Karl Kautsky

Die Folgen des japanischen Sieges
und die Sozialdemokratie

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2. Die revolutionäre Situation in Europa


Die neue Zeit, 23 Jg. 2 Bd. (5. Juli 1905), H. 41, S. 465–468.
Quelle: Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.


Die Revolution in Permanenz in Russland kann aber nicht ohne Rückwirkung bleiben auf das übrige europäische Festland.

Vor allem bedeutet sie den Staatsbankrott, den Verlust der vielen Milliarden, die das europäische Kapital dem russischen Absolutismus geliehen hat, um mit ihm die Früchte der Unterdrückung und Ausbeutung des russischen Volkes zu teilen.

Freilich, käme es zur starken, liberalen Regierung, so wäre es eine ihrer ersten Sorgen, den russischen Staatskredit zu heben, die Schuldenzinsen getreulich zu zahlen. Das schon aus allgemein kapitalistischem Klasseninstinkt, dem Profit und Zins die höchsten Heiligtümer sind, an die zu tasten eine Todsünde wider den heiligen Geist. Dann aber auch aus praktischem Bedürfnis; denn eine starke Regierung braucht eine starke Armee; deren Reorganisation wäre die erste Aufgabe des neuen liberalen Regimes. Das ist aber nicht möglich ohne neue Anleihen.

Kommt es aber nicht dazu, gelingt es der Autokratie, eine liberale Regierung unmöglich und die Revolution permanent zu machen, dann ist die erste Folge die, dass keine Steuern mehr entrichtet werden, und wovon soll man dann die Coupons bezahlen? Gerade das ist übrigens auch einer der Gründe, die es sehr erschweren, dass es zu einer starken, liberalen Regierung kommt. Denn eine ihrer Hauptausgaben wäre die, die Steuern einzutreiben und zu den bestehenden neue hinzuzufügen.

Es ist aber nicht notwendig, dass etwa eine Diktatur des Proletariats zustande kommt, um den Staatsbankrott zu erklären. Das bringt auch der bankrotte Absolutismus selbst fertig, wenn er in dieser verzweifelten Maßregel ein Mittel sieht. seinen politischen Bankrott um eine Galgenfrist hinauszuschieben.

Es ist sehr leicht möglich, dass die Kapitalisten Europas gerade mit dem gestraft werden, womit sie gesündigt. Hätten sie rechtzeitig ihren Einfluss dahin aufgeboten, den Zaren zu zwingen, ein liberales Regime einzuführen, so hätten sie wohl die Revolution verhindern und ihre Coupons retten können. Durch ihre bedingungslose Unterstützung aller Infamien und Dummheiten des absolutistischen Systems haben sie es glücklich dahin gebracht, das einzige Regierungssystem verhindert zu haben, das den russischen Staatsbankrott aufhalten konnte, das liberale.

Kommt es aber zu diesem Bankrott, und wie die Dinge heute stehen, ist hundert gegen eins zu wetten, dass er kommt, dann gibt es einen Krach, wie ihn die Welt noch nicht gesehen, gegen den der Panamakrach noch ein Kinderspiel. Denn der betraf nur Frankreich, nur dessen Kleinbürgertum. Der russische Krach trifft die ganze Kapitalistenklasse Europas; er trifft nicht bloß die „kleinen Sparer“, sondern auch die großen Banken und damit indirekt auch die Industrie – dort, wo Banken und Großindustrie aufs Engste liiert sind, diese auch direkt. Beim Panamakrach handelte es sich um ungefähr eine Milliarde; bei den russischen Staatsschulden um das Fünfzehnfache. Man braucht man sich bloß der Erregung zu erinnern, die der Panamakrach in Frankreich hervorgerufen, wie er diesen Staat an den Rand einer Revolution geführt, und man kann sich ungefähr vorstecken, welches die Wirkungen eines Kraches sein müssen, der die Verheerungen des Panamakrachs vielleicht verzehnfacht und der mit einem wilden Bürgerkrieg in Osteuropa zusammenfällt.

Aber dabei bleibt die Rückwirkung der russischen Revolution auf Westeuropa nicht stehen. Zu dem Staatsbankrott gesellt sich das Ausbleiben des russischen Getreideexports.

