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Die Neue Zeit, Jg. 24.1905–1906, 1. Bd. (1905–1906), H. 23 (28. Februar 1906), S. 740–744.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Der verschiedene Grad, in dem Kapital und Proletariat aus dem Ausland stammen, ist einer der wichtigsten Gründe, die es bewirken, warum das amerikanische Proletariat relativ schwach und das russische relativ stark ist, aber er ist nicht der einzige. Ein anderer liegt darin, dass ein großer Teil der russischen Arbeiter erfüllt ist von dem, was es einzelnen unserer Freunde jetzt beliebt, wegwerfend als Revolutionsromantik zu bezeichnen, indes die Masse der amerikanischen Arbeiter sich noch leiten lässt von jenem Geiste gesunder Realpolitik, die sich mir mit dem Nächstliegenden und Greifbaren beschäftigt, was dieselben eben erwähnten Freunde mit hoher Bewunderung erfüllt.
Diese Verschiedenheit der Auffassung in Russland und Amerika entspringt nicht einem verschiedenen Rassencharakter, sondern der Verschiedenartigkeit der geschichtlichen Entwicklung hier und dort.
Der russische Arbeiter wächst auf in einem Staate, der die Barbarei des orientalischen Despotismus vereinigt mit den Machtmitteln, die der moderne Absolutismus im achtzehnten Jahrhundert ausgebildet hat: in diesem Rahmen wurde eine kapitalistische Produktionsweise entwickelt. Sobald das Proletariat hier anfing, sich zu bewegen, stieß es sofort bei jedem Schritt und Tritt auf fast unüberwindliche Hindernisse, empfand es in schmerzhaftester Weise den Wahnsinn dieses staatlichen Zustandes, lernte es ihn hassen, fühlte es sich gezwungen, ihn zu bekämpfen. Diesen Zustand zu reformieren, war ganz unmöglich, hier half nur der völlige Umsturz der gegebenen Ordnung. So wächst der russische Arbeiter als instinktiver Revolutionär auf, der das bewusste revolutionäre Denken mit Begeisterung aufnimmt, da es nur klarer und präziser ausspricht, was er schon dunkel gefühlt und geahnt. Und er findet eine starke Schicht von Intelligenten, die gleich ihm unter dem bestehenden Zustand leiden, gleich ihm in ihrer Mehrheit zu einem jammervollen Dasein verurteilt sind, gleich ihm nur existieren können in stetem Kampfe dagegen, gleich ihm eine Erlösung nur erwarten können von völligem Umsturz des Bestehenden. Sie bringen dem Arbeiter die theoretische Klärung und Festigung seines revolutionären Dranges. Nichts ist aber geeigneter, den Menschen geistig wachsen zu lassen, als revolutionäres Denken, denn nichts kann ihm höhere Zwecke geben.
Der revolutionäre Denker hat stets die Gesamtheit von Staat und Gesellschaft im Auge; er braucht nicht blind zu werden für die kleinen Einzelheiten des Alltags, aber er geht in ihnen nicht auf, er sieht in ihnen bloß Teile eines großen Ganzen, in dem er ihnen ihren Platz anweist; er untersucht vor allem, wie sie auf dieses einwirken und es auf sie, lernt sie so richtig würdigen und sich von allen Illusionen über ihre Wirkungen fernhalten.
Da seine Ziele gewaltige sind, lernt er aber auch mit historischen Zeiträumen rechnen, in denen allein sie erreicht werden können, lässt er sich durch Teilniederlagen nicht entmutigen, aber auch durch Teilerfolge nicht blenden. Da er jede Einzelerscheinung in ihrem Zusammenhang mit dem Ganzen prüft, lässt er sich nicht durch Rezepte verwirren, die durch Änderung einer einzelnen Erscheinung den ganzen Staat, die ganze Gesellschaft rasch und schmerzlos von allen Schäden befreien wollen. Endlich aber, da er stets die Gesamtheit der Gesellschaft im Auge hat, erkennt er auch leichter die großen Trennungslinien, die die einzelnen Klassen voneinander scheiden, trotz einzelner Berührungspunkte, erfasst er die Bedeutung und die Ausgaben des Klassenkampfes seiner Klasse klarer, gelangt diese leichter zu Geschlossenheit und Einheitlichkeit.
So verleiht die revolutionäre Auffassung dem Proletariat größere Kraft und größere Stetigkeit der Entwicklung, wird ihm die revolutionäre „Romantik“ von größtem praktischen Nutzen. Ihr vor allem verdanken es die rechtlosen, unorganisierten, ungebildeten russischen Industriearbeiter, wenn sie es vermögen, den Absolutismus in dem großen Bauernland im Schach zu halten, vor dem die ganzen besitzenden Klassen nicht bloß Russlands, sondern Europas im Staube krochen.
