Zuerst erschienen in marx21, Nr.5, April 2008.
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Kürzlich ist Chris Harmans Buch 1968 – eine Welt in Aufbruch auf Deutsch erschienen. Stefan Bornost sprach mit dem Autor über sein Werk und die Situation heute. |
marx21: 1968 war viel mehr als eine Studentenrevolte – das ist eine zentrale These deines Buchs. Was meinst du damit?
Chris Harman: 1968 verdichteten sich verschiedene krisenhafte Entwicklungen im Weltkapitalismus – zum einen der Krieg der USA in Vietnam: Er startete als Polizeioperation um die amerikanische Hegemonie zu verteidigen. In den Vorjahren hatte es Dutzende solcher Einsätze gegeben – beispielsweise in der Dominikanischen Republik oder im Kongo. Diese Einsätze waren kurz und, im amerikanischen Sinne, erfolgreich.
Nichts deutete drauf hin, das die Intervention in Vietnam anders sein würde als die vorherigen Einsätze. Doch Vietnam war anders. Die Bauern-Guerilla war stark in der Bevölkerung verankert und durch ihre kommunistischen Kader straff organisiert.
Die Tet-Offensive im Januar 68 machte auch der amerikanischen Bevölkerung deutlich, das dieser Krieg anders war – und nicht zu gewinnen. Er wurde immer brutaler, die Kosten explodierten und die US-Armee revoltierte. Das erschütterte natürlich die Ideologie vom „freien Westen“ und ist einer der wesentlichen Triebfedern der Revolte gewesen.
Ein zweiter Krisenfaktor war die widersprüchliche Entwicklung des südeuropäischen Kapitalismus. In Frankreich, Italien und Spanien hatte sich der Kapitalismus nach dem Krieg wieder stabilisiert. Das maßgeblich von der katholischen Kirche geprägte gesellschaftliche Klima war bedrückend, die Regierungen autoritär: Die Präsidialherrschaft de Gaulles in Frankreich, die Franco-Diktatur in Spanien und die Dauerregierung der konservativen Democrazia Christiana (DC) in Italien.
Gleichzeitig veränderte sich durch die Industrialisierung die Struktur der Arbeiterklasse. Junge Arbeiter vom Land kamen in die Fabriken, arbeiteten unter schlechtesten Bedingungen und radikalisierten sich. Diese neue Generation sah sich von den bestehenden politischen Parteien, sowohl den konservativen als auch den bürokratisierten kommunistischen, nicht repräsentiert – und bildeten den Kern eines Aufstands in den Betrieben, der sich in Italien sogar über Jahre hinzog.
Auch in Osteuropa endete die Friedhofsruhe. 1965 hatten Jacek Kuroń und Karol Modzelewski eine marxistische Kritik an der polnischen Gesellschaft verfasst und waren zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden – unter dem Protest von Studenten der Universität Warschau. Dieser wurde aber von der Polizei unterdrückt. 1968 drangen dann die Nachrichten über die politische Öffnung in der Tschechoslowakei nach Polen durch und 4.000 Studenten demonstrierten und besetzen die polytechnische Universität in Warschau. In den folgenden Wochen lieferten sich in den polnischen Universitätsstädten Studenten und junge Arbeiter erbitterte Auseinandersetzungen mit der Polizei. Gleichzeitig gewann die Bewegung in der Tschechoslowakei so an Dynamik, dass die Sowjetführung die Panzer rollen ließ. Zusammengenommen war dies die größte politische Erschütterung des Ostblocks seit Anfang der Fünfziger Jahre.
Das vierte Element der Krise von 1968 war der Aufstand der Schwarzen in den USA. Nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg endete zwar die Sklaverei, nicht aber die rassistische Unterdrückung. Im Süden wurde die Rassentrennung per Gesetz abgesichert, im Norden waren die Schwarzen formell frei, aber ökonomisch und sozial unterdrückt. Diese Spannung entlud sich vor allem in den Ghettoaufständen und der Formierung radikaler und auch revolutionärer schwarzer Organisationen.
All diese Elemente zusammen machen das explosive Gemisch von 68 aus – deshalb ist jede Reduzierung, etwa auf einen Generationenkonflikt, zu platt. Aber natürlich war es so, dass die Widersprüche, wie bei jedem gesellschaftlichen Umbruch, von jungen Menschen am deutlichsten empfunden worden – weswegen sie auch das Bild der Demonstrationen und Streiks prägten.
