Chris Harman

Die Wohlfahrt und die Bereitstellung
von Arbeitskräften

(Juli 2009)


Auszug aus: Chris Harman, Zombie Capitalism. Global Crisis and the Relevance of Marx, Haymarket Books, Chicago, Illinois, 2010.
Erstveröffentlichung Juli 2009, Bookmarks Publications, London.
Aus Teil 1, Kapitel 5: State Spending and the System, S. 132–139.
Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
HTML-Markierung: Einde O‘Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Diesen Auszug aus Chris Harmans Zombie Capitalism möchte ich zur Verfügung stellen, weil Chris Harman hier eingeht auf die Rolle des Wohlfahrtsstaats, der sich als Notwendigkeit aus der weiteren Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise herausschälte. Harman diskutiert auch die Frage der produktiven und unproduktiven Staatsausgaben bezogen auf den Nutzen für die Kapitalakkumulation. – Die Übersetzerin

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Nicht alle vorher genannten Staatsausgaben gehören zu der eng gefassten Kategorie „unproduktiv“ oder zu der weiter gefassten Kategorie der Vergeudung. Staatsausgaben für Forschung und Entwicklung (entsprechend der Kategorie g in der Liste auf Seite 127/128) [1], die zur Akkumulation in der erweiterten Volkswirtschaft beitragen, spielen eindeutig eine Rolle für jene Kapitalien, die daraus Nutzen ziehen, ähnlich wie die in den Produktionsmitteln vergegenständlichte Arbeit. Aber was ist mit Ausgaben für das Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen (entsprechend den Ausgaben e [2] und f [3] der Kapitalisten als Einzelpersonen)? An dieser Stelle ist es notwendig, etwas zu untersuchen, das Marx nur am Rande behandelt – die Reproduktion der Arbeiterklasse, die der Kapitalismus zur Ausbeutung benötigt.

In Großbritannien mussten sich die ersten industriellen Kapitalisten Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts nicht allzu viel Gedanken über das Angebot an Arbeitskräften machen. Arbeitskräfte waren in dem Moment in Überfluss vorhanden, als mit der „ursprünglichen Akkumulation“ genügend Bauern von ihrem Land vertrieben worden waren. Die Kapitalisten gingen davon aus, dass sie einstige Bauern und ihre Kinder als ungelernte Arbeitskräfte der Disziplin des Einsatzes an der Maschine unterwerfen, [4] während sie für qualifiziertere Tätigkeiten auf ausgebildete Handwerker zurückgreifen könnten. Aus diesem Grund hat Marx, der sich sehr ausführlich mit der ursprünglichen Akkumulation und der Behandlung der Arbeiter in den Fabriken auseinandergesetzt hat, die Frage, wie die Kapitalisten an Arbeitskräfte mit der richtigen physischen Konstitution und Ausbildung kommen, nahezu ignoriert. Doch zur Zeit seines Todes, als sich die kapitalistische Industrie auf immer neuere Produktionsbereiche ausweitete, machten sich jene, die die kapitalistische Akkumulation vorantreiben wollten, zunehmend mehr Gedanken über das Angebot und das Management der Arbeitskräfte – außerhalb wie innerhalb der Fabrik. Der einzelne Kapitalist strebte danach, dem einzelnen Arbeiter, der einzelnen Arbeiterin nur so viel Stunden-, Tages- oder Wochenlohn zu zahlen, dass sie oder er fit und motiviert für die Arbeit blieb. Aber wenn der gesamten kapitalistischen Klasse im Laufe der Zeit Arbeitskräfte in der richtigen Menge und Qualität zur Verfügung stehen sollten, reichte das in vielerlei Hinsicht nicht aus: Denn damit war weder berücksichtigt, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter die notwendigen Qualifikationen erwerben müssen, noch erhielten sie in Zeiten der Arbeitslosigkeit ausreichend Unterstützung, sodass Unternehmen am Ende einer Krise wieder auf ihre Arbeitskraft zurückgreifen konnten. Auch stellte das keine Lösung für das Problem dar, dass Arbeiter und Arbeiterinnen wegen Krankheit oder Verletzung vorübergehend nicht produktiv eingesetzt werden konnten. Zur Erziehung von Kindern der Arbeiterklasse als nächste Generation von Arbeitskräften reichte das ebenfalls nicht. [5]

