Karl Kautsky

Der amerikanische Arbeiter

* * *

8. Sombart über die amerikanischen Arbeiter


Die Neue Zeit, Jg. 24.1905–1906, 1. Bd. (1905–1906), H. 23 (28. Februar 1906), S. 744–752.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.


a) Der Alkoholkonsum des deutschen und des amerikanischen Arbeiters

Wir sind ausgegangen von einem Satze aus den Sombartschen Studien über das amerikanische Proletariat, in denen der Breslauer Professor untersucht, warum in Amerika der Sozialismus bisher so schwer Wurzel fasste. Es ist eine Reihe sehr bemerkenswerter Tatsachen, die wir in diesen Studien verzeichnet finden. Wohl bieten die Gedankengänge Sombarts kaum etwas Neues, keinen Gesichtspunkt von Belang, der nicht schon in der sozialistischen Presse vorher entwickelt worden wäre; aber sie enthalten eine Reihe von Geständnissen, die festgehalten zu werden verdienen, wenn sie von einem wohlbestallten Professor kommen.

Allerdings darf man seine Ausführungen und auch seine Zahlen nicht ganz kritiklos hinnehmen. So unterschätzt er meines Erachtens die Ausdehnung der Ausgaben, die der Alkoholgenuss den amerikanischen Arbeitern im Verhältnis zu den deutschen verursacht.

Er berechnet (S. 593), dass dem Amerikaner nach Deckung seines Wohnungs-, Nahrungs- und Kleidungsbedarfes ein Teil seines Einkommens übrig bleibt, der einem Fünftel näher ist als einem Viertel, indes dem deutschen Arbeiter „eher mehr als weniger denn ein Viertel, nahe an drei Zehntel, für Diverses verbleibt“.

„Was fängt der deutsche Arbeiter mit dem (verhältnismäßig) so viel größeren Überschuss über die notwendigen Ausgaben an? Gibt er mehr aus für Bildungszwecke? für Vergnügungen? für Vereine? für Steuern? für den Arzt? Nichts von alledem. Was er an den Ausgaben für Wohnung, Kleidung, Nahrung erspart, das vertrinkt er. Die ganze Differenz zwischen dem freien Einkommen des amerikanischen und deutschen Arbeiters – und mehr als sie ... wird von den Ausgaben für alkoholische Getränke absorbiert.

„Es ist in letzter Zeit öfters darauf hingewiesen worden, dass der amerikanische Arbeiter allem Anschein nach weniger dem Alkohol ergeben sei als sein deutscher Kollege. Ich bin in der Lage, diese Beobachtung in ihrer Richtigkeit ziffernmäßig zu bestätigen.

„Von den speziell untersuchten 2567 amerikanischen Arbeiterfamilien war genau die Hälfte abstinent: nur bei 50,72 Prozent fanden sich überhaupt Ausgaben für alkoholische Getränke. Und auch bei denen, die dem Alkoholgenuss frönten, bewegten sich die Ausgaben für die ‚berauschende Flüssigkeit‘ (intoxicating liquors ist der technische Ausdruck der Statistik für ‚alkoholische Getränke‘) in mäßigen Grenzen. Diese Familien verausgabten im Jahresdurchschnitt 24,85 Dollar (103 Mark). (Die drüben Geborenen weisen einen Durchschnitt von 22,28 Dollar aus, die Fremdgeborenen von 27,39 Dollar, das Maximum erreichten die Schotten mit 33,63 Dollar und – die Deutschen mit 33,50 Dollar.) Das sind 3,19 Prozent der Gesamtausgabe. Berechnet man aber die Ausgabe für alkoholische Getränke, wie sie die Trinkerfamilien machen, auf die Gesamtausgabe aller Familien, so ergibt sich eine durchschnittliche Belastung des Budgets durch diesen Posten mit 12,44 Dollar (52 Mark) oder 1,62 Pfennig“ (S. 593–595).

