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Die Neue Zeit, Jg. 24.1905–1906, 1. Bd. (1905–1906), H. 22 (21. Februar 1906), S. 717–719.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Ganz anders als in Russland sind die Wirkungen der kapitalistischen Entwicklung in einem Lande wie England, wo sich in den letzten Jahren einerseits der Markt für die Industrie und damit diese selbst nur langsam erweitert, indes andererseits die Masse des Mehrwertes, die der Kapitalistenklasse zufließt, und daher auch die Akkumulation neuen Kapitals eine kolossale ist, wo also jahraus jahrein eine stets wachsende Masse Kapital, statt zu industriellem Kapital im Inland zu werden, als Geldkapital ins Ausland fließt, um dort entweder die Form unproduktiver Staatsanleihen oder von industriellem oder Handelskapital anzunehmen.
Die Zahl der Kapitalbesitzer im Lande wird da eine weit größere, als der Ausdehnung seiner Industrie entspricht. Unter Umständen kann ihre Zahl sehr wohl rascher wachsen als die der Proletarier, nur muss man sich davor hüten, diesen Fall für den Normalfall der kapitalistischen Gesellschaft zu halten. Jenes Extrem ist in den einen Ländern ja nur so lange möglich, als in anderen Ländern das entgegengesetzte Extrem besteht.
Der übergroßen Menge von Kapitalisten entspricht auch eine übergroße Menge von Bediensteten sowie von Mitgliedern sogenannter freier Berufe. Nach den letzten Zählungen zählte das Deutsche Reich bei einer Gesamtbevölkerung von 57,8 Millionen und 22,1 Millionen Erwerbstätigen (1895) 1.340.000 häusliche Dienstboten (6,1 Prozent der Erwerbstätigen) und 795.000 in öffentlichem Dienste und freien Berufen Beschäftigte (3,6 Prozent). Dagegen finden wir in England (ohne Schottland und Irland) bei einer Volkszahl von 32,5 Millionen und 14,3 Millionen Erwerbstätigen (1901) unter der Rubrik häusliche Dienste 1.995.000 (13,9 Prozent) der Erwerbstätigen und unter der der freien Berufe 804.000 (5,6 Prozent) verzeichnet. Beide Kategorien zusammen umfassten also in Deutschland 9,7 Prozent, in England 19,5 Prozent der Erwerbstätigen, dort also gerade doppelt so viel wie hier. Bemerkenswert ist, dass die Landwirtschaft in England nur 8 Prozent der Erwerbstätigen stellt, viel weniger als Bediente und Dienstboten!
Auch in den Niederlanden, wo das im Ausland angelegte Geldkapital ebenfalls eine große Rolle spielt, finden wir 10,3 Prozent der Erwerbstätigen als Dienstboten und 5,4 Prozent in den freien Berufen und öffentlichen Diensten beschäftigt. England und Holland weisen prozentuell die höchste Zahl von Intellektuellen auf.
Sind aber der Zahl nach diese beiden Bevölkerungsklassen in England besonders stark, so sind sie dort auch in höchstem Grade vom Kapital abhängig. Ganz abgesehen von den Dienstboten, sind auch die Künstler, Gelehrten und Schriftsteller in England mehr als anderswo im Bannkreis des Kapitalismus; einmal dadurch, dass dieser sie dort mehr als in anderen Ländern als Kunde oder Unternehmer von sich abhängig macht; dann aber auch dadurch, dass ein ungemein großer Teil der Mitglieder freier Berufe an der kapitalistischen Ausbeutung selbst interessiert ist.
