Chris Harman


Öl-Fässer und Kanonen

(Oktober 2002)


Aus Socialist Review, Nr. 267, Oktober 2002.
Kopiert mit Dank von der ehemaligen Linksruck-Webseite.
HTML-Markierung: Einde O‘Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Im Oktober 2002 erklärte Saddam Hussein, dass er Waffeninspekteure ins Land lassen wolle. Aber der harte Kern der Bush-Administration besteht weiterhin darauf, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Was hat die herrschende Klasse der USA zu gewinnen?

Es gibt keinen Zweifel daran, dass Öl eine wichtige Rolle spielt. Die USA müssen über die Hälfte ihres Ölverbrauchs importieren. Aber Öl allein kann nicht der einzige Grund sein. Ein Krieg könnte sehr gut zu einer kurzfristigen Unterbrechung der Ölversorgung führen. Und wer immer die Macht in den ölproduzierenden Ländern hat, will sein Öl verkaufen. Die Erfahrung mit der Organisation der ölexportierenden Staaten (OPEC) hat in den letzten 25 Jahren gezeigt, wie schwer es für die tief verschuldeten Ölproduzenten ist, ein Kartell zu bilden und die Preise zu erhöhen.

Der amerikanische Kapitalismus hat weltweit riesige Investitionen in anderen als der Ölindustrie. Indem er seine militärische Macht zur Schau stellt, macht er die Welt auch für diese Investitionen sicherer. Das Strategiepapier „Vision für 2020“ des US-Raumkommandos vergleicht die Weltraumrüstung der USA mit den Bemühungen anderer Staaten, in früheren Jahrhunderten Kriegsmarinen zu bauen, um den eigenen Handel zu schützen und auszuweiten. Aber die Gesamtausgaben des amerikanischen Militärs liegen bei US$ 396 Milliarden jährlich. Die Gesamteinkünfte amerikanischer Unternehmen aus Auslandsinvestitionen liegen demgegenüber bei nur US$ 281 Milliarden. Aus Steuern auf die Exporteinkünfte von US$ 900 Milliarden lässt sich die letzte Erhöhung des Militärhaushalts um US$ 115 Milliarden kaum finanzieren. Kurzfristig bedeutet der Krieg also einen finanziellen Verlust.

Aber keine herrschende Klasse kann es sich leisten, ihre Politik ausschließlich an kurzfristigen kommerziellen Überlegungen auszurichten. Sie muss auch den Gesamtkontext, in dem sie ihre Macht ausübt, miteinbeziehen, um zu erkennen, wie sie Position gegen die erbitterte Konkurrenz rivalisierender Herrscher halten kann. Und sie muss der ständigen Gefahr vorbeugen, die ihr von Aufständen der Menschen droht, deren Arbeit sie ausbeutet.

All das trifft heute absolut auf die amerikanische herrschende Klasse zu. Sie erwartet heute immer noch, die unangefochtene Hegemonie zu genießen, die sie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ausüben konnte. Dazu gehört eine führende Rolle in Institutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond und die Möglichkeit, das globale Finanzsystem den Interessen der US-Konzerne entsprechend zu manipulieren, wenn es um Konkurrenz auf dem eigenen oder auf fremden Märkten geht.

Am deutlichsten wurde dies in den letzten Jahren sichtbar an der Fähigkeit der USA, gewaltige Summen an ausländischem Geld anzusaugen, um die eigene wirtschaftliche Expansion zu finanzieren. Im Jahre 2001 flossen ganze US$ 753 Milliarden in die USA und erhöhten die Gesamtsumme ausländischer Investitionen in den USA auf kolossale US$ 2,3 Billionen, was 22,6% des US-Bruttoinlandsproduktes entspricht.

Aber die USA haben bei weitem nicht mehr dieselbe ökonomische Macht wie vor 50 Jahren. Zbginiew Brzezinski, während der letzten 20 Jahre eine der Schlüsselfiguren hinter der amerikanischen Außenpolitik, wies in seinem jüngsten Buch darauf hin, dass das US-Bruttosozialprodukt mit US$ 8.511 Milliarden nur knapp über dem der Europäischen Union mit US$ 8 Milliarden liegt. Die Produktivität pro Arbeitsstunde ist in der amerikanischen Industrie heute niedriger als in Frankreich, und der Vorsprung der US-Industrie resultiert nur aus den längeren pro-Kopf-Arbeitszeiten in den USA. Sogar die weltweiten Direktinvestitionen im Ausland (foreign direct investment/FDI) der EU-Staaten übersteigen heute die der USA.

