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Die Neue Zeit, Jg. 24.1905–1906, 1. Bd. (1905–1906), H. 22 (21. Februar 1906), S. 720–722.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Wieder einen besonderen Typus stellen die Vereinigten Staaten dar. Als kapitalistisches Land sind sie nicht viel älter als Russland. Nach Bryce gab es noch in der Zeit zwischen 1830 und 1840 in Amerika wenige große Vermögen und keine Armut. 1845 zählte man in Philadelphia erst 10 Millionäre (Dollarmillionäre) in New York 1855 nur 28. Es war der Bürgerkrieg im Anfang der sechziger Jahre, der in den Vereinigten Staaten plötzlich das Kapital zur Herrschaft brachte. Seitdem hat es sich mit rasender Schnelligkeit entwickelt. Die Akkumulation und Konzentration von Kapital machte rapide Fortschritte. 1892 zählte man, wie Cleveland Moffett berichtet (Wilshire’s Magazine) in Philadelphia 200 Millionäre, und in New York soll es ihrer 1.000 geben.
„An Kapitalkraft, an Höhe der Kapitalakkumulation“, sagt Sombart in dem schon eingangs erwähnten Artikel, „stehen die Vereinigten Staaten heute schon – trotz ihrer ,Jugend‘ – allen übrigen Ländern weit voran. ... Die gesamte Kapitalkraft (,the banking power‘) der Vereinigten Staaten (also Kapital, ‚Surplus Profits‘, Depositen und Umlauf) berechnet ein Berichterstatter auf 13.826 Millionen Dollar, während die entsprechende Ziffer für alle übrigen Länder der Erde zusammen nur 19.781Millionen Dollar betragen soll. Da dürfen uns die Kapitalmengen nicht in Erstaunen setzen, die allein in den Schoß der Industrie während der letzten 20 Jahre geflossen sind. Nach dem Zensus betrug das in ‚Manufactures‘ investierte Kapital:
1880 |
2.790.272.600 Dollar |
1890 |
6.525.050.759 Dollar |
1900 |
9.831.486.500 Dollar (S. 213) |
Die Konzentration des Kapitals aber tritt deutlich zutage in dem Umfang, den die amerikanischen Trusts erlangt haben. Sombart gibt eine Übersicht über diese nach dem Werke Moodys über die Trusts vom Jahre 1904 und resümiert deren Resultate in den Worten:
„Zählt man alle diese Riesenkombinationen zusammen, in denen heute der bei weitem größte Teil des amerikanischen Wirtschaftslebens gebunden ist. so kommt man zu der enormen Ziffer von 8.664 ‚kontrollierten‘ Anlagen und 20.879 Millionen Dollar nominellen Kapitals. Man denke: 85 Milliarden Mark in den Händen weniger Unternehmer vereinigt!“ (S. 214.)
In einem eben erschienenen trefflichen Schriftchen, das einen kurzen Abriss der ökonomisch-politischen Entwicklung der Vereinigten Stauten von ihrem Anbeginn an gibt, schätzt Genosse Simons das heutige Vermögen der Trusts sogar auf 30 Milliarden Dollars, 120 Milliarden Mark (A. M. Simons, Class struggles in America, 2. Aufl., 62 S. Chicago, Ch. H. Kerr).
Das Vermögen des reichsten unter den Finanzmagnaten, John D. Rockefeller, allein wird auf 1 Milliarde Dollar geschätzt, also so viel wie die Kriegsentschädigung, die 1871 Frankreich an Deutschland zu zahlen hatte, eine Summe, die damals eine unerhörte war und von der mancher zweifelte, ob das reiche Frankreich sie werde aufbringen können.
