Karl Kautsky

 

Rede über die Revision des Programms
auf dem Gesamtparteitag der SDAPÖ

(6. November 1901)


Protokoll über die Verhandlungen des Gesammtparteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich. Abgehalten zu Wien vom 2. bis 6. November 1901. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand, 1901, pp. 121–124.
https://archive.org/details/sdapo-1901.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Nachmittagssitzung

Die Debatte über die Revision des Parteiprogramms wird fortgesetzt.

Karl Kautsky (Berlin, VI. n.-ö. Wahlkreis): Ich möchte zunächst die Gelegenheit benützen, um für die freundliche Begrüßung zu danken, die Sie mir angedeihen ließen. Ich bin zwar nicht mehr in Österreich tätig, aber ich fühle mich noch immer als Mitglied der österreichischen Sozialdemokratie (Bravo!), von der ich meine ersten und tiefsten Eindrücke erhielt, und der ich dafür zu tiefem Danke verpflichtet bin. Ein eigentümlicher Zufall will es, dass die beiden letzten österreichischen Parteitage, denen ich beigewohnt habe – es waren das die Parteitage in Brünn im Jahre 1882 und in Hainfeld im Jahre 1889 – sich ebenfalls mit dem Programm befassten. Wenn ich die beiden Parteitage mit dem heutigen vergleiche, muss ich meiner freudigen Genugtuung Ausdruck geben über den großen Weg, den Sie bisher zurückgelegt haben. Eine Programmdiskussion, wie die, die jetzt in den Spalten der Arbeiter-Zeitung geführt wurde, wäre noch zur Zeit des Hainfelder Parteitages unmöglich gewesen. Diese Diskussion allein hat schon die Mühe gelohnt, das Programm einer Revision zu unterziehen: sie hat gezeigt, dass die Partei in den Aber zwölf Jahren nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe gewachsen ist. Aber noch ein anderer Unterschied ist zu bemerken. In Brünn brach die Spaltung aus, und in Hainfeld wurde sie beendigt. Das Kriegsbeil wurde begraben, aber die Wunden des Kampfes waren noch so frisch, dass man nicht wagen durfte, die Differenzen offen zu besprechen; man musste diplomatisieren. Heute ist die Partei fester denn je, und alle Differenzen können offen zum Austrag gebracht werden, ohne dass man befürchten müsste, dadurch die Partei zu gefährden. Dazu kommt noch, dass diese Differenzen sehr klein geworden sind.

Adler hat schon darauf hingewiesen, dass zwischen dem alten Hainfelder Programm und dem neuen Entwurf tatsächlich kein theoretischer Unterschied vorhanden ist, und dass es sich nur um formale Änderungen handelt, nur darum handelt, das Programm zu modernisieren und den heutigen Stimmungen anzupassen. Ich habe deshalb umso weniger Ursache und auch keine Lust, auf die größeren Differenzpunkte einzugehen, die mein Vorredner vorgebracht hat, und ich halte es auch nicht für meine Aufgabe, von Neuem eine Bernstein-Debatte zu eröffnen. Wenn Sie eine solche haben wollen, müssen Sie die Kosten schon allein tragen. Wir in Deutschland sind froh, dass wir dieser Debatte wenigstens äußerlich einen Abschluss gegeben haben. Denn wir haben gesehen, wie wenig dabei herauskommt, und wir wollen damit nichts mehr zu tun haben. Ich will deshalb auch nicht gegen Pernerstorfer polemisieren, umso weniger, als es mir doch versagt ist, mit ihm dauernd zusammenzuarbeiten.

Den Entwurf finde ich, von wenigen Unrichtigkeiten abgesehen, im Großen und Ganzen akzeptabel. Ich möchte gleich bemerken, dass ich, trotzdem ich ihn mit der Lupe untersucht habe, keine Bernsteinerei darin finden konnte. Es sind Abschwächungen vorgenommen worden, aber nur Abschwächungen in der Form, nicht in der Sache.

