Duncan Hallas

 

Die Rote Flut

 

6. 1928-34: Die Dritte Periode

Nein ... Genossen! Das Tempo darf nicht herabgesetzt werden! Im Gegenteil, es muß nach Kräften und Möglichkeiten gesteigert werden ... Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir das zuwege, oder wir werden zermalmt.

Stalin, Rede vor Industriemanagern [1]

1928 GERIET DIE NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK (NÖP) in Rußland endgültig in die Krise. Die oppositionellen Strömungen innerhalb der KPdSU waren ausgeschaltet worden. Trotzki, Sinowjew, und eine Schar anderer waren aus der Partei rausgeworfen worden, und viele waren im Gefängnis oder auf entfernte Verwaltungsposten exiliert worden. Die letzten Übrigbleibsel der parteiinternen Demokratie waren zerstört worden.

Die Bürokratie selbst hatte sich mit den Kräften des Kleinkapitalismus in Rußland gegen die oppositionellen Strömungen und gegen die Gefahr einer Wiederbelebung der Arbeiterbewegung zusammengetan. Dies war das Wesen des Bucharin-Stalin-Blocks.

Jetzt, im Augenblick ihres Triumphs, wurde sie mit einer Offensive seitens der Kulaken in Form eines „Getreidestreiks“ Ende 1927 konfrontiert. Die Kulaken, die wohlhabende Minderheit unter der Bauernschaft, kontrollierten praktisch das gesamte zu vermarktende Getreide in Rußland, den Überschuß, der den direkten Verbrauch durch die Bauern selbst überstieg. Sie versuchten nun, die Preise in die Höhe zu treiben, indem sie es für den Verkauf nicht freigaben. „Das Getreideaufkommen in den Monaten des Herbstes 1927, die eigentlich die besten hätten sein sollen, war weniger als die Hälfte von 1926.“ [2] In einem Land, das nach wie vor überwiegend von der Landwirtschaft abhing war dies eine Katastrophe.

Die Bürokratie wurde im Frühling 1928 gezwungen, das Mittel der Zwangsrequirierung von Getreide einzusetzen. Dies unterhöhlte die Grundpfeiler der NÖP und rief einen massiven Widerstand unter der Bauernschaft hervor. Dies führte im Gegenzug zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und zur Stalins Annahme des Industrialisierungsprogramms der Opposition in einer extravagant übertriebenen Form. Der erste Fünfjahresplan wurde gestartet.

Und es war Stalin, der ihn in die Wege leitete. Denn die Sektion der Bürokratie um Bucharin schrak von den massiven Zwangsmaßnahmen, die mit den Fünfjahresplänen zwangsläufig verbunden waren, zurück. Sie wurde im Laufe der Zeit von der Macht verdrängt. Und mit ihr auch eine Sektion von Stalins eigener Fraktion. Stalin war jetzt nicht mehr der Sprecher der Bürokratie, er wurde zu deren Herrscher, zu einem Despoten, der „immer launenhafter, gereizter und brutaler“ wurde, wie sein Nachfolger Chruschtschow 1956 sagte.

Die UdSSR wurde verwandelt. Die letzten Überreste von dem, was Lenin 1920 als einen „Arbeiterstaat mit bürokratischen Verzerrungen“ bezeichnet hatte, wurden weggefegt. Die Bürokratie wurde zu einer selbstbewußten herrschenden Klasse. Der bürokratische Staatskapitalismus wurde auf feste Füße gestellt. Und seine Ideologie war natürlich der „Sozialismus in einem Land“.

Der ursprüngliche Fünfjahresplan war davon ausgegangen, daß 20 Prozent der getreideproduzierenden Haushalte bis 1934 kollektiviert sein würden. In Wirklichkeit waren es insgesamt 55 Prozent bereits im März 1930. Dann kam eine kurze Pause, die in Stalins Rede über „Erfolge, die zu Gleichgewichtsstörungen geführt“ hätten und über „Exzesse“ seitens örtlicher Funktionäre ihren Ausdruck fand. Eine Vorstellung vom Zwangscharakter dieser Maßnahmen gibt uns das offiziell (nachstalinsche) Eingeständnis, daß die Zahl der kollektivierten Haushalte in den drei Monaten, die auf Stalins Rede folgten, auf 23 Prozent zurückfiel. Dann kam die zweite Offensive, die von Massendeportationen sowohl von wirklichen Kulaken als auch von Massen weitaus ärmerer Bauern begleitet wurde. Bis zum Jahr 1934 waren 71,5 Prozent aller Haushalte und 87,5 Prozent der gesamten Anbaufläche kollektiviert worden. [3]