Anders stehen die Dinge in Amerika. Ist Russland das unfreieste, so Amerika das freieste Land des kapitalistischen Kulturkreises, freier als England, selbst die Schweiz, in denen beiden eine mittelalterliche Aristokratie starke Wurzeln geschlagen hat und noch im neunzehnten Jahrhundert schwere Kämpfe um die politische Gleichberechtigung und das Koalitionsrecht auszukämpfen waren. Die Nordstaaten der Union, von bäuerlichen und kleinbürgerlichen Flüchtlingen in der Zeit der Religionskämpfe nach der Reformation begründet, schleppten wohl europäische Traditionen noch längere Zeit mit sich, entwickelten aber schließlich ihren ökonomischen Verhältnissen entsprechende Staatsverfassungen mit vollster Freiheit und Gleichheit. Und die sozialen Verhältnisse, vor allem das Vorhandensein einer unerschöpflichen Bodenreserve, die dieses erste und wichtigste Produktionsmittel allen zugänglich machte und lange kein Massenproletariat auskommen ließ, sorgten dafür, dass die Freiheit und Gleichheit nicht auf dem Papier blieb. Der Mangel an Gebildeten zwang schon dazu, Staatsverwaltung, Rechtspflege, Journalistik, alle wichtigeren Gebiete der „Intelligenz“ so einzurichten, dass jeder geistig regsame Bürger ohne allzu große Schwierigkeiten sich die zu ihrem Betrieb nötigen Kenntnisse erwerben konnte, was um so leichter ging, als der Volksunterricht allgemein und relativ recht gut war. Also auch eine Aristokratie des Geistes konnte nicht entstehen. Ebenso wenig eine geschlossene Ämteraristokratie, da die Staatsämter von der jeweilig herrschenden Partei vergeben wurden, und diese häufig wechselte. Jeder intelligente Arbeiter, welches immer die Schicht, der er entstammte, durfte erwarten, sich zu einer höheren Stellung emporringen oder mindestens aus den Reihen der Ausgebeuteten emporsteigen zu können.
So fehlte lange Zeit alles, was den ausgebeuteten Klassen die Notwendigkeit einer einschneidenden Änderung der staatlichen Einrichtungen nahelegen konnte; es fehlten sogar die ausgebeuteten Klassen selbst als Massenerscheinung. Und die daraus entspringende Denkart hat sich bis heute erhalten. Wohl ist inzwischen in den Vereinigten Staaten ein starkes Proletariat und die stärkste Kapitalistenklasse der Welt entstanden, aber trotzdem kann man auch heute noch die Volksmasse ihrem Empfinden nach weniger in Kapitalisten und Proletarier teilen, als in solche, die Kapitalisten schon sind, und solche, die es noch werden wollen.
Wohl gibt es natürlich zwischen diesen beiden Klassen auch in Amerika, ja dort erst recht, die schroffsten Interessengegensätze. Aber im ganzen Laufe seiner historischen Entwicklung ist der amerikanische Arbeiter bisher noch gar nie in die Notwendigkeit gekommen, sich der Gesamtheit der bestehenden Ordnung gegenüberzustehen und sie zu untersuchen. Es sind stets nur einzelne Einrichtungen, die ihn ärgern, gegen die er sich wendet. Jedes Nachdenken darüber, woher diese einzelnen Erscheinungen stammen, in welchem Zusammenhang sie mit der Gesamtheit des staatlichen und gesellschaftlichen Organismus stehen, erscheint ihm als müßiges Spintisieren. An seiner Verachtung jeglicher Theorie könnten unsere Praktiker ihre helle Freude haben.
In dieser Auffassung bestärkt ihn die Denkweise der Intelligenz. Ist die letztere in Russland durch ihre soziale Stellung der notwendige Träger des revolutionären Bewusstseins geworden, das sie dem Proletariat vermittelt, dem sie in vielen Dingen so nahe steht. so bildet sie in Amerika das Verbindungsglied zwischen Proletariat und Kapitalistenklasse. Politik, Journalismus, Juristerei werden hier so manchem Proletarier zugänglich, sie bilden aber bei den riesenhaften Verhältnissen des Landes gewaltige Bereicherungsquellen. So erscheinen sie als Leitern, auf denen man auf dem Reiche der Besitzlosigkeit in das des Kapitalismus aufsteigt; so ist der Trieb nach Bereicherung der Drang, der sie völlig beherrscht, ist skrupellosester Kapitalismus der Geist, der sie erfüllt.
Von dieser Intelligenz kann das Proletariat keine Aufklärung über die Interessen und die historischen Aufgaben seiner Klasse erhalten. Die amerikanische Intelligenz weiß selbst nichts davon, und wenn sie etwas darüber wüsste, würde sie es auf das Sorgfältigste verschweigen.
So sind die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten für das Aufkommen eines entschiedenen proletarischen Klassenbewusstseins und die Setzung großer, die ganze Gesellschaft umfassender Ziele sehr ungünstig.
