Karl Kautsky

Der amerikanische Arbeiter

* * *

6. Die nationale Zersplitterung der amerikanischen Arbeiter


Die Neue Zeit, Jg. 24.1905–1906, 1. Bd. (1905–1906), H. 22 (21. Februar 1906), S. 723–727.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.


Bilden also die Kapitalisten Amerikas eine weit einheitlichere Klasse als die Englands, so ist dagegen nirgends die Arbeiterklasse so wenig einheitlich wie in den Vereinigten Staaten.

Auch dies ist eine Folge des Überflusses von Land, der bis vor kurzem in der Union herrschte. Ohne große Kosten konnte jeder gesunde Amerikaner, der sich einigermaßen auf den Landbau verstand, ein selbständiger Landwirt werden und sich der Ausbeutung durch das Kapital als Lohnarbeiter entziehen. Die im Lande geborenen Amerikaner lieferten daher nur wenige Lohnarbeiter; und da das Kapital und der Markt für die Industrie gleichzeitig rasch anwuchsen, war die Nachfrage nach Lohnarbeitern groß, indes ihr Angebot aus den Reihen der Landeskinder ein Geringes blieb.

Von vornherein musste der Lohn der amerikanischen Arbeiter ein hoher sein wegen der eben berührten Verhältnisse, die die Masse des Produktes, die der Bauer erzeugte und behielt, zu einer ansehnlichen Höhe ansteigen ließen. Im Kapital [1] bemerkt [2] Marx bei der Untersuchung des Wertes der Arbeitskraft, „im Gegensatz zu anderen Waren enthält die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element“. Aber dieses Element hat eine natürliche Basis, und das ist der im Lande durchschnittliche Ertrag des kleinen bäuerlichen Gutes. Die Kleinbauernschaft ist die große Lieferantin an zuschüssigen Arbeitskräften für das Kapital; sie erzeugt in den meisten Staaten eine zahlreiche Nachkommenschaft. die sie nicht zu ernähren vermag und der Industrie zuschiebt, so dass in dieser die Lebenshaltung der zuströmenden Söhne der kleinen Bauern und der Knechte der größeren Bauern den Lohn der einfachen, unqualifizierten Arbeit bestimmt. Die Arbeit des Bauern und Bauernknechtes selbst ist keineswegs eine einfache, vielmehr eine sehr komplizierte, die eine längere Lehrzeit erfordert. Aber für die Industrie gilt diese Lehrzeit gleich Null, in der Industrie ist der vom Lande kommende Lohnarbeiter in der Regel zunächst nur als unqualifizierter Arbeiter zu gebrauchen.

Die Lebenshaltung des Bauern hängt aber ab von dem Ausmaß und der Güte des Bodens, der ihm zur Verfügung steht, der Wirksamkeit seiner Werkzeuge und Arbeitsmethoden, sowie endlich von dem Anteil, den er von seinem Produkt an Grundherrn, Gläubiger und Staat abzugeben hat.

Durch diese Verhältnisse wird in letzter Linie die Grundlage des Arbeitslohnes in einem Lande bestimmt. Dass sie nirgends günstiger lagen als in Amerika, bedarf nach dem Gesagten keiner weiteren Ausführung. Der Bauer hatte dort genügend Land zur Verfügung, fruchtbares Land, mit geringen Geldleistungen und ohne Abgaben an Arbeitskraft, wie sie der Kriegsdienst darstellt.

Es lieferte genügenden Überschuss zur Anschaffung wirksamer Werkzeuge, die wiederum die Erträge erhöhten, und die Volksbildung war genügend allgemein und gut, um eine intelligente Wirtschaft zu ermöglichen. Da musste die Lebenshaltung des kleinen Bauern, die grundlegend wird für die der ganzen Arbeiterklasse, eine sehr hohe sein.