Es gab im 19. Jahrhundert verschiedene spontane Versuche, all diese Probleme zu lösen. Religiöse und andere gemeinnützige Einrichtungen gewährten Arbeitslosen oder Kranken gewisse Hilfe. Auf die Frauen der Arbeiterklasse wurde Druck ausgeübt, die Last der Kindererziehung zu tragen, indem der Mann zum Ernährer erklärt und der Lohn des Manns als „Familienlohn“ behandelt wurde (obwohl Frauen der Arbeiterklasse immer in gewissem Maße gearbeitet haben und der Lohn des Ehemannes selten ausreichte, um eine Familie zu ernähren). [6] Einige Unternehmen errichteten werkseigene Wohnungen und boten ihren Arbeitskräften hier und da auch einfachste Gesundheitsfürsorge. Es gab Facharbeiter, die eigene Hilfskassen gründeten, um in Zeiten der Arbeitslosigkeit oder Krankheit Unterstützung zu leisten. Es gab Unternehmen, die in ihrem Fabriksystem eine Art Lehrlingsausbildung nach dem Vorbild vorkapitalistischer Handwerksbetriebe schufen, wobei die Jugendlichen fünf oder gar sieben Jahre lang bei sehr niedrigem Lohn ein Handwerk unter der Anleitung von Facharbeitern erlernten.

Mit der Zeit wurde jedoch deutlich, dass diese Hilfskonstruktionen unzureichend waren und der Staat viele Aufgaben der privaten Kapitalisten und gemeinnützigen Einrichtungen übernehmen musste. In Großbritannien griff er schon im Jahr 1834 mit dem Armengesetz ein, um dafür zu sorgen, dass die Bedingungen, unter denen Arbeitslose und Gebrechliche Unterstützung erhielten, so abschreckend waren, dass die Arbeitsfähigen zu jedem angebotenen Lohn arbeiteten. Im Jahr 1848 wurde ein Gesundheitsamt eingerichtet, um gegen die sich ausbreitenden Krankheiten in den Arbeitervierteln vorzugehen, die auch die Stadtviertel der Reichen bedrohten. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Staat dazu gebracht, den Arbeitstag der Kinder zu begrenzen und Frauen von Berufen auszuschließen, die ihre Schwangerschaft und die Erziehung der nächsten Generation gefährden konnten. In den 1870er Jahren entschied der Staat sich für den Aufbau eines öffentlichen Grundschulsystems und die Förderung des Baus von Häusern für Facharbeiter. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurden erste Schritte unternommen, die verschiedenen Improvisationen der vergangenen 70 Jahre im nationalstaatlichen Rahmen zu koordinieren und ein Mindestmaß an Sozialversicherung für die Arbeitslosen, Alten und Kranken bereitzustellen. [7] Den Anstoß dafür gab die schockierende Erkenntnis, dass nur ein geringer Teil der Arbeiterklasse gesund genug für den Militärdienst war, um in Südafrika gegen den Aufstand der Buren zu kämpfen. Ann Rogers fasste die Reaktion der Ober- und Mittelschicht zusammen:

Im Mittelpunkt stand die Auffassung, dass Großbritannien etwas unternehmen musste, wenn es erfolgreich mit Deutschland und den Vereinigten Staaten konkurrieren wollte. Egal ob die Fabier oder die liberalen Imperialisten diese Meinung vertraten, ging es immer um den Schaden, den die Armut für die Gesellschaft bedeutete, und nicht um das Elend der einzelnen Arbeiter. […] Der eigentliche Grund für das Bedürfnis, die Gesundheit der Arbeiterklasse zu heben, war der Bedarf an einer gesunderen Arbeiterschaft in den Fabriken und in der Armee. [8]

