Rudolf Hilferding

Der Funktionswechsel des Schutzzolles:
Tendenz der modernen Handelspolitik

(Mai 1903)


Rudolf Hilferding, Der Funktionswechsel des Schutzzolles: Tendenz der modernen Handelspolitik, Die neue Zeit, 21. Jg., 2. Bd. (Mai 1903), H. 35, S. 274–281.
Transkription: Daniel Gaido.
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Der Kampf um die Handelspolitik, dessen Lärm gegenwärtig die mitteleuropäischen Staaten erfüllt, während in England dumpfes Grollen der Kapitalistenklasse die kommende Schlacht ankündigt, fällt zusammen mit dem Ende der Prosperitätsepoche des industriellen Zyklus. Dies Zusammentreffen bestimmt zwar nicht den Inhalt, wohl aber die Intensität des Kampfes und die Erbitterung der Kämpfenden.

Die wirtschaftliche Organisation der, Arbeiterklasse, die gerade in den großen, entscheidenden kapitalistischen Industriezweigen ihre dauernden Erfolge aufzuweisen hat, hat, dürftig unterstützt durch die staatliche Schutzgesetzgebung, der Ausbeutungsmöglichkeit des Kapitalisten gegenüber den Arbeitern seines speziellen Etablissements gewisse, nicht leicht zu überschreitende Schranken aufgerichtet. Die Schaffung von Profit durch Verlängerung der Arbeitszeit oder durch Herabdrückung des Lohnes stößt auf das Hindernis der festgefügten Organisation der Arbeiterschaft, sind es ist eines der erfreulichsten Zeichen, dass diese Organisation allem Anschein nach auch durch den wirtschaftlichen Niedergang kaum gelitten hat. Es bildet einen der charakteristischen Unterschiede der modernen, auf der klaren Erkenntnis ihrer Klasseninteressen beruhenden Arbeiterbewegung von den instinktiven Massenbewegungen früherer Zeiten, etwa der Chartistenbewegung, deren fluktuierender, unsteter Charakter unmittelbar abhing von den Fluktuationen des Wirtschaftslebens.

Es ist dies aber einer jener Umstände, welche mit dazu führen, dass das Kapital in seinem Hunger nach Profit das, was es auf dem ursprünglichen Wege der Ausbeutung der Proletarier einer Fabrik durch den betreffenden Kapitalisten nicht mehr erreichen kann, auf eine andere Art zu erreichen sucht: durch die Unterwerfung der gesamten Bevölkerung unter die organisierte Macht des Kapitals. Der Organisation der Arbeiterklasse tritt die Organisation der Kapitalistenklasse geschlossen gegenüber. Die kapitalistische Organisation erscheint aber in ihrer Vollendung in den Kartellen und Trusts und der Kampf um die Handelspolitik ist nichts anderes als der Kampf der die wirtschaftliche Macht der Kapitalistenklasse zusammenfassenden Unternehmerverbände um die staatliche Macht, die ihren wirtschaftlichen Zwecken dienstbar gemacht werden soll. Unter diesem Gesichtspunkt werden einige wichtige Unterschiede klar, die die moderne Handelspolitik von der früheren scheidet, und deren ich im Wesentlichen drei sehe.