Im Unterschied zum industriellen und kommerziellen Unternehmer ist der bloße Geldkapitalist, zum Beispiel der Besitzer von Staatspapieren oder Aktien, in der angenehmen Lage, der Verwaltung seines Besitzes gar keine Zeit widmen zu müssen. Eine Bank nimmt ihm das bisschen Verwaltungsarbeit gern ab. Neben dem bloßen Grundbesitzer ist der bloße Geldkapitalist die müßigste und überflüssigste Person in der kapitalistischen Gesellschaft. Das gibt ihm Gelegenheit, in der dümmsten Weise die Zeit totzuschlagen, und er macht in der Regel reichlichen Gebrauch davon. Mit Geist und Anmut zu genießen, wie manche grundbesitzende Aristokratie in Ländern alter Kultur – Athen, Frankreich –, ist dem modernen Kapitalisten nicht beschieden, wie namentlich die amerikanischen Finanzmagnaten in der schreiendsten Weise dokumentieren. Aber dort, wo die Zahl der Geldkapitalisten sehr groß, finden sich immerhin einige, die ihre Muße dazu verwenden, künstlerische oder wissenschaftliche Arbeiten zu vollführen oder doch durch ihre Teilnahme zu fördern.
Andererseits aber führt die Entwicklung des unpersönlichen Geldkapitals, der Bank-, Eisenbahn- und Industrieaktien und der Schuldverschreibungen von Staaten, Provinzen, Gemeinden dazu, dass auch die kleinsten Geldbeträge nun zu Geldkapital werden können. Das macht auf den Lohnarbeiter, der daran teil hat, geringen Eindruck. Seine Gegensätze zum Kapital, das ihn ausbeutet, sind zu groß, als dass sie durch die Verzinsung seiner dürftigen Ersparnisse überbrückt werden könnten. Dagegen beeinflusst das schon die Mitglieder der Intelligenz, die oft größere Geldüberschüsse erzielen und die der Kapitalistenklasse durch Lebenshaltung und gesellschaftliche Beziehungen weit näher stehen und sich meist nicht von ihr ausgebeutet fühlen.
Alles das bewirkt, dass kapitalistisches Denken und Fühlen in der Intelligenz Englands hoch entwickelt ist. Während die russische Intelligenz noch ein starkes kommunistisches Empfinden bewahrt hat, dort das Teilen eventueller Überschüsse mit den Kameraden als etwas Selbstverständliches erscheint, wiegt in der englischen Intelligenz gerade so wie in der Kapitalistenklasse das Streben vor, jeden Überschuss zu akkumulieren, in Kapital zu verwandeln. Kein Wunder, dass die Zahl der Mitglieder der englischen Intelligenz sehr gering ist, von denen das Proletariat eine tiefere Einsicht über seine Klassenlage und seine Klasseninteressen und Ausgaben gewinnen könnte, als es selbst aus seiner alltäglichen Erfahrung schöpft.
Aber nicht nur, dass Bediententum und die Berufe der Intelligenz in England zahlreicher und mehr vom Kapital abhängig sind als anderswo, das starke Abströmen von Kapitalien ins Ausland, dem ein starkes Zuströmen von Mehrwert ins Land entspricht, bewirkt auch, dass der Gegensatz des Proletariats gegen das kapitalistische System ein schwächerer ist, als der Höhe der industriellen Entwicklung Englands entspräche. Während in einem Lande wie Russland oder Indien die kapitalistische Ausbeutung stetige Verarmung des Landes bedeutet, ist sie in England ein Mittel, das Land immer mehr und mehr zu bereichern, in ihm immer größere Beute aufzuhäufen, die durch Plünderung der ganzen Welt gewonnen wurde. Davon profitieren aber in mancher Beziehung auch die besitzlosen Klassen. Je größer der Mehrwert, der vom Ausland kommt, desto größer die Summen, die davon in Form von Steuern dem Staate und den Gemeinden zufließen, was entweder erlaubt, die ärmeren Klassen mehr zu schonen oder die Leistungen des Gemeinwesens zu vergrößern. Wenn England noch immer das Land des Freihandels ist, so dankt es dies zum Teil der wachsenden Ausbeutung des Auslandes – ebenso wie Holland. Die Schutzzölle sind auch Finanzzölle, Abgaben auf den Konsum der großen Masse der Bevölkerung. In England ist die Masse des der Kapitalistenklasse jährlich von außen zufließenden Mehrwertes so enorm, dass sie auf dieses Mittel, die Bevölkerung zu schröpfen, verzichten kann. Für das Geldkapital wie das Handelskapital ist aber der Schutzzoll auch nicht ein Mittel, den Profit zu erhöhen, wie für das industrielle Kapital. Dank dem Überwiegen der ersteren Arten von Kapital bleibt England freihändlerisch, hält es sich fern von den Mitteln der modernen Schutzzöllnerei, die den Klassengegensatz zwischen Proletariat und Kapital erheblich verschärfen, da sie jenes zugunsten dieses schwer belasten.