Der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit wird dadurch freilich nicht überbrückt, ja er tritt vielleicht schroffer zutage als in Europa, weil das Kapital, durch keine kleinbürgerlichen und ideologischen Überlieferungen gehindert. seine Interessen viel rücksichtsloser verfolgt, und die Arbeiter, dank den demokratischen Traditionen des Landes, sich ebenfalls viel entschiedener und rücksichtsloser zur Wehr setzen. Aber bei allen ihren zahlreichen Konflikten handelt es sich in der Regel nur um ein Mehr oder Weniger, um Augenblicksforderungen, und soweit diese sich zu etwas weitergehenden Forderungen verdichten, so doch nie zu mehr als zu Einzelforderungen, durch die man sich einzelner Gegner zu erwehren, einzelne Schäden von Staat und Gesellschaft zu überwinden hofft, ohne diese selbst gründlich zu ändern.
Die Hauptsache aber ist dabei, dass auch solche etwas weitergehende Forderungen „praktisch“ sein müssen, das heißt, ohne weiteres durchführbar und aller Erwartung nach schon bei den bestehenden Machtverhältnissen erreichbar. Denn der Amerikaner, ob Kapitalist, ob Proletarier, ist Realpolitiker, und zwar im kapitalistischen Sinne. Die Praktiker des Mittelalters glaubten für die Ewigkeit zu arbeiten. Für sie bauten sie ihre Dome und Burgen, schufen sie ihre Gemälde, ja selbst Werkzeuge und Stoffe. So glaubten sie auch, staatliche und städtische Ordnungen für die Ewigkeit zu begründen. Der Kapitalismus, der in beständiger Umwälzung begriffen ist, der, um neuen Mehrwert zu schaffen. ständig alles entwertet, was einen Wert hat, er interessiert sich bloß für den Profit des Augenblicks, denn was sich nicht sofort rentiert, kann im nächsten Jahre schon durch eine neue Erfindung überholt sein. So streben auch seine Realpolitiker stets nur nach Augenblickserfolgen, und das steckt auch die proletarischen Politiker an, wo sie sich nicht vom bürgerlichen Denken frei machen können und nicht revolutionär denken, das heißt nicht auf eine große und weite Zukunft bedacht sind.
Daher beschränken sich auch die amerikanischen Realpolitiker des Proletariats stets auf „praktische“ Forderungen. Sie begeistern sich leicht für solche; erreichen diese aber nicht rascheste Erfüllung, dann werden sie ebenso schnell aufgegeben.
Derartige Einzelforderungen finden aber stets auch Unterstützung bei einzelnen bürgerlichen Politikern, denn nicht eine einzelne proletarische Augenblicksforderung, sondern die Gesamtheit des proletarischen Strebens, des Strebens, die Kapitalistenklasse zu expropriieren, ist es, worin der unversöhnliche Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit zutage tritt. Einzelne Augenblicksforderungen des Proletariats, etwa zur Milderung der Arbeitslosigkeit, Einschränkung der Macht der Trusts, Arbeiterschutz und dergleichen, werden immer die Zustimmung mancher bürgerlichen Politiker finden, auch solcher, die dem revolutionären Klassenkampf entschieden feindlich gegenüberstehen würden. Das mag als eine Verstärkung der proletarischen Macht durch bürgerliche Elemente und daher als ein Vorzug der realpolitischen Methode erscheinen, ist es aber keineswegs. Nicht bloß, dass eine solche Einzelforderung selten das ganze Proletariat interessiert, also nicht imstande ist, für sich allein seine ganzen Kräfte zusammenzufassen, verschafft sie auf der anderen Seite den für sie eintretenden bürgerlichen Elementen einen Einfluss auf die Arbeiterschaft, der nichts weniger als günstig ist. Denn diese bürgerlichen Elemente sind entweder Ideologen ohne Kraft und Einfluss, die im Proletariat bloß Illusionen erwecken, sein Klassenbewusstsein trüben, die Kraft seines Kampfes schwächen, ohne ihm irgend einen praktischen Erfolg zu bringen. Oder es sind gar Demagogen, die das Proletariat durch Versprechungen bloß zu gewinnen suchen, um seine Kraft in ihrem eigenen Interesse auszubeuten.
So sehen wir denn auch, dass die populären Reformbewegungen in den Vereinigten Staaten sich nur um Einzelforderungen, oft sehr schwindelhafter Natur, gruppieren, zum Beispiel die Bewegungen, die durch „billiges Geld“ (Papiergeld oder Silbergeld) oder durch eine besondere Steuergesetzgebung (single tax nach Henry-Georgeschem Muster) und dergleichen mehr die unteren Klassen zu erlösen versprechen. Diese Bewegungen schwellen zeitweise rapid am um ebenso rapid zusammenzubrechen, und haben praktisch keine andere Wirkung als die, einigen Schwindlern und Quacksalbern als Sprungbrett zu dienen.
Gerade weil ihr alle „Revolutionsromantik“ fehlt, weil sie ganz in nüchterner Realpolitik aufgeht, ist die bisherige Politik der arbeitenden Massen in den Vereinigten Staaten nach dem Grade ihrer Stärke wie nach ihrer Richtung so unstet gewesen, hat sie sich mehr als die irgend eines anderen Landes von Demagogen und Narren nasführen lassen.
Zuletzt aktualisiert am 22. Oktober 2024