Diese Maßnahmen waren nicht einfach das Ergebnis einer Zusammenkunft von Kapitalisten, die in ihrer Runde entschieden, was für das System vernünftig war. Sie waren das Ergebnis wiederkehrender Feldzüge von Menschenfreunden der Oberschicht, die eine konservative Abscheu für die geldgierige Gefräßigkeit des Kapitalismus hegten; von Moralpredigern der Mittelschicht, die sich an dem Benehmen der Arbeiterklasse stießen; von politischen Opportunisten, die in der Arbeiterklasse bei Wahlen auf Stimmenfang gingen; von Fabrikinspektoren und Ärzten, die sich beruflich Gedanken über die Sicherheit und das Wohlergehen der Leute machten; und daneben und meist unabhängig von ihnen von Gewerkschaften und Aktiven der sozialistischen Bewegung. Aber solche Bündnisse definierten die von ihnen verfolgten Projekte im Sinne dessen, was sie als rational für den Kapitalismus ansahen – was also notwendig war, um ihn mit ausreichend gesunden und qualifizierten Arbeitskräften zu versorgen. Das zeigte sich an einem Muster, das für die Reformen Anfang des 20. Jahrhunderts ebenso charakteristisch war wie für die karitative Arbeit Anfang des 19. Jahrhunderts: Die Sozialleistungen sollten auf eine Weise gewährt werden, dass alle Gesunden und Arbeitsfähigen sich gezwungen sahen, sich Arbeit zu suchen. Es galt das Prinzip der „geringeren Anspruchsberechtigung“: Bei Inanspruchnahme der Leistung muss der Empfänger immer noch schlechter gestellt sein als der am schlechtesten entlohnte Arbeiter. Zudem sollten die Sozialleistungen nicht durch Umlenkung von Wert von Kapital zu Arbeit finanziert werden, sondern durch Umverteilung des Einkommens innerhalb der Arbeiterklasse durch das „Versicherungsprinzip“. Durch Lohnabzug bei denen, die arbeiten konnten, sollten jene unterstützt werden, die arbeitslos oder zu krank waren, um zu arbeiten.

Der Staat spielte im 20. Jahrhundert eine zunehmend wichtige Rolle bei der Bereitstellung, Ausbildung und Wiederherstellung von Arbeitskraft – wobei der Höhepunkt in dem langen Wirtschaftsaufschwung ab Mitte der 1940er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre erreicht wurde – und er spielte diese Rolle auch in der folgenden neuen Zeit der Krisen. In dieser ganzen Zeit wurde der Wohlfahrtsstaat weiterhin auf die Interessen der sich auf den Nationalstaat stützenden Kapitalien zugeschnitten, selbst wenn der Anstoß dafür von unten kam – wie im Zweiten Weltkrieg, als der britische konservative Politiker Quintin Hogg erklärte: „Wenn wir den Menschen keine Sozialreform geben, dann geben sie uns die gesellschaftliche Revolution.“ [9] Aneurin Bevan, britischer Arbeitsminister in den 1940er Jahren, erklärte, dass die Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit Teil des Systems geworden waren, „aber das System hatte sie nicht einfach zur Verfügung gestellt. Indem der Kapitalismus diese für sich reklamiert, schmückt er sich mit Orden aus Schlachten, die er verloren hat.“ [10] Es bleibt jedoch die Tatsache, dass die Erfinder dieser Maßnahmen – so wie Bevan – damit den Bedürfnissen des Systems entgegenkamen.