Aber selbst wenn das Kapital seinen Arbeitern die dem entsprechenden Löhne zahlen wollte, hatte es in Amerika keine Aussicht. von der Bauernschaft genügende Arbeitskräfte geliefert zu erhalten. Da so viel Boden frei war, zog es ihr Nachwuchs vor, neue Bauernstellen zu gründen, statt sich in die Stadt in Abhängigkeit zu begeben. Die natürliche Vermehrung des städtischen Proletariats ist aber eine sehr geringe, sie schlägt oft in eine Abnahme um, trotz seiner Fruchtbarkeit; denn auch seine Sterblichkeit ist eine große. Und bei den hohen Löhnen war es nicht schwer, so viel zu ersparen, als zur Begründung einer neuen Bauernstelle notwendig war, deren Boden ja so gut wie nichts kostete. Da mussten sich auch vom städtischen Proletariat immer wieder zahlreiche Elemente loslösen, um sich zur Landwirtschaft zu wenden.

Ein Massenproletariat, ohne welches das industrielle Kapital nicht gedeihen kann, hätte sich unter diesen Umständen gar nicht entwickeln können, und das Kapital hätte nur die Form von Handels- und Geldkapital annehmen können, wäre ihm nicht ein mächtiger Faktor zu Hilfe gekommen: die massenhafte Einwanderung fremder Arbeitskräfte. Einerseits wurden für die Plantagen des Südens zahlreiche Arbeiter aus Afrika zwangsweise importiert; freie Arbeiter kamen aber scharenweise freiwillig aus Europa, anfangs namentlich aus England, Irland und Deutschland, später auch aus Italien, Österreich, Russland, angelockt durch die Leichtigkeit, eine behäbige Bauernwirtschaft zu gründen oder hohen Lohn in den Städten zu erwerben. Die einen vermehrten die Zahl der Bauern und damit den Markt für die Industrie, die Kundschaft für die Eisenbahnen; die anderen, denen dazu entweder die Mittel oder die landwirtschaftlichen Kenntnisse fehlten, führten dem industriellen Kapital die nötigen Arbeitskräfte zu.

So spielen die eingewanderten Fremden seit jeher in der amerikanischen Volkswirtschaft eine große Rolle, und namentlich unter der Lohnarbeiterschaft bilden sie einen starken Prozentsatz.

Das bezeugen deutlich folgende Tabellen, die wir dem Zensus von 1900 entnehmen (Occupations of the twelfth Census, Washington 1904).

Man zählte Erwerbstätige:

Berufe

1880

1890

1900

Im Inland
geboren

Im Ausland
geboren

Im Inland
geboren

Im Ausland
geboren

Im Inland
geboren

Im Ausland
geboren

Ackerbau

freie Berufe

Handel und Verkehr

Häusliche und persönliche Dienste

Industrie

6.886.417

   580.026

1.430.351

2.474.849

2.575.809

   827.458

     73.176

   441.152

   943.944

1.208.917

8.008.329

   829.956

2.601.906

2.820.962

3.920.255

1.140.119

   115.368

   724.316

1.899.850

1.858.213

9.289.044

1.113.403

3.884.497

4.081.220

4.903.670

1.092.721

   145.135

   932.467

1.499.437

2.181.639

Zusammen

13.897.452

8.494.647

18.080.308

5.237.866

23.221.843

5.851.399

 

Prozent der Erwerbstätigen jeden Jahres und Berufs

Ackerbau

freie Berufe

Handel und Verkehr

Häusliche und persönliche Dienste

Industrie

89,3

87,9

76,4

72,4

68,1

10,7

12,1

23,6

27,6

31,9

87,5

87,8

78,2

66,8

67,3

12,5

12,2

21,8

33,2

32,7

89,5

88,5

80,4

73,1

69,2

10,5

11,5

19,6

26,9

30,8

Zusammen

79,9

20,1

77,5

22,5

79,9

20,1

Von 119 Millionen Erwerbsfähigen waren 1900 fast 6 Millionen, ein Fünftel, im Ausland geboren. Am geringsten war ihre Zahl prozentuell im Ackerbau, 10,5 Prozent, am größten in der Industrie – fast 31 Prozent. Und von 1880 bis 1890 war die Zahl der Ausländer unter den Erwerbstätigen prozentuell im Zunehmen, von 1890 bis 1900 nahm sie relativ etwas ab, so dass sie den Stand von 1890 wieder erreichte.

