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Die Neue Zeit, Jg. 24.1905–1906, 1. Bd. (1905–1906), H. 21 (14. Februar 1906), S. 680–683.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Die Unterscheidung der gesellschaftlichen und politischen Wirkungen des Kapitals, das aus dem Ausland stammt, von denen des Kapitals, das im Lande selbst akkumuliert wurde und dort den Mehrwert an sich zieht – das ist eine Frage, die für die klassische Ökonomie und auch für Marx selbst noch nicht hervortrat. Ricardo wies noch darauf hin, wie schwer die Hindernisse der Auswanderung von Kapitalien zu überwinden seien (im 7. Kapitel seiner Grundsätze). Diese Hindernisse sind erst in neuerer Zeit fast völlig geschwunden.
Andererseits aber musste die Theorie das Problem der Wirkungen des Kapitals in seiner einfachsten Form untersuchen, also unter völligem Absehen vom Ausland, unter der Voraussetzung, dass es nur ein einziges kapitalistisches Gemeinwesen gebe, wie sie ja auch nur Kapitalisten und Lohnarbeiter unterscheidet und von allen anderen Klassen absieht, die für die gesellschaftliche und politische Praxis doch von großer Bedeutung sind. Erst wenn man die kapitalistischen Zusammenhänge in diesen einfachsten Formen begriffen hat, kann man auch ihre komplizierteren untersuchen und verstehen.
Die Macht des Kapitals gegenüber der Lohnarbeiterschaft liegt klar zutage. Je mehr Kapital aufgehäuft wird, je mehr der Großbetrieb sich entwickelt, desto mehr werden die Produktionsmittel das Monopol der Kapitalistenklasse, desto größer wird die Masse der Besitzlosen und desto unmöglicher wird es für diese, auf andere Weise ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, als durch Verkauf ihrer Arbeitskraft an die Alleinbesitzer der Produktionsmittel. Das ist bekannt.
Aber je mehr die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt und die Masse des Kapitals wächst, desto abhängiger vom Kapital werden auch die nichtkapitalistischen besitzenden und herrschenden Klassen, die Mehrwert, oft sogar Teile des Wertes der Arbeitskraft, dank ihren Machtpositionen an sich ziehen; so die Grundbesitzer die Grundrente, die Landesfürsten die Steuern. Ihre feudalen Traditionen wie ihre gesellschaftlichen und politischen Funktionen in der heutigen Gesellschaft veranlassen diese Klassen dazu, möglichst viel Geld auszugeben – man denke zum Beispiel nur an das Wettrüsten der Staaten. Daher sind sie in steter Geldnot und müssen immer wieder Geld von jener Klasse pumpen, die Kapital akkumuliert, und unter deren Botmäßigkeit sie dadurch geraten, so viel Hass und Verachtung sie auch für ihre Geldgeber empfinden mögen.
Endlich aber beruht die Macht des Kapitals in der Gesellschaft auch auf der Abhängigkeit, in die es jene unproduktiven Klassen versetzt, die nicht, wie zum Beispiel der Grundbesitz, stets ein nutzloses Schmarotzerdasein führen, sondern die sehr tätig in der Gesellschaft sind und von denen manche ungemein nützlich, ja unentbehrlich für die Gesellschaft werden können.
Was die Mitglieder einer herrschenden und ausbeutenden Klasse persönlich verzehren, ist in der Regel unbedeutend und wird verhältnismäßig um so geringer, je größer das Maß der Ausbeutung. Einen großen Teil des Überschusses, den die produktiven Klassen erzeugen und die ausbeutenden ihnen abnehmen, haben diese stets dazu verwendet, eine Schicht unproduktiver, aber für die Ausbeuter tätiger Klassen zu erhalten. Aus dieser Schicht beruhte stets zum großen Teil die gesellschaftliche und politische Macht der Ausbeuter. Das was zum Beispiel die Grundherren des Mittelalters aus den Bauern herausquetschten, das verzehrten sie nicht allein, daraus besoldeten sie Dienstmannen und Gefolgsleute, Possenreißer und Dirnen, Minnesänger und Astrologen, Burgkapläne und Stallknechte usw. Alle diese lebten von dem Ertrag der Ausbeutung des produktiven Volkes, standen diesem als Teilhaber an der Ausbeutung, als Verfechter der Ausbeutung gegenüber.