Daraus ergeben sich für die Arbeitskraft, die in diese Dienste fließt, und für jene, die sie leisten, wichtige Schlussfolgerungen: Unter Marxistinnen und Marxisten – wie auch einigen Nichtmarxisten [11] – ist es weitverbreitet zu betonen, dass diese Art Arbeit nicht produktiv sein könne, weil sie nicht unmittelbar warenproduzierend sei. Das gilt aber auch für viele andere Tätigkeiten in jedem kapitalistischen Unternehmen, die lediglich eine Vorbedingung für andere Arbeit zur Herstellung des Endprodukts ist. Sie ist produktiv als Teil der Arbeit des „Gesamtarbeiters“ [12] in dem Unternehmen. Ein ausgebildeter Zimmerer oder Maurer kann um ein Vielfaches produktiver sein als ein ungelernter; ein ausgebildeter Werkzeugmacher kann Arbeiten ausführen, die ein ungelernter nicht verrichten kann. Die Arbeit derer, die zu ihrer Ausbildung beitragen, trägt zu der Fähigkeit des kollektiven Arbeiters bei, Wert zu schaffen. Und sie sind ausgebeutet, denn sie erhalten Lohn entsprechend dem Wert ihrer Arbeitskraft, aber nicht entsprechend der Ausbildung, die sie anderen zukommen lassen. Es ließe sich darüber diskutieren, wie genau sich die Fertigkeiten, die durch ihre Arbeit hinzugefügt werden, in Marxʼ Kategorien einfügen: Sind sie vergleichbar mit den Betriebsanlagen und der Ausstattung als eine Form des konstanten Kapitals oder nur als erweiterte Arbeitskraft, als variables Kapital? [13] Es gibt auch Diskussionen zwischen Unternehmen über die Vorteile der Betriebsausbildung. Kurzfristig mag es für sie von Nutzen sein, aber was sollte andere Firmen daran hindern, diese qualifizierten Arbeitskräfte einfach abzuwerben, ohne für die Ausbildung gezahlt zu haben? [14] Und schließlich gibt es noch Debatten darüber, wie die Arbeit derer, die andere Arbeiter ausbilden, zu bewerten ist: Ist sie „produktiv“ oder „indirekt produktiv“? Nicht zu bezweifeln ist jedoch ihre Funktion bei der Steigerung der gesamten potenziellen Produktion und Produktivität. [15]

Ein großer Teil der Arbeit, die in das Bildungssystem fließt, erfüllt die gleiche Funktion, weil sie die Qualifikationen entwickelt, die das Kapital benötigt, obwohl in diesem Fall die Fertigkeiten nicht nur von einem individuellen Kapitalisten genutzt werden können, sondern von allen Kapitalisten, die innerhalb des Staats operieren, der sie zur Verfügung stellt. Die Ausbildung in Fertigkeiten künftiger Arbeiterinnen und Arbeiter in einer Bildungseinrichtung durch das Lehrpersonal trägt ebenso wie eine betriebliche Ausbildung zu der Menge gesellschaftlich notwendiger Arbeit bei, die sie in einer Stunde leisten können. Und die Kosten für diese Ausbildung sind Teil der Kosten zur Bereitstellung von Arbeitskräften, ebenso wie der Lohn, der für den Kauf der von den Arbeitern benötigten Lebensmittel, von Kleidung und einem Dach über dem Kopf verwendet wird. Unternehmen im heutigen Kapitalismus benötigen Arbeitskräfte mit einem Mindestmaß an Schreib- und Rechenfertigkeiten. Die Lehrkräfte, die dafür sorgen, müssen als Teil des Gesamtarbeiters angesehen werden, die letztlich für den Komplex der sich auf den Nationalstaat stützenden Kapitalien arbeiten, denen der Staat dient. Die Verteidiger des Kapitalismus erkennen das unbeabsichtigt an, wenn sie die Bereitstellung von Bildung als „Erweiterung des Sozialkapitals“ bezeichnen und „Wertschöpfung“ an Schulen fordern.