Aber in diesen Zahlen tritt der geringe Anteil, den die Angloamerikaner am industriellen Proletariat der Vereinigten Staaten haben, noch nicht genügend zutage, denn die Neger und die im Lande geborenen Kinder von im Ausland geborenen Eltern werden hier nicht besonders aufgeführt. Tut man das, was uns leider nur für 1900 möglich ist, da frühere Ziffern in dem Zensusbericht nicht mitgeteilt werden, so finden wir:

Berufe

Eingeborene Weiße von
eingeborenen Eltern

Eingeborene Weiße von
ausländischen Eltern

Ausländische
Weiße

Neger

Indianer

Chinesen
und Japaner

Ackerbau

freie Berufe

Handel und Verkehr

Häusliche und persönliche Dienste

Industrie

  6.004.089

     806.288

  2.400.018

  1.841.853

  2.828.329

1.100.608

   259.434

1.225.351

   913.654

1.801.886

1.074.211

     47.219

   208.989

1.317.859

   275.116

2.143.154

     47.219

   408.989

1.317.859

275.116

42.460

     946

  1.532

11.965

  6.031

17.298

     755

15.923

59,928

10.992

Zusammen

13.875.329

5.300.818

5.736.818

3.992.337

62,934

104.891

 

Prozentanteil der einzelnen Abstimmungskategorien innerhalb jedes Berufs

Ackerbau

freie Berufe

Handel und Verkehr

Häusliche und persönliche Dienste

Industrie

57,8

64,1

50,4

33,0

39,8

10,6

20,6

25,78

16,4

25,4

10,4

11,4

19,2

25,7

30,6

20,6

  3,7

  4,4

23,6

  3,9

0,4

0,1

[A]

0,2

0,1

0,2

0,1

0,3

1,1

0,2

Zusammen

47,7

18,3

19,7

13,7

0,2

0,4

Also die Erwerbstätigen, die von weißen im Lande geborenen Eltern abstammen, die wir der Kürze wegen hier Angloamerikaner nennen wollen, bilden nicht einmal die Hälfte der Erwerbstätigen, unter den häusliche und persönliche Dienste Verrichtenden nur ein Drittel, in der Industrie nur zwei Fünftel der Erwerbstätigen. Unter den Berufen, in denen die Schicht der Angloamerikaner besonders stark vertreten ist, sind zu nennen, wenn wir nur die männlichen Erwerbstätigen in Betracht ziehen, die der selbständigen Bauern, der Farmer, unter denen sie 63,2 Prozent bilden, dann Advokaten (75,6 Prozent), Ärzte (74,1 Prozent) Lehrer (71,5 Prozent), Bankiers (64,9 Prozent) Handlungsreisende (64,4 Prozent) Journalisten (67,4 Prozent), Ingenieure (66,4 Prozent) In der Industrie sind sie am stärksten vertreten unter den Zimmerleuten und Bautischlern (carpenters and joiners) (54,9 Prozent).

Dagegen sind die im Ausland geborenen Weißen – ungerechnet die im Lande geborenen Kinder von ausländischen Weißen – in der Industrie besonders stark vertreten unter den Bäckern, unter denen sie 56,4 Prozent bilden, die Angloamerikaner (im obigen Sinne) nur 20,4 Prozent. Ferner unter den Färbern (53,0 Prozent, die Angloamerikaner bloß 20,6 Prozent), den Möbeltischlern (cabinetmakers) (56,5 Prozent gegen 24,9 Prozent), Hutmachern (50,4 Prozent gegen 26,4 Prozent,), sowie Bergleuten (43,7 Prozent gegen 32,3 Prozent) und endlich besonders Brauer (71,9 Prozent gegen 6,4 Prozent) und Schneider (75,8 Prozent gegen bloß 8,7 Prozent Angloamerikaner).

Die Neger überwiegen in der groben Frauenarbeit. Sie liefern 76,8 Prozent aller weiblichen Landarbeiter (509.687), sowie 65,1 Prozent der Wäscherinnen (218.227) endlich 26,9 Prozent der Dienstmädchen (345.373).