Dagegen geben die Berliner Arbeiterfamilien 111 Mark im Jahre für Bier aus, die Karlsruher 219 Mark für Alkoholika, die Nürnberger 143 Mark.

Soweit die Sombartsche Beweisführung. Sehr schlüssig ist sie gerade nicht. Nicht etwa, dass ich behaupten möchte, die Deutschen – und zwar die aller Klassen, Professoren und Kommerzienräte und Reserveoffiziere ebenso wie Proletarier – seien Feinde eines guten Tropfens. Allem Anschein nach leisten sie darin im Allgemeinen mehr als die Amerikaner. Die Sombartschen Zahlen bringen jedoch keineswegs die „ziffernmäßige Bestätigung“ für diese Annahme. Wohl aber findet man sie in einer Publikation des englischen Handelsministeriums, aus der das Reichs-Arbeitsblatt vom Januar 1906 einen Auszug bringt. Danach betrug die durchschnittliche Menge des Verbrauchs pro Kopf:

 

Deutschland

Vereinigte Staaten

Wein
Liter

Bier
Liter

Branntwein
Liter

Alkohol
überhaupt [B]
Liter

Wein
Liter

Bier
Liter

Branntwein
Liter

Alkohol
überhaupt [B]
Liter

1885

1890

1895

1900

1901

1902

8,8

7,1

4,8

6,7

5,2

5,2

  88,0

105,9

115,8

125,1

124,1

116,0

?

9,4

8,6

8,8

8,6

8,4

?

  9,6

  9,0

10,1

  9,8

  9,3

1,5

1,7

1,0

1,4

2,4

1,8

39,9

51,8

58,2

61,3

66,3

68,2

4,8

5,4

3,8

5,0

5,1

5,5

4,6

5,5

4,9

5,8

6,2

6,4

Zu- oder Abnahme 1885 bis 1902

−3,6

+28,0

    −1,4 [C]

    −0,3 [C]

+0,3

+28,3

+0,7

+1,8

In den Vereinigten Staaten ist nach dieser Statistik der Alkoholkonsum geringer als in Deutschland, aber er ist in raschem Wachstum begriffen, während er sich bei uns nicht erheblich verändert. Und die amerikanischen Ziffern sind in Wirklichkeit wahrscheinlich viel höher, wie schon Bär in seiner Schrift über die Trunksucht bemerkte, „bei der kolossalen Ausdehnung von Schmuggel, heimlicher Fabrikation und Defraudation“.

Damit ist aber noch nicht die von Sombart aufgeworfene Frage erledigt, ob der deutsche oder der amerikanische Arbeiter mehr Geld für Alkohol verausgabt, denn der Alkohol hat hier und dort nicht den gleichen Preis, in Amerika ist der Alkohol vielmehr erheblich teurer.

Haushaltungsbudgets von Arbeitern sind in der Regel keine sehr sichere Quelle, denn die Arbeiterfrau verfügt nicht über Zeit und Ruhe zu einer regelmäßigen Buchführung. Welche ziffernmäßige Beweiskraft kann aber nun gar einer Vergleichung von Zahlen zugemessen werden, von denen die einen drei einzelne Städte umfassen. die anderen ein Gebiet, so groß und mannigfaltig wie Europa!

Wie verschieden gestalten sich die Ziffern der fraglichen Haushaltungsbudgets, wenn wir statt das gesamte Reich einzelne Staaten der Union in Betracht ziehen! Im Durchschnitt kam auf jede der von der amerikanischen Enquete untersuchten 2.567 Familien eine Ausgabe von 24,53 Dollar für alkoholische Getränke, aber in Nordkarolina nur 2,56 Dollar, im Distrikt Kolumbia 131,17 Dollar (!). Es dürfte Sombart schwer fallen, in Deutschland eine Stadt zu finden, die sich mit diesem famosen Distrikt an Bier- und Schnapsseligkeit messen könnte. Über 500 Mark pro Arbeiterfamilie für Alkoholika!

Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Ausgaben für den Alkohol im Süden der Vereinigten Staaten weit geringer sind als im Norden. In den südlichen Zentralstaaten kommen nach der in Rede stehenden Enquete auf die Arbeiterfamilie 14,09 Dollar, in den nördlichen 30,38 Dollar. Die nördlichen sind aber jene, die den deutschen Verhältnissen am nächsten kommen.

Dann aber muss man gerade diesen Posten in den amerikanischen Haushaltungsbudgets mit besonderem Misstrauen beobachten. Seit Jahrzehnten wird in Amerika ein erbitterter Kampf gegen den Alkoholismus geführt, nicht aber in der einzigen Weise, in der er Erfolg verspricht, durch wissenschaftliche Aufklärung einerseits, die am besten der Arzt zu geben hat, durch Erfüllung des Proletariers mit einem höheren Lebensinhalt andererseits, wie ihn der Sozialismus bietet, sondern durch pfäffische Salbaderei und polizeilichen Zwang durch Behörden und Unternehmer.

In einer ganzen Reihe von Staaten sind die strengsten Polizeigesetze zur Einschränkung des Alkoholgenusses erlassen, andererseits wird er von den Unternehmern vielfach verboten. Das Washingtoner Arbeitsamt unternahm 1897 eine Enquete über die Alkoholfrage und befragte unter anderem eine Reihe von Unternehmern, ob sie ihren Arbeitern Vorschriften über den Alkoholgenuss machten. Von den einlaufenden Antworten bejahte mehr als die Hälfte die Frage (3.527 gegen 3.265). Und von jenen 3.527 war es wieder mehr als die Hälfte, 1980, die nicht bloß während der Arbeit, sondern auch außer ihr dem Arbeiter jeden Tropfen Alkohol streng verboten. Bei der Aufnahme schon werden Erkundigungen darüber eingezogen, ob der Mann Abstinent ist oder nicht (The economic aspects of the liquor problem, Washington 1898, S. 72).

Der Alkoholgenuss wird dadurch nicht verringert. Er betrug nach dem eben erwähnten Buche in Gallonen:

 

Branntwein

Wein

Bier

1840

2,52

0,29

  1,36

1850

2,23

0,27

  1,58

1860

2,86

0,35

  3,22

1870

2,07

0,32

  5,31

1880

1,27

0,56

  8,26

1890

1,40

0,46

13,67

1896

1,00

0,26

15,16

Die oben angeführten Zahlen zeigen, dass die hier ausgesprochene Tendenz bis in die jüngste Zeit fortdauert.

Der Branntweingenuss hat eine Zeitlang abgenommen – bis 1895, von da an steigt er wieder –, der Biergenuss aber ist stetig und kolossal gewachsen.

Der polizeiliche Zwang erreicht nichts, als dass Schmuggel und Defraudationen und Heuchelei wachsen. Dadurch wird aber nicht bloß die Statistik des Alkoholgenusses in den Vereinigten Staaten verfälscht, es muss erst recht die Angaben über Haushaltungsbudgets, die keiner Kontrolle unterliegen, zu völlig irreführenden machen, soweit sie den Alkoholgenuss betreffen. Selbst wenn wir annehmen wollen, die 50 Prozent der 2567 Familien, die sich als „Trinker“ bekannten, hätten die Höhe ihres Alkoholgenusses richtig angegeben, so ist es noch sehr zweifelhaft, ob die anderen 50 Prozent, die jeden Alkoholgenuss leugneten, dies auch alle der Wahrheit gemäß getan, oder ob nicht viele von ihnen nur geheuchelt hatten, wie sie vor ihren Unternehmern und den Polizisten Abstinenz heucheln, um keine Schädigungen zu erleiden.

Niemand hat bisher behauptet, dass die deutschen Arbeiter in Amerika weniger trinken als in der Heimat. Nach der famosen Statistik der 2567 Familien aber haben 32 Prozent der 220 aus Deutschland stammenden Arbeiterfamilien, die befragt wurden, erklärt, dass sie keinen Cent für Alkohol ausgeben. Ein Drittel der deutschen Arbeiter in Amerika Abstinente! Wer glaubt wohl, dass wir irgendwo so weit wären!