Allerdings überragt John Rockefellers Besitz weit den seiner Mitmagnaten. Die neun reichsten unter ihnen besitzen erst ungefähr so viel wie er allein,
Andrew Carnegie, Marshall Field, W. K. Vanderbilt, J. J. Astor, J. P. Morgan, Russell Sage, J. J. Hill, William A. Clarke und William Rockefeller. Das Kapital, das sie beherrschen oder „kontrollieren“, ist aber weit größer als das, welches sie besitzen.
Woher dieses fabelhafte Wachstum des Kapitals?
Sicher rührt es in erster Linie davon her, dass es in Amerika keine bedeutende Macht gibt, mit der das Kapital seinen Mehrwert zu teilen hätte und die ihren Anteil unproduktiv verpulverte. Dank den ungeheuren Strecken herrenlosen Landes gab es bis vor kurzem keine landwirtschaftliche Grundrente von Belang in den Vereinigten Staaten, keine Klasse von Grundbesitzern, die einen Teil des Mehrwertes an sich zog, um ihn zu vergeuden, wie es der feudale Grundbesitz Europas tut. Ich sehe hier ab von Plantagenbesitzern des Südens, deren Regime zu Ende ging, als das der Kapitalisten begann. Dann aber waren die Vereinigten Staaten in der angenehmen Lage, so fern von allen europäischen Händeln und so sicher vor jeder Invasion zu sein, dass sie für den Militarismus nicht viel zu opfern brauchten. Ihre Flotte wie auch ihr Landheer waren gering. Die amerikanische Armee zählte 1870 nur 35.000 Mann, 1903 60.000. Diese Armee, aus Angeworbenen bestehend, kostet allerdings relativ viel, aber dem Lande bleibt der Aderlass erspart, den in Europa die unproduktive Beschäftigung so vieler Millionen der besten Arbeitskräfte verursacht. Im Deutschen Reiche allein sind es jetzt über 600.000 Männer, die auf diese Weise der Produktion entzogen werden. Nehmen wir an, dass jeder einen Wert von 1.000 Mark im Jahre produzieren könnte – Arbeitslohn und Mehrwert in den verschiedenen Formen –, so verliert durch den Militarismus das deutsche Volk jahraus jahrein neben der Milliarde, die das Heer kostet, noch über eine zweite Milliarde, die es produzieren könnte.
Rechnet man dazu die statistisch kaum festzustellenden Summen, die als Grundrente vom feudalen Grundbesitz jährlich unproduktiv verschwendet werden (die dem Grundbesitz in England jährlich zufließende Grundrente wird auf 300 Millionen Pfund Sterling, 6.000 Millionen Mark, geschätzt), so erhält man für Deutschland allein – ebenso steht es aber mit den anderen Staaten Europas – eine Riesensumme, die der Volkswirtschaft durch das Bestehen von Grundbesitz und Militär jährlich entzogen wird und die entweder zur Hebung des persönlichen Konsums der arbeitenden Klassen oder zur Akkumulation von neuem Kapital verwandt werden könnte.
Kein Wunder, dass in den Vereinigten Staaten, die keine derartige Last zu tragen haben, das Kapital weit rascher anwächst als in Europa, und dass dieses von Amerika immer mehr überflügelt wird.
Aber im Gegensatz zu England bleibt dieses Kapital im Lande und dient hauptsächlich der Entfaltung der Industrie. Denn während sich die Ausdehnung des Marktes für die englische Industrie immer mehr verlangsamt, hat sich der für die amerikanische rasch ausgedehnt Auch hierbei war entscheidend die Menge freien, noch von keinem Privaten besessenen Landes, sowie die Geringfügigkeit der Lasten, die aus dem amerikanischen Bauern ruhen. Man brauchte nur dies Land der Bebauung zugänglich zu machen, um, dank der großen natürlichen Bevölkerungszunahme sowie der Einwanderung, die Menge der Bauernstellen rasch zu vermehren und damit den inneren Markt entsprechend zu erweitern.
