amerikanischen Proletariat, die sich nicht bloß untereinander schwer verständigen, sondern auch unter politischen und sozialen Verhältnissen ausgewachsen sind, die von denen ihrer neuen Heimat vollständig abweichen, so dass sie sich nur schwer in die durch die amerikanische Eigenart gebotene Taktik hineinfinden, meist um so schwerer, je mehr sie schon in der Heimat politisch tätig gewesen waren und dort feste Grundsätze der politischen Praxis in sich einwurzeln ließen. Andererseits wirkt der völlige Mangel an „Revolutionsromantik“, an theoretischem Sinn, an weiteren Gesichtspunkten im Durchschnittsamerikaner, sehr lähmend aus die sozialistische Propaganda und Aktion und öffnet sozialen Quacksalbern und Schwindlern Tür und Tor.
Aber andererseits geht nirgends die ökonomische Entwicklung so schnell vor sich wie in Amerika, wird die Kapitalistenklasse nirgends durch andere Zwischenschichten und Traditionen aller Art so wenig gehindert, allen ihren Trieben freiesten Lauf zu lassen, verschärfen sich nirgends die Klassengegensätze so rasch wie in Amerika.
Die Auflehnung der Massen gegen die kapitalistische Tyrannei wird nirgends so sehr geradezu erzwungen wie in den Vereinigten Staaten. Mag diese Auflehnung auch zeitweise noch recht sonderbare Formen annehmen, mag sie oft noch Demagogen aller Art in die Höhe bringen, mag auch das Anwachsen der sozialdemokratischen Partei daneben noch zeitweise ein langsames und von Rückschlägen unterbrochenes sein, schließlich müssen die Proletarier wie in Europa, so auch in Amerika zur Einsicht kommen, dass sie nur die Verwirklichung des sozialdemokratischen Programms, dass sie nur die Expropriation der Expropriateure von ihrem Joche befreien kann, welches immer drückender auf ihnen lastet.
Wer die Tatsachen erwägt, die wir hier vorgeführt, wird wohl mit uns zu dem Schlusse kommen, dass auch in Amerika ein Aufblühen des Sozialismus mit Notwendigkeit zu erwarten ist, und zwar nicht erst nach einem Menschenalter, sondern schon erheblich früher. In Amerika geht alles weit rascher und gewaltsamer vor sich als in Europa. Hat uns Russland früher, als wir erwartet, das erste Beispiel eines Proletariats gezeigt, das in der politischen Revolution eines ganzen Reiches die machtvollste Triebkraft bildet, so wird uns vielleicht Amerika früher noch als Europa das Beispiel eines Proletariats zeigen, das die politischen und ökonomischen Machtmittel der Kapitalistenklasse erobert, um eine sozialistische Gesellschaft zu begründen.
Zuletzt aktualisiert am 22. Oktober 2024