Noch eine Ziffer, um die Zuverlässigkeit der „zahlenmäßigen Bestätigung“ Sombarts zu beleuchten! Er weist darauf hin, dass durchschnittlich das Budget jeder der untersuchten 2.567 Familien nur 12,44 Dollar für Alkoholika enthalte. Dagegen berechnet die schon zitierte Schrift The economic aspects of the liquor problem die Einnahmen der Vereinigten Staaten (Reich, Staaten, Grafschaften und Gemeinden, aus der Besteuerung des Importes, der Produktion und des Verkaufs von Alkohol aus mehr als 183 Millionen Dollar im Jahre 1896 – auf über 700 Millionen Mark. Das machte bei einer Bevölkerung von 70 Millionen 2,6 Dollar pro Kopf, also pro Familie von fünf Köpfen 13 Dollar Abgaben, die sie im Durchschnitt für den Alkohol zu bezahlen hatte. Sombart berechnet dagegen aus den in Rede stehenden Haushaltungsbudgets eine durchschnittliche Ausgabe von weniger als 12½ Dollar pro Familie für „berauschende Getränke“. Also weniger an Ausgaben, als nach den Ziffern der Steuererträge, die auf keinen Fall zu viel angeben, bloß an Abgaben dafür auf die Familie entfielen.
 

b) Proletarischer Ministerialismus

Besser als über die Abstinenz der amerikanischen Arbeiter unterrichtet uns Sombart über manche anderen ihrer Eigentümlichkeiten, und er fällt oft sehr treffende Urteile über sie.

Da haben wir zum Beispiel die Frage, welchen Vorteil das Proletariat davon hat, wenn seine Kämpfe und seine wachsende Macht den Erfolg haben, dass die herrschenden Parteien sich veranlasst sehen, einzelnen seiner Vorkämpfer Ämter zu verleihen. Als Millerand in das bürgerliche Ministerium Waldeck-Rousseau kam, da gerieten bekanntlich unsere Revisionisten vor Entzücken außer sich darüber und erklärten, dies sei der einzige Weg, auf dem das Proletariat zur Macht gelangen könne. Das Streben nach Eroberung der gesamten politischen Macht sei unfruchtbare und törichte Revolutionsromantik. Die Erfahrungen mit dem Millerandschen Experiment haben unsere revisionistischen Staatsmänner etwas zur Zurückhaltung gezwungen, und als jüngst wieder John Burns einen Ministerposten erhielt, wurde das mit verlegenem Schweigen aufgenommen, bis das enfant terrible des deutschen Revisionismus sich für diesen Erfolg des britischen Proletariats begeisterte. Besser als der Reichstagsabgeordnete der deutschen Sozialdemokratie weiß der preußische Professor den Wert dieser Methode, die politische Macht stückweise zu erobern, zu bemessen – wenigstens für Amerika. Sombart sagt von den „Arbeiterführern, den leitenden Gewerkschaftsleuten“:

„Diesen winkt ein reicherer Lohn, Wenn sie der herrschenden Partei Treue schwören: ein gut besoldetes Amt vom Fabrikinspektor hinauf bis zum Staatssekretär, je nach der Bedeutung, die man dem zu Versorgenden beimisst. Es ist ein durchaus bewährtes Verfahren, das die herrschenden Parteien seit Jahren mit bestem Erfolg zur Anwendung bringen: die einflussreichen Arbeiterführer durch Verleihung eines einträglichen Amtes unschädlich zu machen. Wir können diesen Entmannungsprozess bei einer ganzen Reihe der namhaftesten Führer verfolgen. Im Augenblick soll der Präsident der American Federation of Labor – in Deutschland Legien – zum Nachfolger Caroll Wrights, also zum Direktor des arbeitsstatistischen Amtes ausersehen sein, während John Mitchell, der siegreiche Bergarbeiterführer, also etwa Sachse in Deutschland, einen Unterstaatssekretärposten in Washington erhalten soll.