Das erste Moment ist das Aufhören des Widerstandes der kapitalistischen Unternehmer gegen die Agrarzölle. Die Rolle, die die Erhöhung des Preises der Lebensmittel für die Profitrate spielt, ist im Laufe der kapitalistischen Entwicklung überhaupt eine geringere geworden. Die fortwährende Steigerung der Auslagen für konstantes Kapital im Verhältnis zu den Auslagen für variables Kapital (Arbeitslohn), eine Steigerung, wie sie die Entwicklung einer jeden kapitalistischen Industrie kennzeichnet, macht eine Erhöhung des Arbeitslohns gegenüber der Gesamtauslage von Kapital, auf die sich der Profit berechnet, weniger fühlbar. Diese Entwicklung hat sich aber namentlich in jenen Industriezweigen, die die wichtigste Stellung im modernen Produktionsprozess einnehmen und deren Träger die größte wirtschaftliche Macht ausüben, am weitesten und raschesten vollzogen. Es sind dies vor allem die Industrien, welche Produktionsmittel produzieren, in denen das konstante Kapital, besonders in Form des fixen Kapitals eine ganz ungleich größere Rolle spielt als das variable. Ein anderer Zweig des Kapitals, jener Teil des Finanzkapitals, der seine Anlagen im Hypothekargeschäft macht, ist direkt interessiert an einer Steigerung des Bodenpreises, die die Verschuldungsgrenze höher anzusetzen erlaubt.

Dies sind jedoch nur unterstützende Momente, welche den Intensitätsgrad des Widerstandes gegen Agrarzölle, die keine Lebensfrage mehr für die führenden kapitalistischen Industrien bilden, abzuschwächen geeignet sind, aber das vollständige Aufgeben des Widerstandes nicht erklären würden. Die Einstellung des Kampfes gegen die Agrarzölle wurde vielmehr für die Kapitalistenklasse zur Notwendigkeit in dem Moment, wo sie die Unterstützung der Agrarier brauchte, um ihre eigenen Schutzzollpläne gegen den Widerstand der Arbeiter und der nichtproduzierenden Schichten der Bevölkerung durchsetzen zu können. Abgesehen von dem oben angeführten Grunde konnten sie dies umso leichter, als sie in der Höhe des Schutzzolles eine Kompensation für die Erhöhung der Lebensmittelpreise ihrer Arbeiter zu finden hoffen konnten. Es ist dies ein Umstand, der auf die geforderte Höhe des Zolles seinen Einfluss ausübt.

Aber – und dies ist der zweite Umstand, der in der modernen Phase der Handelspolitik seine Erklärung fordert – welches sind die Momente, die dem Kapital eine neue Schutzzollpolitik als notwendig erscheinen ließen, entgegen den Anschauungen seiner Wortführer, entgegen seiner eigenen Haltung, die, wenn auch nicht durchaus freihändlerisch, so doch vertragsfreundlich, einer allmählichen Herabsetzung der Zölle und Abtragung der Schutzzollmauer geneigt erschien? Der Umschwung der letzten Jahre wird nur erklärlich durch die geänderte Funktion des Schutzzolles, die ihm im gegenwärtigen kapitalistischen Konkurrenzkampf zufällt.

Der alte Schutzzoll hatte die Aufgabe, neben der Ausgleichung etwa vorhandener ungünstiger Naturumstände, das Entstehen einer Industrie innerhalb der geschützten Grenzen zu beschleunige[. [1] Er sollte die in Entwicklung begriffene heimische Industrie vor der Gefahr bewahren, durch übermächtige Konkurrenz der schon entwickelten ausländischen Industrie gehemmt oder vernichtet zu werden. Seine Höhe war oder brauchte wenigstens nur eine mäßige zu sein, eben genug, um den Vorsprung der fremden Industrie auszugleichen. Er konnte keineswegs ein prohibitiver sein, da die einheimische Industrie den Bedarf noch nicht zu decken vermochte. Und er war vor allem nicht als dauernder gedacht. Hatte er erst seine Funktion als „Erziehungszoll" erfüllt, war die heimische Industrie entwickelt, konnte sie den einheimischen Bedarf decken und zur Exportmöglichkeit heranreifen, so verlor der Schutzzoll seinen Sinn. Er war nur ein Hindernis für günstige Exportchancen, indem er fremde Nationen zu ähnlichen Maßregeln bewog. Seine preiserhöhende Wirkung konnte unter dem System der freien Konkurrenz von dem Moment nicht mehr wirksam werden, wo die geschützte Industrie den einheimischen Bedarf befriedigte und den Export beginnen konnte. Denn bei freier Konkurrenz musste in diesem Moment der Preis auf dem geschützten Markte gleich sein dem Weltmarktpreis, da ja durch Ersparung der Transportspesen nach dem entfernteren, ausländischen Markt der Absatz auf dem Inlandmarkt gewinnreicher war als auf dem auswärtigen, und das Angebot der Industrie gleich oder größer war als die heimische Nachfrage. Der Schutzzoll war daher seiner Höhe nach ein mäßiger und seiner Dauer nach ein vorübergehender, der nur während der Jugendzeit eines Industriezweigs über die Schwierigkeiten des Anfanges hinweghelfen sollte. Als solcher, als Erziehungszoll, wurde er auch theoretisch von den Wortführern der Industrie, zum Beispiel von Friedrich List, vertreten.