Wir können also, wenn wir dieses Programm für sich allein betrachten, vollkommen zufrieden sein, umso mehr, als der eine Punkt von Adler selbst auf einen Flüchtigkeitsfehler zurückgeführt wurde, und ich denke, Adler wird noch mit sich handeln lassen (Heiterkeit). und wir werden dann schon ins Reine kommen. Aber es handelt sich hier nicht um den neuen Entwurf allein. Das Hainfelder Programm existiert, und wir können nicht einfach davon absehen. Ad her will zwar solche Vergleiche nicht. Das ist sehr schmeichelhaft für das Hainfelder Programm (Heiterkeit), denn er würde diesen Wunsch nicht äußern, wenn er nicht fürchtete, dass der Entwurf bei dem Vergleich schlecht wegkommen würde. Wir wissen nun Alle, dass Adler nicht abschwächen will, wir wissen, dass Adler kein Bernsteinianer ist. Aber wir machen Programme nicht für uns, sondern für die Welt da draußen, die wir erobern wollen. Ihr müssen wir zeigen, was wir wollen, und ihr gegenüber dürfen wir kein Missverständnis aufkommen lassen. Das ist besonders wichtig im gegenwärtigen Moment. Heute denkt die Bourgeoisie nicht mehr daran, uns gewaltsam niederzuschlagen. Allerdings meine ich, dass sie wieder dahin kommen wird, aus Niederschlagen zu denken, aber erst im letzten Moment, als Tat nicht der ruhigen Überlegung, sondern der Verzweiflung.

Vorläufig denkt sie anders mit uns fertig zu werden, und zwar indem sie uns zu diskreditieren sucht, indem sie den Massen den Glauben beizubringen sucht, wir seien innerlich gespalten, wir glaubten selber nicht mehr an das, was wir lehren. Gegenüber dem Skeptizismus der Bourgeoisie machte gerade unsere feste Überzeugung, unsere Siegeszuversicht, unsere Geschlossenheit früher Eindruck auf die Massen. Da sollten wir kein Missverständnis aufkommen lassen. Aber gerade darin ist in letzter Zeit viel gesündigt worden; viele Äußerungen sind gefallen, die nun ausgebeutet werden, um den Glauben an unseren Skeptizismus, an unsere Schwachheit in die Massen zu tragen. (Sehr richtig!) Wenn wir uns auch nicht vorschreiben lassen wollen, was wir denken, so müssen wir doch die Form. in der wir unsere Ansichten aussprechen, nach propagandistischen Gesichtspunkten einrichten. So wie wir, wenn das Damoklesschwert eines Ausnahmegesetzes über uns schwebt, nicht durch frivole Redensarten den Feind reizen dürfen, so dürfen wir in der heutigen Zeit auch nicht Redensarten führen, die der Gegner zum Beweise benutzen kann, dass wir den Glauben an uns selbst verloren hätten. (Beifall) Das gilt für die Literatur, das gilt auch für die Programme. Von diesem Gesichtspunkt aus haben wir auch diesen Entwurf zu untersuchen. Wir dürfen nicht jagen, wir haben ihn nur gemacht, weil es uns so gefreut. Das wird uns Niemand glauben.

Wir müssen vorsichtig sein bei allen Änderungen und namentlich vorsichtig sein, dass wir nicht Abschwächungen aus formellen Gründen eintreten lassen, wenn wir in theoretischer, in grundsätzlicher Beziehung keine Abschwächung vornehmen wollen. Nur von diesem Gesichtspunkt aus habe ich den Programmentwurf kritisiert. Wenn Adler mir vorwirft, dass ich mich gegen den Fortfall des Wortes „Sklave“ erklärt habe, so ist es für mich natürlich gänzlich gleichgültig, ob „Sklaven“ oder „Abhängigkeit“ da steht. Aber jeder wird fragen, welcher Grund diese Änderung hat, und da liegt die Vermutung nahe, dass man annimmt, dass wir den Klassengegensatz nicht mehr so scharf auffassen wie vor zwölf Jahren. Ist dies richtig, so soll man es offen sagen. Ist dies nicht richtig, so soll man auch den Ausdruck nicht ändern.

Hätte im Hainfelder Programm „Abhängigkeit“ gestanden, hätte ich keinen Grund eingesehen, nun von „Sklaven“ zu sprechen. Aber das gilt auch umgekehrt. (Sehr richtig!)

Die größte Abschwächung findet sich in dem Satz, der von der Verelendung handelt. Sonderbar, dass wir gerade über diese Theorie so viel streiten, obgleich wir vielleicht bei keinem Punkte so sehr im Einklange sind als bei diesem. Ich stimme mit Bernstein in vielen Dingen nicht überein, aber gerade in der Stellung, die er diesem Begriffe gegenüber einnimmt, stimme ich sachlich mit ihm überein. Ich glaube, dass Missverständnisse vorhanden find über einzelne Worte, dass aber in der Sache eine vollständige Einigkeit herrscht. Nichtsdestoweniger ist es notwendig, einige Worte darüber zu verlieren.