Wenn der russische Bauer heute Getreide verkauft, so tut er es nicht, weil er Überfluss daran hat, sondern weil er Steuern zahlen muss. Er verhungert, aber verkauft Getreide, um den Steuerexekutor zu befriedigen. Sobald die Revolution in Permanenz die Angst vor den Steuerbehörden aufhebt, beseitigt sie damit auch das Motiv zum Getreideverkauf. Der Bauer wird die Ohnmacht der Regierung während der Revolution dazu benützen, sich einmal satt zu essen. Sollte aber die Ernte so reichlich ausfallen, dass er einen Überschuss über sein Nahrungsbedürfnis hinaus erzielt, dann verwendet er diesen sicher auch nicht dazu, Steuern zu zahlen, sondern Industrieprodukte zu kaufen. Der Getreideüberschuss wandert dann nicht zur Bezahlung der Coupons ins Ausland, sondern zur Bezahlung von Lohnarbeitern und Unternehmern in die russischen Industriebezirke.

Sollte es also nicht baldigst zu einer „starken“ liberalen Regierung kommen, die es versteht, „Ordnung“ und „Gesetzlichkeit“ in der Bauernschaft aufrecht zu halten, darin haben wir im nächsten Jahre – ja vielleicht schon in diesem Herbste – mit einem plötzlichen Nachlassen der russischen Getreideausfuhr zu rechnen. Welche Bedeutung das für den Getreidehandel und die Getreidepreise erlangen muss, kann man daraus ersehen, dass an der Getreideausfuhr der Exportstaaten Russland je nach der Ernte mit einem Viertel bis einem Drittel beteiligt ist (1903 fast 10.000 Millionen Kilogramm). Auch die günstigste Ernte in den anderen Ausfuhrgebieten dürfte kaum imstande sein, ein erhebliches Defizit im russischen Getreideexport zu decken. Die Folge davon muss ein starkes Hinaufschnellen der Getreidepreise sein. Und mit den Viehpreisen wird sich’s ähnlich verhalten.

Diese unbeabsichtigte Teuerung wird aber im Deutschen Reiche zusammentreffen mit der absichtlich, künstlich durch den neuen Zolltarif herbeigeführten, die für sich allein schon genügen wird, die arbeitenden Klassen aufs Schwerste zu belasten, die aber zu den unerträglichsten Zuständen führen muss, wenn sie verstärkt wird durch eine allgemeine Teuerung aus dem Weltmarkt und vollzogen während einer schweren wirtschaftlichen Krisis.

Damit müssen sich die Klassengegensätze auch außerhalb Russlands zu unerhörter Schärfe zuspitzen und die Klassenkämpfe um so gewaltsamer werden, je mehr die gleichzeitige Revolution Russlands die Erregung der unteren Klassen wie die Nervosität der herrschenden steigert.

Aber mit alledem dürfte noch nicht genug des Unheils für diese sein.

Der militärische Zusammenbruch Russlands hat das europäische Gleichgewicht in bedenkliches Schwanken gebracht und dadurch die schwierigsten internationalen Probleme geschaffen. Das erheischt mehr als je eine weit schauende, ruhige und zielklare äußere Politik. Aber die europäischen Regierungen lassen wenig in dieser Beziehung erwarten. Frankreich wie England stehen vor Parlamentsauflösungen, die die mannigfachsten Überraschungen bringen können. In Österreich haben wir einen altersschwachen Kaiser, der die Zügel der Regierung immer mehr dem Thronfolger auszuliefern scheint, einem Heißsporn des Klerikalismus und des persönlichen Regiments. Diesem ist es wohl namentlich zuzuschreiben, wenn jetzt die Wiener Hofburg den Kampf gegen die politische Macht des ungarischen Junkertums eröffnet hat – eines Junkertums, weit trotziger, unbotmäßiger und kraftvoller noch als das Ostelbiens. Das ist ein Kampf, der für die Union zwischen Ungarn und Westösterreich leicht so enden kann, wie eben ein ähnlicher Kampf für die Union zwischen Schweden und Norwegen, der aber auf keinen Fall sich in so gemütlichen Formen vollziehen wird. Und das in einem Moment, wo die Revolution an den Grenzen Galiziens wütet und neue Unruhen auf dem Balkan drohen.