Heute stehen wir jedoch vor einer ganz geänderten Situation. Wir sehen gerade die mächtigsten Industrien, deren Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt keinem Zweifel unterliegt, Industrien, die exportfähig sind, für die also der Schutzzoll kein Interesse mehr haben sollte, für Schutzzoll, Hochschutzzoll eintreten. Die Erscheinung lässt sich leicht erklären. Wir haben gesehen, dass der Schutzzoll von dem Moment an keine preissteigernde Wirkung mehr haben kann, in dem die einheimische Industrie den einheimischen Bedarf vollständig deckt. Dies gilt jedoch mir, wenn freie Konkurrenz herrscht. Der industrielle Schutzzoll war aber durch die Erschwerung der ausländischen Konkurrenz eines der wirksamsten Beförderungsmittel für den Abschluss von Kartellen. Einmal aber konstituiert, wird die kartellierte Industrie zum mächtigsten Interessenten des Weiterbestehens und der Erhöhung des Zolles. Was das Kartell leistet, ist der Ausschluss der Konkurrenz auf dem inneren Markte durch Kontingentierung des für den heimischen Markt bestimmten Produktionsquantums. Der Wegfall der Konkurrenz erhält die preiserhöhende Wirkung des Schutzzolles auch für jenes Stadium, wo die Industrie längst exportiert, die Produktion den Bedarf des Inlandes längst übersteigt. Es ist ein eminentes Interesse der kartellierten Industrie, den Schutzzoll zu einer dauernden Einrichtung zu machen, der ihr erstens den Bestand als Kartell sichert und zweitens ihr gestattet, auf dem inländischen Markt ihr Produkt mit einem Extraprofit zu verkaufen. Die Höhe dieses Extraprofits ist gegeben durch die Erhöhung des inländischen Preises über den Weltmarktpreis. Diese hängt aber ab von der Höhe des Zolles. Ebenso unbeschränkt wie das Streben nach Profit, ebenso unbeschränkt wird so das Streben nach Erhöhung des Zolles. Die kartellierte Industrie ist unmittelbar im höchsten Maße interessiert an dem quantitativen Ausmaß des Schutzzolles. Aus dem Vertragsfreund, dem Befürworter allmählicher Zollherabsetzung, ist der leidenschaftlichste Hochschutzzöllner geworden. Die Höhe des Schutzzolles aber ist das dritte Moment, das die neue Handelspolitik charakterisiert.

Doch damit nicht genug. Der Schutzzoll selbst erfährt einen vollständigen Wandel seiner Funktion und dies gibt der modernen Handelspolitik erst ihre geschichtliche Bedeutung.

Der Extraprofit, der Tribut, der von der inländischen Bevölkerung eingehoben wird, wird zu einem Teil dazu verwendet, dass das Kartell Prämien für den Export gewährt. Es vergrößert so die Wahrscheinlichkeit, dass das Kontingent für den einheimischen Bedarf nicht überschritten wird, die Ausschließung der Konkurrenz also erhalten bleibt, und es erhöht die Rentabilität durch die Möglichkeit der Produktion auf größerer Stufenleiter.