Das Ergebnis war ein Rückgang der Getreideproduktion – trotz beträchtlicher Investitionen in die Landwirtschaft – von 73,5 Millionen Tonnen im Jahr 1928 auf 67,5 Millionen Tonnen 1934. Erst in der zweiten Hälfte der 30er Jahre erreichte der durchschnittliche Getreideertrag den Stand der späten 20er Jahre. Beim Vieh, das von den verzweifelten bäuerlichen Besitzern massenweise geschlachtet worden war, war die Situation weitaus schlimmer. Die offiziellen, nach Stalin herausgegebenen Zahlen beziffern den Rindviehbestand von 1928 auf 70,5 Millionen und von 1934 auf 42,5 Millionen. Das Rationieren von Brot wurde in den Städten wiedereingeführt und dauerte bis 1936 an.

Relevant hier ist nicht die ökonomische Vernunftlosigkeit des Vorgangs, sondern die Tatsache, daß er nur durch eine Herrschaft des Terrors durchsetzbar war. Ein weitverzweigtes Netz von Zwangsarbeitslagern wurde geschaffen, die in erster Instanz von deportierten Bauern bevölkert wurden. Ihre Zahlen wurden bald aufgestockt durch den Zugang von Arbeitern, Technikern, Funktionären und allerart Leute, die der „Sabotage“, der Dieberei oder irgendeiner Opposition beschuldigt wurden. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre hatte sich die Zwangsarbeit als moderne Form der Sklaverei bereits zu einem wichtigen Wirtschaftszweig und zu einem mächtigen Mittel der Abschreckung vor jeglichem Widerstand gegen den neuen Despotismus entwickelt. Allein schon der Umfang dieser Sklaverei auf dem Höhepunkt der stalinistischen Ära – die Schätzungen schwanken zwischen einem Minimum von fünf Millionen und einem Maximum von fünfzehn Millionen – räumte der politischen Polizei GPU und mit ihr der allgemeinen Brutalität des Regimes eine erhöhte Bedeutung als Herrschaftsinstrument ein.

Die Arbeiterklasse wurde verwandelt. Sie wuchs von 11 Millionen, einschließlich Büroarbeiter, im Jahre 1928 auf 23 Millionen im Jahre 1932. Während eine breite Flut von ehemaligen Bauern in die Städte und in die rapide anwachsende Arbeiterschaft gezerrt wurde, verschwanden alle noch übriggebliebenen gewerkschaftlichen Rechte. Die Gewerkschaften wurden, zwar nicht formell aber in Wirklichkeit, zu staatlichen Agenturen der Arbeiterdisziplinierung und der Produktionsbeschleunigung. Diese schnell wachsende Arbeiterschaft wurde durch mörderische Repressionen atomisiert. Aber nicht nur das. Ganze Schichten unerfahrener Abeiter wurden in das Management und die Verwaltung einverleibt, und bald darauf sorgten ausgedehnte Prämiensysteme für riesige Lohnunterschiede innerhalb der Arbeiterschaft selbst. Die durchschnittlichen Reallöhne wurden stark gesenkt. Die offiziellen Statistiken der Nachstalinära zeigen einen Rückgang um 12 Prozent zwischen 1928 und 1932, was mit Sicherheit eine grobe Unterschätzung ist. Eine „Arbeiteraristokratie“ wurde herangezüchtet mit Einkommen, die, verglichen mit den Durchschnittseinkommen im Lande, viel größer waren als in irgendeinem der fortgeschrittenen Industrieländer. Die Arbeiterklasse existierte als politische Kraft nicht mehr. Das bürokratische, staatskapitalistische, totalitäre Regime hatte sich gefestigt.

Mit diesen Methoden wurde Rußland teilweise industrialisiert. Die Stahlproduktion, die 1927-28 4 Millionen Tonnen betragen hatte, erreichte 1936 6 Millionen. Der Kohleausstoß wuchs schneller, von 35 Millionen auf 64 Millionen Tonnen in der gleichen Periode. Andere Sektoren verzeichneten ebenfalls ein beachtliches Wachstum.

Für Moskau war die Komintern jetzt nur noch eine Tochteragentur zur Verteidigung dieses Industrialisierungsprozesses und der ihn leitenden Bürokratie. Jeder äußere Aufruhr, jede Störung der internationalen Beziehungen, alles, was sich auf den Außenhandel der UdSSR nachteilig auswirken könnte (denn der erste Fünfjahresplan ging von einer beträchtlichen Zunahme des Außenhandels aus), war nicht mehr drin. Der wilde „Linksextremismus“ der „Dritten Periode“ der Komintern hatte paradoxerweise den erwünschten Effekt.