Man hat festgestellt, dass in solcher Weise in Massachusetts während weniger Jahre 13, in Chicago 30 Arbeiterführer in Beamtenstellungen gelangt sind. ...

Wenn aber solcherweise die einflussreichen Führer, jedes Mal wenn sie zu Macht und Ansehen unter ihren Genossen gelangt sind, für eine oppositionelle Arbeiterbewegung verloren gehen, so bedeutet das nicht nur einen direkten Gewinn für die großen Parteien, soweit die Person des Führers und auch die Kreise der Arbeiterschaft selbst in Frage kommt, die jenem Führer ihr Vertrauen schenkten, sondern in viel weiterem Umfang eine indirekte Stärkung, weil mit dem durch den Köder des Amtes eingefangenen Führer eine mögliche selbständige Arbeiterpartei einen schmerzlichen Verlust erfährt. Mit anderen Worten: die großen Parteien kapern jedes Mal die Offiziere der etwa in Bildung begriffenen sozialistischen Parteiorganisation vor der Nase weg.“

Man sollte annehmen, dass das jeder einsieht, der einmal begriffen hat, dass es zwischen der Sozialdemokratie und den „großen“, das heißt in Amerika den bürgerlichen Parteien, einen wesentlichen Unterschied gibt. Wer es freilich verlernt hat, zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie einen wesentlichen Unterschied zu merken, der kann wohl der Meinung sein, dass ein Gewerkschaftsbeamter oder sonstiger Vorkämpfer des Proletariats diesem auch in einem Amte nützen kann, das er den Liberalen verdankt.
 

c) Die Demokratisierung des Kapitals

Eine zweite Illusion des sozialistischen Revisionismus ist die, dass die Arbeiter durch den Erwerb von Aktien Teilhaber am Kapital werden und dieses derartig eine Demokratisierung erfährt. Sombart weiß sehr wohl, was davon zu halten ist.

„Das Kapital sucht den Arbeiter dadurch zu ködern, dass es ihm Anteil an seinen Erträgnissen gewährt. Das Mittel hierzu ist das vorteilhafte Angebot von Aktien. Die Kapitalisten schlagen damit unter Umständen zwei Fliegen mit einer Klappe: erstens ziehen sie den Arbeiter in den Strom des Geschäftsgetriebes, wecken in ihm die niederen Instinkte des Gewinnstrebens, des Spekulationsfiebers und attachieren ihn dadurch an das von ihnen vertretene Produktionssystem; zweitens aber bringen sie ihre faulen Aktien unter, verhüten einen drohenden Kurssturz oder beeinflussen damit vielleicht den Aktienmarkt momentan in einer Weise, der ihnen einen Extrareibach verschafft.“

Wir wünschten, jeder Sozialdemokrat durchschaute den plumpen Schwindel der „Demokratisierung des Kapitals“ ebenso deutlich, wie es hier der liberale Professor tut.

Bezeichnend ist das Beispiel, mit dem er diese „Demokratisierung“ illustriert:

„Dieses System ist im großen Stil von dem Stahltrust zur Anwendung gebracht worden. Die Gesellschaft verwandte zuerst im Jahre 1900 2 Millionen Dollar des Gewinnüberschusses aus dem Vorjahre, um 25.000 Vorzugsaktien (shares of the preferred stock) aufzukaufen. Diese bot sie den 168.000 Angestellten zum Kurse von 82,50 an, zahlbar binnen drei Jahren. Damit die Arbeiter veranlasst wurden, die Aktien zu behalten, wurde eine Extradividende von 5 Dollar pro Aktie und Jahr versprochen für den Fall, dass die Aktien länger als fünf Jahre im Besitz des ersten Erwerbers blieben. Das Angebot fand allgemeinen Anklang: 48.983 Aktien wurden von Angestellten der Gesellschaft erworben. Bald darauf erfolgte der Kurssturz, den man mit jener Wohlfahrtsaktion wohl aufzuhalten oder zu vermeiden versucht hatte. Die preferred shares der U.S. Steel Corporation fielen auf 50. Neuer Trick: um die Arbeiter zu beruhigen, gleichzeitig aber eine weitere Senkung des Kurses zu verhindern, die entstanden wäre, wenn die Arbeiter ihren Aktienbesitz abgestoßen hätten, verpflichtete sich die Gesellschaft, die in den Händen der Arbeiter befindlichen Aktien zum Kurse von 82,50 zurückzukaufen, falls die Arbeiter die Aktien bis – 1908 behielten! Schon im Dezember desselben Jahres (1903) machte die Korporation den Arbeitern ein neues Angebot unter ähnlichen Bedingungen wie das erste, nur dass der Kurs der preferred shares auf 55 festgesetzt wurde. Wieder gingen 10.248 Angestellte darauf ein, die zusammen 32.519 Aktien erwarben. Da inzwischen die Aktien wieder auf 82 stiegen, so hatten diesmal die Arbeiter einen Vorteil von ihrem Ankauf“ (S. 603, 604).

Als wenigstens vorübergehendes Resultat einer derartigen Politik bezeichnet Sombart die „kapitalistische Durchseuchung des Arbeiters“.
 

d) Kapitalistische Gewerkschaftspolitik

Eine dritte Illusion des Revisionismus ist die über die Wirksamkeit der Trade AIliances. Vereinigungen von Arbeiterorganisationen mit Unternehmerorganisationen zur gemeinsamen Hochhaltung der Preise und gegenseitigen Stützung der Organisation. Ebenso wie im Aktienbesitz der Arbeiter und der Besetzung von Staatsämtern durch Arbeiterführer sahen manche unserer Revisionisten auch in den Trade AIliances Formen der allmählichen „Aushöhlung“ des Kapitalismus, seiner unmerklichen – allerdings sehr unmerklichen – Umwandlung in den Sozialismus, ohne jede der so verpönten Katastrophen. Sombart schätzt sie weit richtiger ein. Er sagt:

„Den reinsten Ausdruck findet diese Geschäftspolitik (der zünftlerisch gesinnten Gewerkschaften) in dem Zusammenschluss der monopolistischen Gewerkschaft mit einem monopolistischen Unternehmertum in den sogenannten AIliances, das sind Organisationen zur gemeinsamen Ausbeutung des Publikums durch die vereinigten Unternehmer und Arbeiter eines Gewerbezweiges. Man kann diese Art Gewerkschaften, weil sie doch von demselben Holze wie der Kapitalismus selbst geschnitzt und und sowohl in ihren Tendenzen wie in ihren Wirkungen auf Erhaltung und Festigung, nicht auf Überwindung des kapitalisieren Wirtschaftssystems gerichtet sich als kapitalistische bezeichnen und ihnen die sozialistischen Gewerkschaften gegenüberstellen, die ihre Politik zwar auch auf den Gegenwartserfolg zuschneiden, dabei aber die gegen den Kapitalismus gerichtete Klassenbewegung des Proletariats nicht auf dem Auge verlieren“ (S. 233, 234).

Auch sonst äußert Sombart manches vernünftige Wort über die Gewerkschaftsbewegung. Mancher Gewerkschafter scheint zu glauben, als sei das Ziel der Arbeiterbewegung nicht die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. sondern die „konstitutionelle Fabrik“. Viele halten diese für ein Übergangsstadium zum Sozialismus, glauben, es sei schon viel erreicht, wenn die Unternehmer den absoluten Herrenstandpunkt aufgeben und mit den Arbeitern als Gleichberechtigten verkehren und verhandeln, sie nicht als Knechte, sondern als Warenverkäufer ansehen, wie sie selbst sind, Verkäufer der Ware Arbeitskraft.

Dass die Arbeiter danach streben müssen, von den Kapitalisten nicht als willenlose Sklaven, sondern als Gleichberechtigte behandelt zu werden, ist selbstverständlich. Aber sie dürfen sich nicht darüber täuschen, dass die höhere, zivilisiertere Form des Verkehrs mit ihnen am Inhalt ihrer Ausbeutung sehr wenig oder gar nichts ändert.