Das Hainfelder Programm sagt: „Der Einzelbesitz an Produktionsmitteln, wie er also politisch den Klassenstaat bedeutet, bedeutet ökonomisch steigende Massenarmut und wachsende Verelendung immer breiterer Volksschichten.“ Dieser Satz ist gestrichen, an dessen Stelle wurde gelegt die Stelle: „Die Lebenshaltung immer breiterer Schichten des Volkes tritt immer mehr in Gegensatz zu der rasch steigenden Produktivkraft ihrer eigenen Arbeit und zu dem Anschwellen des von ihnen selbst geschaffenen Reichtums.“ Darüber habe ich mir in der Neuen Zeit einige Bemerkungen erlaubt, und zwar habe ich gesagt, dass ich diesen Satz, wie er da steht, wissenschaftlich für vollständig tadellos erkläre, aber ich habe hinzugefügt, dass er neue Missverständnisse ermöglicht, während die Revision gerade mit der Notwendigkeit begründet wird, Missverständnis auszuschließen. Nun habe ich gesagt: „Der Wohlstand der Arbeiterschaft steigt, so kann man den Satz des Entwurfes auffassen; aber er steigt nicht ganz so rapid wie die rasch steigende Produktivkraft der Arbeit, der Wohlstand der Kapitalisten steigt schneller als der der Proletarier, und darüber sind diese verschnupft und deshalb wollen sie an Stelle des kapitalistischen die sozialistische Produktionsweise setzen.” Diese Verschnupftheit ist dem Genossen Adler in die Nase gestiegen und hat ihn ebenfalls verschnupft (Heiterkeit), aber ich glaube, dieser Schnupfen hat gar keine Berechtigung, denn dieser Satz hat sich nicht gegen Adler gewendet, sondern gegen ganz andere Leute. Ich habe gar nicht gejagt, dass Adler ihn in dieser Weise auffasst, sondern dass Andere ihn in dieser Weise aufgefasst haben, und das ist bei der Diskussion in der Presse tatsächlich der Fall gewesen. Nun sagt Adler ja: „Aber dieser Satz ist wenigstens wissenschaftlich tadellos, wenn er auch Missverständnisse ermöglicht. Der Satz in der alten Fassung dagegen ermöglicht auch Missverständnisse – das ist richtig – er ist aber nicht einmal wissenschaftlich tadellos.“ Darin weiche ich von Adler ab. Ich würde den alten Satz auch noch heute ruhig unterschreiben, wenn er mir vorgelegt würde, wenn ich auch zugebe, dass ich ihm heute eine andere Fassung geben würde, hätte ich ihn nochmals zu schreiben. Aber richtig ist er. Allerdings darf man ihn nicht so auffassen, wie es heute einige Redner getan haben. Wenn der Satz besagen würde, dass die Massenarmut steigt, die Verelendung wächst, wenn das als unabänderliche Tatsache hingestellt würde, würde ich mich gegen ihn auflehnen. Wer aber die Geschichte des Hainfelder Programms kennt, weiß, dass dieses Programm vielmehr die Verelendungstheorie überwunden hat, welche vorher geherrscht hatte. Diese Verelendungstheorie trat in Österreich auf, als nach dem Sozialistengesetze in Deutschland jede Aussicht auf gesetzlichen Fortschritt verschwunden schien, als diese Stimmung in Arbeiterkreisen auch nach Österreich herübergeschlagen und dort den Glauben an eine baldige gewaltsame Revolution erzeugt hatte. Eine Katastrophentheorie oder, besser gesagt, eine Katastrophenpolitik begann damals und im engsten Zusammenhange damit die Verelendungspolitik. Die Verelendungstheorie ist nur dann haltbar, wenn man annimmt, dass das Proletariat der Verzweiflung zueilt, dass es aus Verzweiflung die Ketten sprengen wird, welche es noch gefesselt halten. Ohne Katastrophentheorie ist die Verelendungstheorie gar nicht haltbar. Wer war es aber, der dieser Verelendungstheorie entgegentrat? Das waren gerade wir Marxisten#. (Sehr richtig!) Was von Ausobsky und Anderen gesagt worden ist gegen diese Verelendungstheorie, haben wir hundertmal vor 10 und 20 Jahren gesagt. (Sehr richtig!) Als die Katastrophentheorie und Katastrophenpolitik an den Tatsachen gescheitert war, da war die Zeit gekommen für das Hainfelder Programm, damals wurde dieser Satz geschaffen, und darum kann er nicht bedeuten, dass das Proletariat in steigendes Elend, in steigende Massenarmut versinkt. Nicht auf der Verelendung und auf der Massenarmut liegt der Nachdruck, sondern auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln. Hier wird nicht eine Tatsache konstatiert, sondern eine Anklage erhoben gegen das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Solange wir dieses nicht aufheben, können wir das Elend nicht aufheben. Solange wir das Privateigentum nicht eindämmen können, können wir auch die Verelendung nicht eindämmen. Jede ernste soziale Reform ist aber eine Einschränkung des Privateigentums, und nur dadurch, dass sie eine Einschränkung des Privateigentums ist, kann sie dem Elend Schranken setzen. Aber ich gebe zu, dass dieser Satz missverstanden werden kann, namentlich nach der jetzigen Diskussion. Beide Sätze, der Hainfelder und der im Entwurf, sind einseitig; zusammen erst geben sie eine vollkommene Theorie. Der eine ist der Vordersatz, der andere ist der Nachsatz. Aber wenn ich zwischen beiden wählen müsste, würde ich den Satz von der wachsenden Verelendung und der steigenden Massenarmut immer noch vorziehen, weil dieser Satz unentbehrlich ist für die Begründung unseres sozialistischen Standpunktes, während der andere Satz allenfalls auch vereinbar ist mit dem Begriff einer „radikalen Arbeiterpartei“.