Aus einem Mittel der Abwehr gegen die Eroberung des einheimischen Marktes durch fremde Industrien ist ein Mittel der Eroberung der fremden Märkte durch die einheimische Industrie geworden.

Die Kosten dieses Kampfes aber um die Herrschaft auf dem Weltmarkt werden den Kartellen gezahlt von der einheimischen Bevölkerung, deren Lebensmittel und industrielle Bedürfnisse maßlos verteuert werden. Die einzelnen Errungenschaften, die die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft im täglichen Kampfe davongetragen haben, sie sind bedroht von der Gefahr, auf einen Streich vernichtet zu werden durch die Politik der Kartelle, welche ihren Einfluss benutzen, um in ganz anderer Weise, als es den vereinzelten Kapitalisten möglich war, die Macht des Staates in den Dienst ihrer Profitinteressen zu stellen. Die erste Folge der modernen Handelspolitik ist eine Verschärfung des Klassengegensatzes im Innern der Staaten durch Beförderung der Kartellierung, durch Beschleunigung der Konzentration, durch Verteuerung der Lebenshaltung. Aber noch mehr. Der Kampf um den Weltmarkt, besonders um die neutralen Märkte, wird jetzt mit ganz anderer Wucht geführt. Entscheidend in diesem Kampfe werden jetzt auch die Exportprämien, die die Kartelle gewähren können. Ihre Höhe aber hängt ab von dem Extraprofit auf dem inländischen Markt. Seine Erhöhung durch Erhöhung des Zolles wird jetzt zum Interesse jeder nationalen Kapitalistenklasse. Und hier gibt es kein Zurückbleiben. Der Schutzzoll des einen Landes zieht mit Notwendigkeit den des anderen nach sich, und umso sicherer, je entwickelter der Kapitalismus in diesem Lande, je mächtiger und verbreiteter die Kartellbildung. Die Höhe des Schutzzolles wird entscheidenden Moment im internationalen Konkurrenzkampf. Die Erhöhung in dem einen Lande muss sofort vom anderen nachgemacht werden, um die Konkurrenzbedingungen nicht zu verschlechtern, um auf dem Weltmarkt nicht zu unterliegen. Auch der industrielle Schutzzoll wird, was der agrarische Schutzzoll seiner Natur nach ist, zu einer Schraube ohne Ende.

Aber diese Verschärfung des Kampfes um den Weltmarkt kann nicht ohne Folgen für die auswärtige Politik der kapitalistischen Nationen bleiben. Immer mehr muss das Bestreben entstehen, Stücke dieses Weltmarktes, auf dem der Wettbewerb immer schwieriger, kostspieliger und unsicherer wird, sich anzueignen, ihn dem heimischen Markt anzugliedern und so durch politische Mittel die Konkurrenz des Auslandes zu beseitigen, ihn für die heimische Kapitalistenklasse zu monopolisieren. Eine aggressive Kolonialpolitik und Weltpolitik ist die Folge. Zu dem Interesse der großen Finanz, welche am besten unter dem Schutze des einheimischen Staates ihre Geschäfte gedeihen sieht, welche daher von jeher an einer Expansionspolitik interessiert war, tritt das Interesse des in Kartellen organisierten Industriekapitals, das nun ebenfalls eine expansive, das Ausland ausschließende Politik befolgt und die fremde Konkurrenz durch Eroberung der fremden und neutralen Märkte sich vom Hälfe zu schaffen strebt.

Die Politik der offenen Türe ist verlassen.