40 Jahre nach der Revolte ziehen viele Alt-68er Bilanz. Was wäre deine?
Offensichtlich ist das erklärte Ziel vieler damaliger Aktivisten – den Kapitalismus durch eine menschenwürdigere Gesellschaft zu ersetzen – nicht erreicht worden. Dennoch wurde die herrschende Ordnung erschüttert. In Ländern wie Italien dauerte es über zehn Jahre, bis sich das politische System wieder im Sinne der Herrschenden stabilisiert hatte. Dazu waren, gerade in Ländern des Südens, enorme Repressionen notwendig. Allein die Tatsache, dass in einem Land wie Chile zehntausende linke Aktivisten durch das Militär umgebracht werden mussten, um den Status quo wieder herzustellen, spricht Bände über das Ausmaß der Radikalisierung.
Von der Bewegung wurden aber auch konkrete Erfolge errungen. Denn Repression war nicht die einzige Methode der Herrschenden, um die 68er wieder einzufangen – es wurden auch Reformen zugestanden. In Deutschland beispielsweise war die kurze „Reformära“ unter Willy Brandt ein Resultat der Studentenrevolte und des darauf folgenden Aufschwungs von Arbeiterkämpfen. Auch der Abzug der US-Armee aus Vietnam ist das Ergebnis von drei miteinander kombinierten Bewegungen: der bewaffneten Widerstandsbewegung der Vietnamesen, der Friedensbewegung – vor allem in den USA, aber auch im Rest der Welt – und dem Widerstand innerhalb der amerikanischen Streitkräfte. Direktes Resultat war, dass die US-Armee jahrelang nicht mehr in anderen Ländern interveniert hat.
’68 und heute: Wo siehst du Parallelen, wo Unterschiede?
Genau wie 1968 gibt es auch heute wieder global agierende Bewegungen – zu nennen sind vor allem die globalisierungskritische Bewegung und die von vielen ihrer Aktivisten getragenen weltweiten Anti-Kriegs-Proteste.
Die Bewegungen Anfang des 21. Jahrhunderts waren von den Zahlen her viel größer als 1968. An der großen Demonstration gegen den drohenden Angriff auf den Irak am 15. Februar 2003 nahmen weltweit elf Millionen Menschen teil, Hunderttausende demonstrierten in Seattle, Genua, Heiligendamm und vielen anderen Orten gegen die kapitalistische Globalisierung. Wenn wir noch die unzähligen Menschen hinzuzählen, die auf den verschiedenen Welt- und Europäischen Sozialforen miteinander diskutiert haben, dann stellt die Breite des Aktivismus 1968 in den Schatten.
Der entscheidende Unterschied liegt aber in der Frage der Strategie der Gesellschaftsveränderung. 1968 platzte der französische Generalstreik in die Debatten der antikapitalistischen Minderheit. Die Arbeiterbewegung wurde so zum strategischen Fokus, allgemein anerkannt als zentrale Kraft um die Gesellschaft grundlegend zu verändern.
Heute sind wir in einer Phase, in der die Arbeiterbewegung erst anfängt, sich von schweren Niederlagen und organisatorischen Krisen zu erholen. Oftmals werden Gewerkschaften, gerade wenn sie noch stark in sozialpartnerschaftlichen Traditionen verhaftet sind, als konservative Kraft wahrgenommen. Zwischen der potentiellen Macht der Klasse und ihrer realen Ausübung klafft eine große Lücke. Deshalb gibt es keine klare Antwort auf die Frage: Wer hat die Macht, die Welt grundlegend zu verändern?
Dabei geht es der Masse der lohnabhängig Beschäftigten nach 30 Jahren neoliberaler Angriffe viel schlechter als 1968. Das führt auf der einen Seite zu Demoralisierung und Zersplitterung der Arbeiterbewegung. Auf der anderen Seite bedeutet dies aber auch, dass eine Revolte wie ’68 weiter ausgreifen könnte, weil die Kritik am globalen Kapitalismus viel allgemeiner ist. Wir sind in einer Zwischenphase zwischen großen Revolten – wie die nächste aussieht wird auch davon abhängen, ob es die Linke schafft, die Brücke zwischen der konkreten Lebenssituation der Arbeiterklasse und einer radikalen Kritik des Kapitalismus zu schlagen.
Zuletzt aktualisiert am 5 July 2010