Die politisch entscheidende Macht für die internationale Politik Mitteleuropas ist aber das Deutsche Reich geworden, und gerade dessen äußere Politik wird unbegreiflicher als je. Sicher hat die deutsche Regierung nicht die Absicht, um Marokkos willen, also um nichts und wieder nichts einen Krieg mit Frankreich zu beginnen, um einer Lappalie willen einen Weltkrieg zu entzünden, der zum Ruin aller Beteiligten führen müsste. Eine solche Absicht wäre Wahnsinn oder Verbrechen. Aber gerade weil die Reichsregierung eine solche Absicht nicht gehegt haben kann, ist ihre Politik um so unbegreiflicher, diese Politik der Blitze aus heiterem Himmel, aus irgend einer Laune, die, ohne den Krieg zu wollen, die Gegenseite in den Glauben versetzt, dass ein Krieg geplant sei und dadurch einen Zustand nervöser Spannung erzeugt, in dem ein Ungefähr eine Situation schaffen kann, die tatsächlich zum Kriege führt.

Schon einmal hatte die preußische Regierung eine Revolution im Nachbarland zu ähnlicher Politik benutzt. Als die große Revolution in Frankreich ausbrach, und gleichzeitig Russland und Österreich im Kriege mit den Türken lagen, da hielt Preußen den Moment für gekommen, Österreich zu schwächen und ein neues Stück Polen zu annektieren. Noch dauerte die Revolution in Frankreich kein Jahr, und schon drängte Friedrich Wilhelm II. zum Kriege gegen Österreich. Nur die Nachgiebigkeit Österreichs, das alle Forderungen Preußens annahm, verhinderte ihn. Aber die polnische Frage war einmal aufgeworfen und bildete nun den Zankapfel zwischen den drei Mächten, die am Schlusse der Revolution die heilige Allianz gegen sie bilden sollten, zu ihrem Beginn aber, statt gemeinsam gegen den gemeinsamen Feind, die Revolution in Frankreich, mit voller Kraft vorzugehen, den Krieg gegen diesen entweder gar nicht – wie Russland – oder nur unentschlossen führten, wie Preußen und Österreich, da jede dieser Mächte fürchtete, von den anderen betrogen und überfallen zu werden.

So unbegreiflich es ist, die monarchische Diplomatie hat damals in ihrer kurzsichtigen Habgier und Unwissenheit es fertig gebracht, sich wegen der Teilung einer Beute in einem Augenblick zu zerzanken, wo die Grundlagen ihrer Herrschaft selbst bedroht waren.

Aber noch weit unbegreiflicher ist die heutige Diplomatie. Polen besaß doch noch eine ganz andere Bedeutung für Preußen, als sie Marokko heute hat. Außerdem gab es damals in Preußen wie in Österreich noch keine Spur einer politischen Opposition. Ihre Regierungen waren zunächst nur von außen bedroht, durch die französischen Revolutionsheere, nicht von innen. Ihre Niederlage bedeutete den Sieg der Revolution in Frankreich und damit die Bildung eines Revolutionsherdes im Herzen Europas, aber noch lange nicht den sofortigen Zusammenbruch der absolutistischen Regierungssysteme in den übrigen Teilen des europäischen Festlandes. Seit 1870 dagegen bedeutet jeder unglückliche Krieg für einen europäischen Staat die Revolution in seinem Innern.

Das marokkanische Abenteuer lässt also nicht gerade erwarten, dass die Reichsregierung zurzeit über jene Qualitäten verfügt, die es ihr ermöglichten, ohne erhebliche Friktionen die internationalen Schwierigkeiten zu überwinden, welche der Zusammenbruch Russlands nach sich ziehen muss.

So deutet alles darauf hin, dass wir einer Epoche der größten Verschärfung der Gegensätze der Staaten und Klassen entgegengehen, einer Epoche, in der die Revolutionierung des Nachbarlandes ohne alles Zutun einzelner Personen oder Parteien revolutionäre Situationen in Westeuropa selbst schaffen kann.


Zuletzt aktualisiert am 21. Oktober 2024