Dies steigert naturgemäß den Gegensatz zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten. Wird der Konkurrenzkampf der Kapitalistenklassen immer mehr mit staatlichen Mitteln geführt, so scheint der schließliche Sieg in diesem Kampf immer mehr abzuhängen von der Größe der Machtmittel, die dem Staat zu Gebot stehen. Vermehrung der Gewalt des Staates sowohl zur Niederhaltung der Volksmassen, die durch die stets sich steigernden Zölle und die stetig durch die Kartellpolitik erhöhten Preise in ihrer ganzen Lebenshaltung immer mehr bedroht werden, und Steigerung der Gewalt des Staates, um die Ansprüche der Kapitalistenklasse mit dem nötigen Nachdruck in der ganzen Welt, auf allen Märkten vertreten zu können, um, wo es notwendig, auch mit den Waffen in der Hand in den Wettstreit der „königlichen Kaufleute und genialen Leiter der Produktion" eingreifen zu können. Verstärkung der Rüstungen, Vermehrung der Kriegsflotte, Reaktion im Innern, Gewalttätigkeit und Bedrohung des Friedens nach außen, das sind die notwendigen Konsequenzen der neuesten Phase kapitalistischer Handelspolitik. Die Vermehrung der Rüstungen, die ganze moderne Heer- und Marinepolitik aber, sie vermehren aufs Neue die Lasten der einheimischen Bevölkerung, erregen allerdings auch aufs Neue den „staatsfeindlichen" Sinn der Massen.

Ökonomisch aber bedeutet dieses System den stärksten Ansporn zur Überproduktion. Die Konkurrenz, die sich abgespielt hat zwischen den einzelnen Kapitalisten, erscheint jetzt in höherer Potenz als Konkurrenz zwischen den großen Kapitalistenvereinigungen der einzelnen Staaten, hinter denen nicht nur alle wirtschaftlichen, sondern auch alle politischen Hilfsmittel der Nation stehen. Die Profite, die zu gewinnen sind im Sieg über die fremde Konkurrenz, rechtfertigen die größten Anstrengungen. Immer größere Warenmassen zu immer billigeren Preisen werden auf den Markt geworfen, um die fremde Ware zu vertreiben. Rasch wird die Grenze der Aufnahmefähigkeit erreicht, die Märkte sind überfüllt, die Krise tritt ein, die wieder mächtigstes Stimulans wird, durch Beseitigung der Konkurrenz, durch Herstellung des Monopols die Verluste wett zu machen, also aufs Neue den Gegensatz zwischen den nationalen Kapitalistenklassen bis ins Unerträgliche steigert. Im Innern aber bedeutet die Depression Einschränkung der Produktion, Vermehrung der industriellen Reservearmee, erneute Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse.

Steigerung der Gegensätze im Innern und nach außen, das ist also die notwendige Konsequenz des neuen Schutzzolles.

Die Sozialdemokratie hat aber alle Ursachen, diese Tendenzen sich klar vor Augen zu halten. Sie kann es ruhig den bürgerlichen Ökonomieprofessoren überlassen, die Vorzüge von Freihandel und Schutzzoll aus dem Gesichtspunkt zu erörtern, von dem aus die dem englischen Freihändler ihren Kampf gegen die Kornzölle geführt haben, und dabei die ganze Änderung, die sich in der inneren Struktur der Kapitalistenklasse seitdem vollzogen hat, zu übersehen.

Jene atomistische Betrachtung, welche die einzelne Zollposition unter die Lupe nimmt, welche eine Harmonie konstruieren will zwischen Kapitalist und Arbeiter desselben Produktionszweigs, der durch den Schutzzoll vor der auswärtigen Konkurrenz behütet werden soll, welche die preissteigernde Wirkung nur für ein vorübergehendes Übel hält, das durch vermehrte Beschäftigung der einheimischen Arbeiterschaft mehr als gut gemacht werde: diese Betrachtung übersieht ganz die Einheit und damit das Wesen der modernen Handelspolitik. Ihre Argumentation, vielleicht berechtigt in gewissen Stadien der kapitalistischen Entwicklung, ist ganz verfehlt gegenüber der jetzigen Phase. Der Schutzzoll, im Dienst der kartellierten Industrie und des Großgrundbesitzes, der von Natur aus Monopol ist, wird vielmehr zum mächtigsten Exploitationsmittel, durch das die Kapitalistenklasse sich das Produkt der Masse der arbeitenden Bevölkerung nicht nur unmittelbar im Produktionsprozess aneignet, sondern durch künstliche, bewusste und organisierte Herrschaft über den Zirkulationsprozess auch diesen in den Dienst der Profitmacherei stellt. Dabei wird übrigens die Profitrate für die mächtigen kartellierten Industrien auch auf Kosten des Profits der noch weniger entwickelten unorganisierten Industrien durch Verteuerung ihrer Produktionskosten erhöht. Der Fall der Profitrate führt hier zu einer Beschleunigung der Konzentration und damit zur Herstellung des Kartells auch in diesen Industrien.