Wenn die USA heute ihre globale Hegemonie erhalten können und sich in internationalen Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit anderen herrschenden Klassen durchsetzen, so liegt das an etwas anderem als an ihrer wirtschaftlichen Stärke. Entscheidend wird hier ihr militärisches Gewicht, da die amerikanischen Militärausgaben mehr als viermal so hoch sind wie die einzelnen Militärhaushalte der europäischen Mächte zusammengenommen. Wie Brzezinski es sehr knapp ausdrückt: „Gegenwärtig ist Europa de facto ein amerikanisches Militärprotektorat.“

Aber es gibt noch einen zweiten Trick an der Geschichte. Eine der Absurditäten des Kapitalismus ist, dass die schiere Verschwendung der Militärausgaben dem System bis zu einem gewissen Punkt erlauben kann, stabiler zu wachsen als es das ohne die staatliche Nachfrage nach Rüstungsgütern tun würde. Darauf wies schon in den 1920'er Jahren der deutsche Marxist Henryk Grossman hin, und 40 Jahre später arbeiteten Tony Cliff und Mike Kidron seine Theorie weiter aus. Den wachstumsfördernden Einfluss von Militärausgaben konnte man gut beobachten, als Präsident Reagan mit seiner Politik des "militärischen Keynesianismus" die amerikanische Wirtschaft aus der Rezession der frühen 1980er Jahre herausholte.

Aufgrund der Verschmelzung und Integration des zivilen Kapitals mit den Rüstungsproduzenten konnten wichtige Sektoren der US-Industrie (besonders Computer- und Softwareproduktion) in den 1990ern ihre japanischen und europäischen Konkurrenten aus dem Feld schlagen. Die USA mögen zwar für nur rund 20% der weltweiten Computerproduktion aufgekommen sein, aber darin enthalten waren 50% der weltweiten Ausgaben für Forschung und Entwicklung.

Aber Rüstungsausgaben bringen der US-Industrie auch Nachteile. Sie helfen, die Rezessionen abzuflachen. Aber indem sie die Geschwindigkeit der Kapitalakkumulation verlangsamen, erlauben sie anderen Ländern, die USA wirtschaftlich in einer Weise herauszufordern, wie das vor 50 Jahren einfach nicht vorstellbar war. Leute wie Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz und Richard Perle argumentieren schon seit langem, dass die USA das Gleichgewicht nur wiederherstellen können, indem sie unilateral Exempel ihrer militärischen Überlegenheit statuieren. Das bedeutet, China durch das Star Wars Programm einzuschüchtern; sich rüde über die Beschwerden eines geschwächten Russlands hinwegzusetzen; und ohne Rücksicht auf europäische Einwände im Nahen Osten loszustürmen.

Europa hat, so die Überlegung der Falkenfraktion, einfach nicht die militärische Kraft, unabhängig zu agieren. Unter solchen Bedingungen sichert die Kontrolle über das Öl im Nahen Osten nicht nur die Versorgung der USA mit Öl und die Profite ihrer Ölkonzerne. Viel wichtiger ist, dass die amerikanische herrschende Klasse sich auf diese Weise ein Mittel sichert, auf Europäer und Japaner Druck auszuüben, denn diese sind vom arabischen Öl noch abhängiger als die USA selbst. Kurz gesagt verfügen die USA über einen Trumpf, den weder Europäer noch Japaner haben: ihr Waffenarsenal. Aber Waffen sind als Mittel im Konkurrenzkampf der herrschenden Klassen nutzlos, wenn die Welt nicht gelegentlich in Kriege verfällt.

Es ist eine barbarische Strategie. Und sie enthält viele Risiken auch für die Herrschenden der USA. Denn sie erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die arbeitenden Klassen im Nahen Osten Widerstand leisten oder sich gar revolutionär erheben. Und sie kann gleichzeitig offenbaren, in welch hohem Maße die amerikanische Wirtschaft für ihr Funktionieren von zunehmend nervösen Investoren in Europa und Japan abhängig ist. Statt amerikanische Stärke zu demonstrieren, könnte Bushs Abenteuer die Verwundbarkeit der USA offen legen. Das ist der Grund, warum Leute wie Brzezinski, Kissinger und der frühere Berater von Bush sen., Brent Scowcroft, mit dieser Strategie nicht glücklich sind.

Dieses sind die explosiven Widersprüche des Kapitalismus, der am Anfang des 21. Jahrhundert sowohl hoch militarisiert als auch multinational ist.


Zuletzt aktualisiert am 29.1.2012