Dasselbe allgemeine Prinzip gilt auch für den Gesundheitssektor, der sich um die vorhandenen, die potenziellen oder künftigen Arbeiter kümmert. Die Ausgaben, die dazu dienen, die Arbeiterklasse arbeitsfähig zu erhalten, sind genau genommen Teil des Lohns, selbst wenn sie „in Naturalien“ und nicht in bar ausgezahlt werden und an die Arbeiterinnen und Arbeiter als Kollektiv, nicht an die einzelne Arbeiterin oder den einzelnen Arbeiter gehen. In Marxʼ Begriffen sind sie Teil des „variablen Kapitals“. Das zeigt sich deutlich in Ländern wie den USA, wo die Gesundheitsversorgung der meisten Arbeiterinnen und Arbeiter über betriebliche Versicherungen erfolgt. Das sollte auch klar sein für Länder wie Großbritannien, wo der Staat die Gesundheitsversorgung im Interesse des nationalen Gesamtkapitals anbietet. Der gern verwendete Begriff „Soziallohn“ stellt eine akkurate Beschreibung dar. Er ist ebenso akkurat, wenn er auf Arbeitslosenhilfe angewendet wird, die nur jene beziehen können, die sich fähig und bereit zur Arbeitsaufnahme zeigen, und auf die Rentenversicherung, deren Höhe sich nach der Lebensarbeitszeit richtet. Der Kapitalist will glückliche Arbeiter auf dieselbe Weise ausbeuten wie der Bauer seine glücklichen Kühe. Von den Arbeiterinnen und Arbeitern kann nicht erwartet werden, dass sie engagiert arbeiten ohne das Versprechen, dass sie nicht verhungern müssen, wenn sie das Rentenalter erreichen. Oder wie Marx es ausdrückte, gibt es ein historisches und gesellschaftliches Element bei der Bestimmung des Werts der Arbeitskraft ebenso wie ein physisches Element.

Aber Arbeitskraft ist kein Objekt wie andere Waren, die bei Kauf und Verkauf passiv sind. Sie ist der lebendige Ausdruck des Menschen. Was aus kapitalistischer Sicht die „Wiederherstellung der Arbeitskraft“ ist, ist für die Arbeiterin oder den Arbeiter die Möglichkeit zur Erholung, zu Vergnügen und Kreativität. Über die Höhe des Soziallohns gibt es einen Kampf so wie über jeden normalen Lohn, selbst wenn beide bis zu einem gewissen Grad für das Kapital notwendig sind.

Das Problem wird aus Sicht des Kapitals noch dadurch verschärft, dass nicht alle Sozialleistungen auch nur im Ansatz produktiv sind. Bei einem Großteil geht es ausschließlich um die Aufrechterhaltung der bestehenden Ausbeutungsverhältnisse. Untersuchungen der Beschulung von Arbeiterkindern im 19. Jahrhundert zeigen auf, wie sehr es darum ging, ihnen Disziplin und Respekt vor Autoritätspersonen beizubringen, und nicht um Vermittlung von Fertigkeiten. [16] Erst Ende des 19. Jahrhunderts rückte die Frage einer Grundausbildung der Arbeitskräfte in den Mittelpunkt der Überlegungen des britischen Kapitalismus, der sich ausländischer Konkurrenz ausgesetzt sah. [17] Heute geht es in universitären Disziplinen wie Wirtschaft und Soziologie um den Versuch, die bürgerliche Ideologie wiederzukäuen, während es zum Beispiel bei der Buchhaltung um die unproduktive Umverteilung des Mehrwerts unter den Mitgliedern der Kapitalistenklasse geht.