Paradoxerweise deswegen, weil man hätte erwarten können, daß eine linke Politik die Kommunistischen Parteien außerhalb Rußlands sie in einen Konflikt mit ihren jeweiligen Regierungen treibt. Die linke Politik der Dritten Periode war jedoch so extrem, daß sie diese Kommunistischen Parteien von den Arbeiterbewegungen effektiv isolierte, sie abstentionistisch und passiv machte. Die Kommunistischen Parteien stellten daher keine Bedrohung für ihre herrschenden Klassen dar, und folglich auch keine Gefahr für die Außenpolitik- der UdSSR. Dies traf besonders für Deutschland zu, wo die stalinsche Politik größtenteils auf Annäherungsversuchen mit der Weimarer Republik und deren Stabschefs basierte, was die Zurverfügungstellung von militärischen Einrichtungen in Rußland mit einschloß, so daß dem deutschen Militär ermöglicht wurde, die Einschränkungen des Versailler Vertrages in Sachen Wiederbewaffnung zu umgehen.

Die linke Politik dieser Periode wurde von der Komintern nicht bewußt eingesetzt, um die Kommunistischen Parteien zu isolieren. Die linke Politik war vielmehr das Produkt von Auseinandersetzungen innerhalb der UdSSR, wo die Bürokratie jetzt gegen den rechten Flügel um Bucharin kämpfte. Aber sie zeigte sich als vorteilhaft ... die Mütze paßte, und die Komintern setzte sie auf.

 

 

Die neue Linie

Ähnlich wie sich die Sozialdemokratie über den Sozialimperialismus zum Sozialfaschismus entwickelt und sich in die Vorhut des modernen kapitalistischen Staates ... einreiht .... geht die sozialfaschistische Gewerkschaftsbürokratie in den sich zuspitzenden Wirtschaftskämpfen voll und ganz auf die Seite der Großbourgeoisie über ... und verwandelt den reformistischen Gewerkschaftsapparat in einen Organisator des Streikbrechertums ... In diesem Prozeß der raschen Faschisierung des reformistischen Gewerkschaftsapparats und seines Verwachsens mit dem bürgerlichen Staat spielt der sogenannte „linke“ Flügel der Amsterdamer Internationale (Cook, Finmen u.a.) eine besonders schädliche Rolle, denn unter dem Schein einer Opposition gegen die reaktionären Führer der Amsterdamer Internationale wollen sie vor den Arbeitern den wirklichen Sinn dieses Prozesses verbergen und bilden einen aktiven organischen (und bei weitem nicht den unbedeutendsten) Bestandteil des Systems des Sozialfaschismus.

Resolution des 10. Plenums der Kominternexekutive (Juli 1929) [4]

Die neue Kominternlinie machte ihren Einzug auf dem Sechsten Weltkongreß im Juli-August 1928 auf dem das Ende der kapitalistischen Stabilisierung („die zweite Periode“) und die Ankunft der „dritten Periode“ proklamiert wurden. „Die dritte Periode ... ist eine Periode der stärksten Entwicklung der Widersprüche der Weltwirtschaft ... der allgemeinen Krise des Kapitalismus ... eine neue Phase von Kriegen zwischen den imperialistischen Staaten, von Kriegen gegen die Sowjetunion, nationalen Befreiungskriegen gegen den Imperialismus, Interventionen des Imperialismus, gigantischen Klassenkämpfen.“ [5]

Noch keine wirklich eindeutigen Schlußfolgerungen wurden aus dieser apokalyptischen Vision gezogen, vielleicht deswegen, weil die Anhänger Bucharins immer noch ein Rückzugsgefecht führten (Bucharins letzter Auftritt in der Komintern war auf diesem Kongreß). Aber dieses Manko wurde auf dem zehnten Plenum der Kominternexekutive im Juli 1929 behoben: „Angesichts der sich steigernden imperialistischen Gegensätze und der Verschärfung des Klassenkampfes wird der Faschismus in zunehmendem Maße zu einer immer mehr verbreiteten Herrschaftsmethode der Bourgeoisie. Eine besondere Form des Faschismus in Ländern mit starken sozialdemokratischen Parteien ist der Sozialfaschismus, der immer öfter von der Bourgeoisie als Mittel zur Paralysierung der Aktivität der Massen im Kampfe gegen das Regime der faschistischen Diktatur aufgeboten wurde.“ [6]