Je mehr nun die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt und je mehr das Kapital als Ausbeutungsmittel in den Vordergrund tritt. desto größer wird auch die Menge der unproduktiven Arbeiter, die es beschäftigt. Die Akkumulation ist freilich die Hauptaufgabe des Kapitalisten, der er alle anderen unterordnet. Solange die Kapitalien noch gering, ihre Erträge klein sind, knausert der Kapitalist an seinem persönlichen Konsum, ist er puritanisch und voll Verachtung nicht bloß für sinnlosen Luxus und Prunk, sondern selbst für ernste Künste und Wissenschaften. Aber je mehr das Kapital und der Grad der Ausbeutung wächst, die es übt, desto leichter fällt es den Kapitalisten, nicht nur die Akkumulation aufs Rascheste vorangehen zu lassen, sondern auch ihrem persönlichen Konsum eine größere Ausdehnung zu geben und daneben noch ein Heer von unproduktiven Arbeitern zu füttern, Lakaien aller Art, gelehrte und ungelehrte, ästhetische und unästhetische, ethische und zynische.
Diese unproduktiven Arbeiter sind aber ein starker Schutzwall der Ausbeutung, an der sie indirekten Anteil haben. Sie vermindern nicht bloß durch ihre Zahl die der produktiven, direkt ausgebeuteten Arbeiter, der Kämpfer gegen die Ausbeutung. Zu ihnen gehört auch ein großer Teil der Intelligenz, die das Denken und Empfinden des Volkes durch ihre Predigten, Schriften, Kunstleistungen beeinflusst. Endlich aber bilden diese Schichten die den Ausgebeuteten am ehesten zugänglichen Stufen, um aus dem Bereich der Ausbeutung emporzusteigen zu einer der herrschenden Klasse näher liegenden Position. Je stärker diese Schichten, desto größer die Aussicht, von unten aus in sie einzutreten, desto zahlreicher jene Elemente unter den Ausgebeuteten, die dadurch, anstatt durch einen energischen Klassenkampf, ihre Lage zu verbessern gedenken, desto stärker der Einfluss, den die unproduktiven Arbeiter auch in dieser Weise auf die Gesinnung der produktiven üben.
Wie gestalten sich nun diese Verhältnisse dort, wo das Kapital nicht aus dem Lande selbst stammt, sondern von außen geliefert wird, so dass der Mehrwert, den es ergattert, auch dahin abfließt?
Der Gegensatz zwischen dem Unternehmer und dem Lohnarbeiter, ebenso wie der zwischen dem Wucherer und Schuldner tritt schärfer zutage, wird leichter erkannt und schwerer empfunden, wenn beide Teile verschiedenen Nationen angehören, denen jede kulturelle Gemeinsamkeit fehlt. Das macht sich jedoch nur dort geltend, wo beide Teile in persönliche Beziehungen zueinander treten, also in der Regel dort, wo beide Teile im gleichen Lande wohnen. In Russland also etwa, wenn der Fabrikant oder Fabrikdirektor oder Geldgeber ein Jude gegenüber Nichtjuden oder ein Deutscher gegenüber Slawen ist. Bei unpersönlichem Kapital – Staatsanleihen und Aktiengesellschaften – fällt dieser persönliche Gegensatz von vornherein weg.
Andererseits führt, wie schon bemerkt, das Abfließen des Mehrwertes ins Ausland zu einem Verarmen des ganzen Landes, aller Klassen, nicht bloß der produktiv tätigen. Aber zunächst braucht das nicht bemerkt zu werden. Die erste Wirkung des Kapitals, das vom Ausland kommt, ist ja die, die Kapitalmenge im Inland auszudehnen, die Nachfrage nach Produktionsmitteln zu vermehren, die Zahl der Arbeiter zu vergrößern, die bei deren Produktion beschäftigt sind, und so auch ihren Konsum an Gegenständen des persönlichen Konsums zu erweitern. Erst allmählich treten dann die Wirkungen des zunehmenden Abflusses von Mehrwert ins Ausland ein. der schließlich eine solche Ausdehnung annimmt, dass ihn weitere Kapitaleinwanderungen höchstens vorübergehend verdecken können.