Das Kapital hat kaum eine andere Wahl, als diese unproduktiven „Unkosten der Produktion“ hinzunehmen. Es gibt jedoch andere Sozialausgaben, die es gerne loswerden würde, und es setzt alles daran, diese auf ein Minimum zu senken. Das sind Sozialausgaben für jene, die nicht als Arbeitskräfte gebraucht werden (die Langzeitarbeitslosen ohne nützliche Qualifikation) oder ihre Arbeitskraft nicht anbieten können (chronisch Kranke und körperlich oder psychisch Beeinträchtigte). Das Kapital hat eine ähnliche Einstellung bezüglich der Mehrheit der alten Leute, muss sich jedoch mäßigen, weil es den Anschein erwecken muss, dass die Zukunft der aktuell beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter gesichert ist. Marx hat darauf hingewiesen, dass es neben der „industriellen Reservearmee“, die Teil der aktiven Arbeiterklasse werden kann, wenn das System in eine Phase der periodischen Expansion eintritt (und in der Zwischenzeit Druck auf Löhne ausübt), eine Überschussbevölkerung gibt, an deren Überleben es kein wirkliches Interesse hat, abgesehen von der Notwendigkeit, Aufständen vorzubeugen und eine demoralisierende Wirkung auf die beschäftigte Arbeiterklasse zu vermeiden.

Die Geschichte der Wohlfahrtsgesetzgebung der vergangenen 180 Jahre war die des Versuchs, die für das Kapital notwendigen Leistungen – wie die Lohnzahlungen – von allem zu trennen, was unnötig ist, ihnen aber aufgezwungen wird, um allgemeine Unzufriedenheit einzudämmen. In den wiederkehrenden Diskussionen derer, die den nationalen Kapitalismus managen, spiegelt sich das wider, wenn es um die Frage geht, wie die Sozialpolitik mit der Arbeitsmarktpolitik zusammenspielt: Bei den bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftlern geht es um den natürlichen oder „nichtinflationären“ Grad von Arbeitslosigkeit, bei den Soziologen und Sozialwissenschaftlern um die „Unterschicht“.

Die Aufspaltung in gesellschaftliche, bis zu einem gewissen Grad für das Kapital produktive Kosten und solche, die nicht produktiv sind, verläuft quer zu der üblichen Aufteilung des Staatshaushalts. Bildung ist sowohl Ausbildung für produktive Arbeit als auch für unproduktive Tätigkeiten (wie Werbung oder Finanzgeschäfte) und für die Vermittlung bürgerlicher ideologischer Werte. Gesundheitsdienste und Arbeitslosenunterstützung dienen sowohl der Gesunderhaltung der Arbeiterklasse, um ihre Arbeitskraft anzubieten, als auch als Mechanismus für den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch eine Mindestversorgung der Alten, Gebrechlichen und Langzeitarbeitslosen. Diese Widersprüchlichkeiten werden immer dann wichtig, wenn das Kapital meint, dass die Höhe der staatlichen Leistungen seine Profitraten zu beeinträchtigen beginnt.

Das ist der Moment, wo die Staaten unter denselben Druck geraten wie Großkapitalien, wenn sie plötzlich mit Konkurrenz konfrontiert sind: nämlich ihre Operationen umzustrukturieren, damit sie in Übereinstimmung mit dem Wertgesetz gebracht werden. Einerseits bedeutet das zu versuchen, den Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen Arbeitsbemessungs- und Entlohnungssysteme aufzuzwingen ähnlich denen der am meisten konkurrenzfähigen Industrieunternehmen. Andererseits bedeutet das die Senkung von Sozialleistungen, um diese so weit wie möglich auf die für die Kapitalakkumulation nötige Arbeitskraft zu beschränken – und das auf eine Weise, dass jene, die ihre Arbeitskraft anbieten, dies zu jedem ihnen angebotenen Lohn tun. Dieser Druck wächst noch, da die Steuerung von Arbeitskräften für den Staat immer wichtiger wird. Dabei erfahren Beschäftigte im Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen, die sich auf einer bestimmten Stufe der kapitalistischen Entwicklung als Teil der beruflich hochqualifizierten Mittelschicht betrachten konnten – mit Gehältern und Arbeitsbedingungen vergleichbar denen von Anwältinnen oder Steuerberatern –, einen traumatischen Prozess der Proletarisierung. Wie wir noch sehen werden, vergrößert das die Probleme der kapitalistischen Nationalstaaten bei ihrem Versuch, plötzlich einsetzende Krisen zu bewältigen. Öffentliche Ausgaben werden zu einem wesentlichen Gegenstand des Klassenkampfs, wie es zu Marxʼ Zeiten noch nicht denkbar gewesen wäre.