Man sieht, unter den industriellen Proletariern sind die eingesessenen weißen Amerikaner nur schwach vertreten, in vielen und wichtigen Industriezweigen bilden sie nur ein Viertel, ja bloß ein Fünftel, bei zweien nicht einmal ein Zehntel der Erwerbstätigen.

Besonders gering ist die Zahl der Angloamerikaner in New York. Von 1102.471 männlichen Erwerbstätigen sind dort nur 195.205 Weiße, die von eingeborenen Eltern stammen; unter 419.594 Industriearbeitern nur 52.827, unter 56.095 Schneidern nur 580. Dafür gilt aber auch New York drüben nur als eine Vorstadt von Europa.

Die Arbeiter innerhalb der einzelnen hier aufgezählten Gruppen bilden aber auch nichts weniger als eine einheitliche Masse. Namentlich die Eingewanderten stellen eine höchst bunte Musterkarte dar. Die stärkste Gruppe unter ihnen bilden die Deutschem die 29,5 Prozent der Eingewanderten ausmachen, dann die Irländer (21,7 Prozent) und die Engländer (9,3 Prozent).

Auf die verschiedenen Berufe verteilen sich wieder die Eingewanderten jeden Landes in sehr verschiedener Weise. Die einen bevorzugen den Ackerbau. Ihm wenden sich von den männlichen Eingewanderten 35,4 Prozent der Tschechen zu, 39,6 Prozent der Schweizer, 44,4 Prozent der Dänen, 54,6 Prozent der Norweger. Dagegen der Industrie 40,0 Prozent der Engländer, 41,2 Prozent der Schotten. 44,5 Prozent der Polen, 45,8 Prozent der Russen (wohl vornehmlich Juden), 49,4 Prozent der französischen Kanadier, 52,4 Prozent der Österreicher, was immer der Zensus darunter verstehen mag, der die Böhmen besonders aufführt; endlich 59,7 Prozent Ungarn – wohl meist Bergleute. Den Handel begünstigen am meisten die Russen, die ihm 30,6 Prozent ihrer Zahl zuführen, die persönlichen Dienste die Italiener (41,2 Prozent). Die Deutschen verteilen sich ziemlich gleichmäßig über Landwirtschaft und Industrie, Landwirtschaft 28,3, Industrie 34,7 Prozent.

Schon der österreichischen Sozialdemokratie erwachsen vielfache Schwierigkeiten durch die Mannigfaltigkeit der Nationen, aus denen sich die Proletarier des Landes rekrutieren. Aber diese sind doch wenigstens keine Fremden, sie sind alle unter der gleichen Regierung, den gleichen Gesetzen, vielfach den gleichen Kulturverhältnissen aufgewachsen; so unterscheidet den Deutschböhmen vom Tschechen nicht viel mehr als die Sprache. Dagegen in Amerika sind die Eingewanderten an Rasse, Religion, kultureller Eigenart voneinander wie von den eingesessenen Amerikanern meist so verschieden, dass sie einander kaum verstehen, selbst wenn sie gelernt haben, die gleiche Sprache zu sprechen. Nirgends ist es schwerer als dort, diese Masse zu einer einheitlichen Bewegung zusammenzufassen.

Stammt in Russland ein sehr großer Teil des Kapitals aus dem Ausland, wodurch es in der Bevölkerung schwächer, das Proletariat stärker wird, als der industriellen Höhe des Landes entspricht, so stammt in Amerika ein sehr erheblicher Teil des industriellen Proletariats aus dem Ausland, und zwar aus allen Weltteilen, indes sein Kapital ganz inländisch und fast ganz auf den Interessenkreis des industriellen Kapitals beschränkt ist. Hier ist das Kapital stärker, das Proletariat schwächer, als die industrielle Höhe des Landes bedingt.

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Anmerkung

1. Karl Marx, Das Kapital.

2. Karl Marx. 3. Kauf und Verkauf der Arbeitskraft, Das Kapital, S. 185.

A. Weniger als 0,1 Prozent.


Zuletzt aktualisiert am 22. Oktober 2024