Von vornherein verarmend für das Land wirken natürlich solche Anleihen beim Ausland, die gar kein Kapital in den Staat hineinbringen, deren Ertrag zum Beispiel nur dazu bestimmt ist, fällige Schuldenzinsen an ausländische Gläubiger oder unproduktive Ankäufe von Produkten auswärtiger Industrien, etwa Kanonen oder Kriegsschiffe, zu bezahlen.
Zunächst schien auch für Russland die steigende Verschuldung an das Ausland seit den achtziger Jahren eine Ära wirtschaftlichen Aufschwunges hervorzurufen. Und es gibt jetzt noch hoffnungsvolle Toren genug, die da meinen, wenn erst wieder Ruhe und Ordnung in Russland hergestellt sei, dann werde dort auch allgemeiner Wohlstand eintreten – ohne dass das bestehende Regime der Bürokratie und des Militarismus und die auf ihm hervorgehende Notwendigkeit steigender Verschuldung an das Ausland irgendwelche Veränderung zu erleiden brauche.
Was aber von vornherein dort zutage treten muss, wo einem Lande mit kapitalistischer Industrie das Kapital in überwiegendem Maße vom Ausland geliefert wird, das ist das Fehlen einer erheblichen Schicht unproduktiver Arbeiter – Bediente und Intellektuelle –, die vom Kapital abhängig wäre. Die Zahl unproduktiver Arbeiter mag da absolut sehr stark sein, aber das Kapital wird geringen Einfluss aus sie haben. Soweit sie persönliche Dienste leisten, werden sie vorwiegend von anderen Klassen abhängig sein – etwa vom Grundbesitz. Soweit sie Intellektuelle sind, wird ihre Existenz eine dürftigere, aber von kapitalistischem Fühlen und Denken weniger abhängige sein.
Das Kapital wirkt auf diese Schichten nur dort, wo es seinen Mehrwert verzehrt, nicht dort, wo es ihn bezieht. Ein französischer Finanzmann, der kühn genug war, seine Gelder in russischen Staatspapieren und Eisenbahn- oder Industrieaktien anzulegen, mietet nicht russische Bediente, sondern französische, amüsiert sich mit französischen Schauspielerinnen, nicht russischen, wird der Maecenas französischer Musiker, Maler, Dichter, bewirtet neben diesen in seinen Salons französische, nicht russische Politiker und Gelehrte, und unterstützt, wenn er fromm ist oder dem Volke die Religion erhalten will, französische, nicht russische Klöster; er besticht französische, nicht russische Journalisten. Der in Russland erzeugte Mehrwert dient hier dazu, seinen Einfluss in Frankreich, nicht in Russland zu steigern.
Das ist wohl ein wichtiger Grund dafür, warum die Intelligenz in ihrer Masse nirgends eine dürftigere Lebenshaltung hat, warum wir aber auch in ihr nirgends größere Unabhängigkeit vom Kapital, einen schärferen Gegensatz gegen dieses, ein größeres Verständnis für das Proletariat, eine glühendere Hingebung an dieses finden als in Russland.
Jene Schicht, die in Westeuropa berufsmäßig damit beschäftigt ist, das Klassenbewusstsein des Proletariats einzuschläfern und irrezuführen, arbeitet in Russland in ihrer Mehrheit unermüdlich daran, das Proletariat über seine Klassenlage aufzuklären. Nirgends ist die Zahl der theoretisch gebildeten sozialistischen Agitatoren größer als im Lande der Analphabeten.
Wenn das russische Proletariat in seinem Kampfe gegen das Kapital und dessen Exekutor, den Absolutismus, mehr als das Proletariat jedes anderen Landes das dringende Lebensinteresse der gesamten russischen Gesellschaft vertritt, so wird es dabei mehr als das eines anderen Landes von einer großen Schar Vertreter des modernen wissenschaftlichen Denkens und Forschens und des modernen künstlerischen Empfindens geschult und begeistert.
Zuletzt aktualisiert am 22. Oktober 2024