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Fußnoten

1. Ausgaben für Forschung und Entwicklung; d. Übers.

2. Ausgaben für die Erhaltung der Arbeitskraft: betriebsmedizinische Einrichtungen, Fabrikkantinen usw. In einigen Fällen auch die Bereitstellung von Werkswohnungen; d. Übers.

3. Ausgaben für die Ausbildung der Arbeitskräfte – was bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler häufig „Humankapital“ nennen; d. Übers.

4. Ashton, T. S., The Industrial Revolution, London, 1948, S. 112–113. Anschließend mussten sie ihnen ihre eigene Arbeitsdisziplin nach dem Takt der Uhr aufzwingen. Siehe Thompson, Edward P., Time and Work-Discipline, in: Customs in Common, London, 1993, S. 370–400.

5. Zur Entwicklung dieser Debatte mit historischen Verweisen siehe: de Brunhoff, Suzanne, The State, Capital and Economic Policy, London, 1978, S. 10–19.

6. Siehe German, Lindsey, Sex, Class and Socialism, London, 1989, S. 33–36.

7. Marshall, T. H., Social Policy, London, 1968, S. 46–59.

8. Rogers, Ann, „Back to the Workhouse”, International Socialism 59, Sommer 1993, S. 11.

9. Hansard, Parliamentary Debates, 17. Februar, 1943, Col 1818.

10. Zitiert nach: Marshall, S. 17.

11. Berüchtigt dafür ist der Angriff auf die Beschäftigung im öffentlichen Dienst: Bacon, Robert, und Walter Eltis, Britainʼs Economic Problem: Too Few Producers, New York, St Martinʼs, 1976.

12. Marxʼs Begriff in Kapital, Band 1, MEW 23, Berlin, 1979.

13. Wenn sie als konstantes Kapital gezählt werden, handelt es sich um eine sehr besondere Form des konstanten Kapitals, das die Firma verlassen und woanders arbeiten kann, und in einigen Interpretationen führt das zu der Ansicht, dass gelernte Arbeiter irgendwie Eigentümer ihres eigenen „Humankapitals“ seien und ein Teil ihres Lohns eine „Rendite“ auf dieses Kapital. Es sollte jedoch noch hinzugefügt werden, dass Auseinandersetzungen über diese Fragen in reine Scholastik abdriften können, denn in jedem Fall erhöhen die Kosten der Ausbildung die Investitionskosten eines Unternehmens. Gleichzeitig erhöhen sie die durchschnittliche Arbeitsproduktivität, insoweit sie im Gesamtsystem verallgemeinert werden, und dienen so dazu, den Wert hinsichtlich der gesellschaftlich notwendigen Arbeit jeder Produktionseinheit zu senken, auf diese Weise verringern sie wiederum den Vorteil für den Einzelkapitalisten, der die Ausbildung vornimmt.

14. Zu dem Problem des Trittbrettfahrens siehe zum Beispiel: O’Mahony, Mary, Employment, Education and Human Capital, in: Floud, R., und P. Johnson, The Cambridge Economic History of Modern Britain, Band 3, Cambridge University Press, 2004.

15. Vorausgesetzt, dass die Arbeit, die sie ausbilden, am Ende auch produktive Arbeit ist.

16. Siehe Johnson, Richard, Notes on the Schooling of the English Working Class 1780–1850, in: Dale, Roger, und andere (Hg.), Schooling and Capitalism, London, 1976, S. 44–54. Siehe auch Shapin, Steven, und Barry Barnes, Science, Education and Control, in demselben Band, S. 55–66.

17. Eine umfassende Darstellung der Entwicklung der größten Industrieländer der damaligen Zeit bietet McGuffie, Chris, Working in Metal, London, 1985.


Zuletzt aktualisiert am 7. Mai 2020