Im modernen Schutzzollsystem erscheint so die Aktion der Kapitalistenklasse nicht mehr gelähmt durch die vielfach divergierenden Einzelinteressen; sie ist vielmehr organisierte, einheitliche, bewusste Aktion, die mit ungeheurer Kraft sich der staatlichen Mittel bedient, um ihren Profit zu vergrößern.

Der einheitlichen Aktion der Kapitalistenklasse muss die einheitliche Aktion der Arbeiterklasse entgegengestellt werden. Diese wäre aber unmöglich, wenn nicht klar der Ausbeutungscharakter des Schutzzolles erkannt wäre, wenn nicht in jedem einzelnen Proletarier das Bewusstsein vorhanden wäre, das auch gerade auf dem Gebiet der Handelspolitik sein Interesse ein diametral entgegengesetztes ist dem Interesse des Kapitalisten. Gerade aber die Aktion der Kapitalistenklasse selbst erzeugt beim Proletariat mit Notwendigkeit dieses Bewusstsein und weist zugleich den Weg, auf dem Widerstand allein möglich. Wir haben gesehen, wie die Art der auswärtigen Politik auf die innere Politik zurückwirken muss. Den Widerstand, den die Arbeiterschaft dem Streben nach gewaltsamer Expansion entgegensetzt, muss die Kapitalistenklasse zu brechen suchen. Kampf gegen die politische Organisation der Arbeiterschaft, gegen ihre politische Vertretung, ist die notwendige Ergänzung der Schutzzöllnerei in der inneren Politik.