Das wird von Sombart sehr gut erkannt:

„Der Ton der Gleichberechtigung., auf den das gesellschaftliche und öffentliche Leben in den Vereinigten Staaten abgestimmt ist, herrscht nun aber auch innerhalb der kapitalistischen Unternehmung. Auch hier tritt – wie es im alten Europa mit seinen feudalen Traditionen der Regel nach der Fall war und ist – der Unternehmer dem Arbeiter nicht als der ‚Herr‘ entgegen, der Gehorsam heischt. Der rein geschäftliche Standpunkt bei der Behandlung des Lohnvertrags wurde von vornherein der herrschende. Die formelle ‚Gleichstellung‘ von Unternehmer und Arbeiter brauchte nicht erst in langem Kampfe ertrotzt zu werden. Wie die amerikanische Frau, weil sie selten war, auf Händen getragen wurde, so befleißigte sich auch der Unternehmer dem Arbeiter gegenüber, der ihm ursprünglich nicht in beliebiger Menge zur Verfügung stand, eines höflichen, zuvorkommenden Benehmens, das in der demokratischen Atmosphäre des Landes naturgemäß eine starke Stütze fand. Noch heute sind selbst englische Arbeiter erstaunt über den respektvollen Ton, den Unternehmer und Werkmeister in den Vereinigten Staaten dem Arbeiter gegenüber anschlagen, sind sie erstaunt über die Ungebundenheit des amerikanischen Arbeiters selbst in seiner Arbeitsstätte, der Freihaltung von allem, was man lästige Überwachung nennen könnte; sie wundern sich, dass er einen, zwei Tage auf Urlaub gehen kann, dass er austreten darf, um eine Zigarre zu rauchen, ja dass er während der Arbeit raucht und sogar einen Zigarrenautomaten in der Fabrik zu seiner Verfügung hat. Es ist auch eine Eigenart der amerikanischen Fabrikanten, dass sie in ihren Betrieben zwar die einfachsten Schutzvorkehrungen anzubringen unterlassen, dass sie sich nicht im Geringsten um die objektiv gute Einrichtung der Werkstätten kümmern, die vielmehr oft überfüllt sind und dergleichen, dass sie dagegen bereitwilligst alles tun, was vom Arbeiter subjektiv als Annehmlichkeit empfunden werden könnte, das heißt dass sie für ‚Komfort‘ sorgen: Badewannen, Duschen, verschließbare Schränke, Temperierung der Arbeitsräume, die im Sommer durch Ventilatoren gekühlt, im Winter angewärmt werden. ...

„Das sind gewiss alles Kleinigkeiten, aber ‚kleine Geschenke erhalten die Freundschaft‘, gilt auch hier. Ich werde später zu zeigen versuchen dass in keinem Lande der Welt – objektiv betrachtet – der Arbeiter vorn Kapitalismus so ausgebeutet wird, wie in den Vereinigten Staaten, dass der Arbeiter in keinem Lande der Welt sich in den Sielen des Kapitalismus so blutig reibt, sich so rasch zu Tode rackert, wie dort: aber darauf kommt es nicht an, wenn es gilt, den Gefühlsinhalt des Proletariats zu erklären. Denn für dessen Gestaltung wird nur von Bedeutung, was vom einzelnen als Lust oder Unlust empfunden, als Wert oder Unwert geschätzt wird. Und es ist eines der glänzendsten diplomatischen Kunststücke, dass der amerikanische Unternehmer, ebenso wie der Geschäftspolitiker in seiner Weise, den Arbeiter trotz aller tatsächlichen Ausbeutung bei guter Stimmung zu erhalten verstanden hat, also dass dieser gar nicht zum Bewusstsein seiner wirklichen Lage gekommen ist“ (S. 600, 601).