Das Mittel dazu war der Bau von Eisenbahnen in menschenleeren Einöden, die für die Ausdehnung der Industrie und ihres Absatzmarktes in Amerika eine ganz andere Bedeutung gewonnen haben als in Europa.
Ganz Europa zählte 1902 296.000 Kilometer Eisenbahnen, Deutschland 53.700, die Vereinigten Staaten allein dagegen 326.000.
Es wuchs aber die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft der Vereinigten Staaten in folgender Weise:
1870 |
5.948.561 |
1880 |
7.713.875 |
1890 |
8.565.926 |
1900 |
10.381.765 |
Zunahme 1870 bis 1900 |
4.433.204 |
Dagegen finden wir in England für diese Bevölkerungsschicht folgende Zahlen:
1871 |
1.657.138 |
1881 |
1.383.184 |
1891 |
1.336.945 |
1901 |
1.152.495 |
Abnahme 1871 bis 1901 |
504.643 |
Aus Deutschland haben wir keine Zahlen für einen so langen Zeitraum. Die uns zur Verfügung stehenden bekunden einen Stillstand der Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, eine Abnahme der Gesamtbevölkerung dieses Berufs.
Man zählte in der Landwirtschaft des Deutschen Reiches:
|
Erwerbstätige |
Berufsbevölkerung |
1882 |
8.236.496 |
19.225.455 |
1895 |
8.292.692 |
18.301.307 |
Zu- (+) oder Abnahme (−) |
+56.196 |
−724.158 |
Die landwirtschaftliche Bevölkerung Amerikas nahm also in ganz anderer Weise zu wie die Europas. Aber nicht bloß darin unterscheidet sich die erstere von der letzteren, sondern auch in ihrer Konsumfähigkeit. Der amerikanische Farmer ist ganz anderer Natur als der englische Landarbeiter oder der russische und selbst der deutsche Kleinbauer. Ihm stand wenigstens bisher so viel Land zu Gebote, als er bebauen konnte, und von dem Werte, den er produzierte, hatte er, fast allgemein noch vor zwei Jahrzehnten und in hohem Grade bis jetzt, keine Grundrente zu bezahlen, weder in der Form von Pachtzins, noch in der von Hypothekenzinsen; er hatte auch dem Staate davon weniger an Geld abzugeben, als in Europa, und war frei von dem Tribut von Arbeitskraft, den die militärische Dienstpflicht bildet. Der größte Teil des Wertes, den er produzierte, verblieb also ihm, diente ihm entweder zu seinem persönlichen Konsum oder zur Erneuerung und Verbesserung seines technischen Apparates; in der einen wie in der anderen Form wurde dadurch ein Markt für die Industrie geschaffen. Daneben bildeten aber auch die Eisenbahnen mit ihrem gewaltigen Bedarf eine stets wachsende Kundschaft für die Industrie. Die Eisenbahnen hängen aber ebenfalls mit der Landwirtschaft zusammen: von dem Ertrag der letzteren, den sie zu verfrachten hatten, hing zum großen Teile ihre Rentabilität ab.
Wenn die Eigenart der amerikanischen Verhältnisse die Akkumulation des Kapitals besonders begünstigte, so wirkte sie auch dahin, dass die ganze ungeheure Masse des akkumulierten Kapitals im Lande Verwendung fand, und zwar vornehmlich in der Industrie – das Eisenbahnwesen inbegriffen.
Die gesamte Kapitalistenklasse des Landes hat daher direkt oder indirekt das höchste Interesse an der größten Ausbeutung der Arbeiterklasse, denn davon hängt die Höhe ihres Profits ab. Sie steht dieser also geschlossener und feindlicher gegenüber als die Englands, wo Geldkapital und Handelskapital vielfach andere Interessen haben als das industrielle Kapital, und wo sie ihre Profite zum Teil aus anderen Quellen ziehen, als aus der Ausbeutung der Arbeiter des eigenen Landes.
Zuletzt aktualisiert am 22. Oktober 2024