Die Masse des Mehrwertes, die nach England strömt, erleichtert aber auch dem englischen Kapital die Übung der Wohltätigkeit, die wohl nirgends in so hohem Umfang entwickelt ist wie in England. Freilich fällt der Löwenanteil an ihr Sprösslingen der besitzenden Klassen und Mitgliedern der Intelligenz zu; die Verwaltungskosten der wohltätigen Stiftungen in England sind enorme. Was für die wirklich Bedürftigen übrig bleibt, ist relativ wenig und lange nicht ausreichend, das furchtbare Elend auch nur einigermaßen einzudämmen, wie eben jetzt wieder die Arbeitslosigkeit deutlich zeigt; aber es genügt, in vielen Arbeitern den Gegensatz zum kapitalistischen System abzustumpfen.
Wohl ist der Gegensatz des Proletariats gegen das industrielle Kapital in England seit den achtziger Jahren wieder im Wachsen, seitdem die britische Industrie ihre Vorherrschaft auf dem Weltmarkt verloren hat und sie der erbitterten Konkurrenz stets gefährlicher anwachsender Industriestaaten ausgesetzt ist. Aber die englischen Arbeiter können sich nur schwer entschließen, den Kampf gegen die industriellen Unternehmer zu erweitern zu einem Kampfe gegen das ganze kapitalistische Ausbeutungssystem. Sie wenden sich nur gegen Einzelerscheinungen, wie das Schwitzsystem oder die Arbeitslosigkeit, ohne sich zu fragen, wie weit diese mit der Gesamtheit der kapitalistischen Gesellschaft zusammenhängen, und ohne dieser Gesellschaft in allen ihren Äußerungen entgegenzutreten, ohne alle ihre Machtpositionen anzugreifen. Während des Burenkriegs fand der Chauvinismus keinen energischen Widerstand in ihren Reihen. Selbst manche Sozialisten zollten damals dem Imperialismus ihren Tribut. Indiens Klagen finden bei ihnen taube Ohren. Die neue Arbeiterpartei will wohl unabhängig bleiben von Liberalen und Konservativen, aber sie lehnte es bisher ab, ein bestimmtes Programm zu akzeptieren, aus Furcht, es müsste ein sozialistisches sein. Und selbst Keir Hardie fühlte sich noch vor einem Jahre gedrängt, gegen die Idee des Klassenkampfs zu polemisieren.
So ist im Gegensatz zu Russland der Kapitalismus nirgends stärker, findet der sozialistische Gedanke in der Arbeiterschaft selbst nirgends mehr Hindernisse als in jenem Lande, von dessen Erwerbstätigen zwei Drittel der Industrie (samt dem Eisenbahnwesen) angehören.
Aber freilich muss um so furchtbarer der Zusammenbruch des englischen Kapitalismus in dem Zeitpunkt werden, in dem das ihm tributpflichtige Ausland sich empört und den Tribut verweigert. Verliert England Indien, Ägypten, Südafrika, dann bleiben zahlreiche Mehrwerte aus, die es heute bereichern, dann muss es höhere Staats- und Gemeindelasten auf die Arbeiter wälzen, dann gewinnt das industrielle Kapital wieder die entscheidende Stimme, dann spitzt sich sofort auch in England der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit zu seiner größten Schärfe zu. Sollte er nicht früher schon kommen, so wird dann der Sozialismus in England unvermeidlich. Bis dahin aber hat er dort schwerer zu kämpfen als in weit rückständigeren Ländern.
Zuletzt aktualisiert am 22. Oktober 2024