Aber der Kampf um den Weltmarkt wird immer erbitterter, die Kostenberechnung immer genauer, stets intensiver das Streben, die Kosten der menschlichen Arbeitskraft zu verringern und die Verschiedenheit der Arbeitslöhne bei den verschiedenen Nationen zu nivellieren, sei es durch direkte Herabsetzung, welche für den Kapitalisten, der sie zuerst durchsetzen kann, einen Extraprofit bedeutet, mag auch die Industrie im ganzen auf die Dauer durch Verringerung der Intensität, Qualität der Arbeit Schaden nehmen, oder sei es durch Einstellung verbesserter, Arbeit überhaupt oder qualifizierte Arbeit sparender Maschinerie. Hier stößt das Kapital aber auf die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterklasse, und es ich bezeichnend für die gegenwärtige Situation, dass die Feindschaft gegen die gewerkschaftliche Organisation zugleich mit dem Eintritt der Depression neue und schärfere Formen angenommen hat, in England fast ebenso wie in Deutschland. Und gleichzeitig erhöht die Organisation des Kapitals in den Kartellen, deren Bestand der Schutzzoll sichert, die Macht des Kapitals in den wirtschaftlichen Kämpfen, macht Errungenschaften der Gewerkschaften stets schwieriger, ja stellt selbst das bisher Errungene direkt in Frage, das ohnehin durch die Erhöhung der Preise zum größten Teile wegeskamotiert wird. Der Kampf des Kapitals gegen die Arbeit muss aber schon an sich den Widerstand der Arbeiterschaft hervorrufen, muss das Proletariat, dem das Kapital in mächtigen Organisationen gegenübersteht, dazu treiben, auch seine Organisation so machtvoll als nur möglich auszugestalten. Aber noch mehr. Die Aktion der Kapitalistenklasse, wie sie sich in der neuen Handelspolitik darstellt, weist auch das Proletariat mit Notwendigkeit auf den Weg, der nur mit der schließlich Überwindung des Kapitalismus überhaupt enden kann. Solange als der Grundsatz des laisser faire herrschte, die Intervention des Staates in die wirtschaftlichen Angelegenheiten und damit der Charakter des Staates als einer Organisation der Klassenherrschaft verhüllt war, gehörte ein verhältnismäßig hoher Grad von Einsicht dazu, die Notwendigkeit des politischen Kampfes und vor allem die Notwendigkeit des politischen Endziels, die Eroberung der Staatsgewalt, zu begreifen. Ist es doch kein Zufall, dass gerade in England, dem klassischen Lande der staatlichen Nichteinmischung, auch das Aufkommen einer selbständigen politischen Aktion der Arbeiterklasse so erschwert ist. Dies ändert sich nun. Die Kapitalistenklasse ergreift unmittelbar, unverhüllt, handgreiflich Besitz von der staatlichen Organisation und macht sie zum Werkzeug ihrer Exploitationsinteressen, in einer Weise, die auch dem letzten Proletarier fühlbar wird. Wer bisher noch nicht auf die Stimme der Sozialdemokratie hat hören wollen, muss nun fühlen, dass die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat sein nächstes, persönliches Interesse ist. Die offenkundige Besitznahme des Staates durch die Kapitalistenklasse zwingt unmittelbar jedem Proletarier das Streben nach Eroberung der politischen Macht auf als dem einzigen Mittel, seiner Exploitation ein Ende zu setzen.

Das moderne Schutzzollsystem, und dies ist also seine historische Bedeutung, leitet die letzte Phase des Kapitalismus ein. Um dem Falle der Profitrate, diesem Bewegungsgesetz des Kapitalismus, Einhalt zu tun, beseitigt das Kapital die freie Konkurrenz, organisiert sich und wird durch seine Organisation in Stand gesetzt, sich der staatlichen Macht zu bemächtigen, um dieselbe nunmehr unmittelbar und direkt in den Dienst seines Ausbeutungsinteresses zu stellen. Nicht mehr die Arbeiterschaft allein, die gesamte Bevölkerung wird dem Profitstreben der Kapitalistenklasse unterworfen. Alle Machtmittel, über die die Gesellschaft verfügt, werden bewusst zusammengefasst, um sie in Ausbeutungsmittel der Gesellschaft durch das Kapital zu verwandeln. Es ist direkte Vorstufe der sozialistischen Gesellschaft, weil es ihre vollständige Negation ist: bewusste Vergesellschaftung aller in der heutigen Gesellschaft vorhandenen wirtschaftlichen Potenzen, aber eine Zusammenfassung nicht im Interesse der Gesamtheit, sondern um den Grad der Ausbeutung der Gesamtheit auf eine bisher unerhörte Weise zu steigern. Aber das Klare, Augenscheinliche dieses Zustandes ist es gerade, dass seine Dauer unmöglich macht. Er erweckt gegenüber der Aktion der Kapitalistenklasse, der die Konzentration der Produktionsmittel, die Konzentration ihres Bewusstseins und ihres Handelns gebracht hat, die Aktion des Proletariats, das sich seiner Macht nur bewusst zu werden braucht, um sie unwiderstehlich zu machen.

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Anmerkung

1. Es ist klar, dass je nach der wirtschaftlichen Entwicklung diese Funktion des Schutzzolles für den einen oder anderen Industriezweig noch erhalten sein kann. Dies ändert nichts an dem folgenden.


Zuletzt aktualisiert am 1. Juni 2023