Nun könnte mancher mir einwenden wollen, wenn die Gleichberechtigung und die politische Freiheit den amerikanischen Arbeiter so in seinem Klassenbewusstsein und seinem Klassenkampf beeinträchtigen, indes das Fehlen dieser Bedingungen dem proletarischen Klassenkampf in Europa, namentlich Osteuropa, erhöhte Wucht gibt – sei es da nicht ein Unding, nach Gleichberechtigung und politischer Freiheit zu verlangen oder gar ihretwegen so hohe Opfer zu bringen? Mitnichten. Ohne Gleichberechtigung und politische Freiheit kann das Proletariat seine volle Kraft nicht entfalten, es bedarf ihrer, wie es der Luft und des Lichtes bedarf, sie gehören zu seinen Lebenselementen. Aber sie wirken anders dort, wo sie das Proletariat bei seinem Aufkommen schon als selbstverständliche Einrichtungen vorfindet, um die es sich nicht zu kümmern braucht, wie dort, wo sie sich das Proletariat selbst erkämpfen muss. Ebenso wie das Ringen nach Wahrheit etwas weit Höheres ist, als der mühelose Besitz der Wahrheit, die andere vorher aufgedeckt, so erhebt auch der Kampf um die Freiheit weit mehr als der kampflose Besitz einer Freiheit, die andere vorher errungen.

Nicht zum wenigsten dank diesem von ihren Vätern ererbten Besitz waren bisher die amerikanischen Arbeiter als Klasse schwächer wie die europäischen, aber nur deshalb, weil jeder einzelne als Staatsbürger stärker war. Und nicht nur die politische Freiheit besaßen sie, nicht nur gesellschaftliche Gleichberechtigung; nein, auch das wichtigste Produktionsmittel, der Grund und Boden, war noch nicht Monopol einer Klasse geworden, stand ihnen allen zu Gebote. warum also Sozialisten werden, warum für eine ferne sozialistische Zukunft kämpfen, wenn ein sehr erheblicher Teil dessen, wofür der Sozialismus eintritt, in Amerika schon verwirklicht ist oder vielmehr bis vor kurzem noch verwirklicht war?

Alle die Ursachen, die bisher verhinderten, dass der amerikanische Arbeiter sich seines Klassengegensatzes gegen das Kapital und seiner Klassensolidarität in gleichem Maße bewusst wurde wie der europäische – sie alle sind nämlich im Rückgang begriffen.

So schließt denn auch Sombart seine Studien zur Entwicklungsgeschichte des nordamerikanischen Proletariats mit dem Versprechen, er werde in einem Buche nachweisen,

„dass alle Momente, die bis heute die Entwicklung des Sozialismus in den Vereinigten Staaten aufgehalten haben, im Begriff sind, zu verschwinden oder in ihr Gegenteil verkehrt zu werden, und dass infolgedessen der Sozialismus in der Union im nächsten Menschenalter aller Voraussicht nach zu vollster Blüte gelangen wird.“

Ich weiß nicht, ob das besagen soll, dass unser für das heutige Deutschland liberaler Professor die Absicht hat, sich für Amerika und für das nächste Menschenalter zum Sozialismus zu bekennen, und ob er andererseits die revisionistischen Illusionen, deren Nichtigkeit er für Amerika so gut erkennt, nun auch für Deutschland ablehnen wird. Jedenfalls darf man diesem Buche erwartungsvoll entgegensehen. Aber wir brauchen nicht darauf zu warten, um zu erkennen, dass die Vorbedingungen des Sozialismus sich in Amerika rapid entwickeln und ihm dort wohl noch vor dem nächsten Menschenalter, vielleicht schon binnen wenigen Jahren zur Blüte verhelfen.

Der letzte Zensus hat darüber einige Ziffern veröffentlicht, die wir in einem nächsten Artikel noch betrachten wollen.

* * *

Anmerkungen

B. Die Menge des in Wein, Bier und Branntwein genossenen Alkohols

C. 1890 bis 1902.


Zuletzt aktualisiert am 22. Oktober 2024