Das ist für mich der wichtigste Punkt. Allerdings liegt noch eine prinzipielle Differenz zwischen Adler und mir vor, aber das ist eine Doktorfrage, die für unsere Agitation von geringer Bedeutung ist und von den Gegnern in keiner Weise ausgeschlachtet werden kann. Ich beschränke mich da auf eine kurze Andeutung meines Standpunktes.
 

Es ist richtig, dass die Arbeiterbewegung für sich allein den sozialdemokratischen Gedanken nicht erzeugen kann. Die Arbeiterbewegung erzeugt einen sozialistischen Instinkt, sie erzeugt das Bedürfnis nach Sozialismus in dem Proletarier, weil er immer mehr zur Empfindung kommt, dass er für sich allein, als Einzelindividuum, nicht zum Eigentum an Produktionsmitteln gelangen kann. Aber die theoretische Einsicht, die notwendig ist, diesen Instinkt klar zu machen, die ist aus dem Proletariat nicht entsprungen, dazu fehlten dem Proletariat alle Vorbedingungen wissenschaftlicher Arbeit. Diese Überzeugung ist geboren worden in den Köpfen von bürgerlichen Gelehrten, die unbefangen und ehrlich genug waren, sich von den Bedürfnissen der Bourgeoisie nicht blenden zu lassen. Alle unsere ersten und großen Sozialisten gehörten dieser Schicht an. Ein Saint Simon, ein Robert Owen, ein Fourier, ein Lassalle, ein Marx, ein Engels! Aber ihre Theorien wären allerdings bloße Theorien geblieben, wenn sie nicht durch eine Schichte begabter Proletarier der Masse des Proletariats vermittelt worden wären, wenn sie nicht die Arbeiterbewegung befruchtet und mit ihr zu einem innigen Zusammenwirken sich verschmolzen hätten. Aus der Vereinigung der Arbeiterbewegung mit der sozialistischen Theorie ist die neue sozialdemokratische Denkweise entstanden, eine Denkweise, bei deren Entwicklung dann nicht nur die Arbeiter von den sozialistischen Theoretikern, sondern auch die sozialistischen Theoretiker von den Arbeitern zu lernen hatten. Und diese Denkweise ist es, die uns zum Sieg geführt hat, diese Denkweise herrscht im alten Hainfelder Programm, aber sie beherrscht auch das neue Programm, und deshalb dürfen wir erwarten, dass dieses neue Programm einen ebenso glorreichen Abschnitt der Sozialdemokratie in Österreich sehen wird, als das alte Hainfelder Programm einen glorreichen Abschnitt in dieser Geschichte gesehen hat. (Lebhafter anhaltender Beifall und Händeklatschen)

 


Zuletzt aktualisiert am 1. Juni 2025