Was dieser Mischmasch in der täglichen Praxis bedeutete, war die Ablehnung der Einheitsfront – nicht offen ausgesprochen natürlich, aber indem man wiedermal Einheitsfrontaktivitäten „nur von unten“ vorschlug. Die Sozialdemokraten waren jetzt der Hauptfeind und nicht mehr die wirklichen Faschisten. Die Widersinnigkeit der Analyse vom „Sozialfaschismus“ wurde bereits aufgezeigt. Auf die Frage, wer zu einem gegebenen Zeitpunkt der Hauptfeind ist, kann man natürlich nicht mit zeitlosen Verallgemeinerungen antworten. Es hängt ganz und gar von der Situation ab. Unter den konkreten Umständen, wo diese „neue Linie“ am meisten zählte, nämlich in Deutschland zur Zeit des Hitleraufstiegs, waren die Faschisten der Nazipartei ganz klar der Hauptfeind, und nicht die Sozialdemokraten der SPD.

Die Vorstellung, daß die Gewerkschaftsbürokratie „sozialfaschistisch“ sei, führte in der Konsequenz zum Gedanken, die Gewerkschaften zu spalten und getrennte „rote“ Gewerkschaften zu gründen. Man trat allerdings nicht formell für einen solchen Kurs ein – wegen Lenins ausdrücklicher Verurteilung des „zweifachen Gewerkschaftertums“. Stattdessen wurde ein ultralinker und abenteuerlicher Kurs verfolgt, der es den Gewerkschaftsbürokratien ermöglichte, die Linken rauszutreiben, was in Deutschland, Großbritannien und den USA dann auch geschah, bzw. die linken Gewerkschaften zu isolieren, wie das in Frankreich und der Tschechoslowakei der Fall war. In allen Fällen war das Ergebnis die Stärkung der Rechten.

Seitens der Sozialdemokratie gab es Provokationen, krasse Klassenzusammenarbeit und herzzerreißende Ausverkäufe zur Genüge. In Großbritannien zum Beispiel stimmt es sehr wohl, daß sich die TUC-Führer nach 1926 jahrelang als „Streikbrecherorganisation“ verhielten. Daher war die Gründung 1929-30 der „Vereinigten Kleidungsarbeiter“ als Abspaltung von der „Nationalen Gewerkschaft der Schneider und Kleidungsarbeiter“, sowie der „Vereinigten Bergarbeiter Schottlands“ als Abspaltung von der „Bergarbeiterföderation Großbritanniens“ (die heutige NUM) zum Teil eine Reaktion auf den unerhörten Verrat durch rechte Funktionäre. Die Aktivisten der Kommunistischen Partei, die diese Gewerkschaftsabspaltungen förderten, hatten eine Zuhörerschaft, eine reale wenn auch Minderheitsunterstützung.

Es war aber ein politischer Fehler. Die britische Kommunistische Partei und ihre Kominternoberen versäumten es nicht nur, einen harten Kampf gegen ultralinke Illusionen in „rote Gewerkschaften“ zu führen, wie das Lenin 1920 getan hatte, sie förderten sie sogar. Die Linie der „dritten Periode“ der Komintern im Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie spricht sich ihr eigenes Urteil. Denn sie bedeutete eine regelrechte Hilfe für die Bürokratien, indem sie es versäumte, tatsächlich entstehende Risse in den Bürokratien zwischen der Linken und der Rechten auszunutzen, und indem sie die Aktivisten und ihre unmittelbare Peripherie von der Masse der Gewerkschaftsmitglieder isolierte.

Der plötzliche Schwenk hin zum Linkssektierertum war zum Teil ein Ergebnis davon, daß man der oppositionellen Kritik zuvorkommen wollte, die in den Kommunistischen Parteien außerhalb Rußlands an den katastrophalen Auswirkungen der rechten Politik der vorhergehenden Periode, insbesondere für Großbritannien und China, geäußert wurde. Der wichtigere Beweggrund war jedoch das Bedürfnis, Bucharins Anhänger von einflußreichen Positionen – in verschiedenen Kommunistischen Parteien zu verdrängen. „Die Hauptgefahr kommt von rechts“, verkündete man, und die inzwischen gutgeölten bürokratischen Mechanismen zur Eliminierung von unabhängig denkenden Störfrieden, wie sie von Sinowjew eingeführt und von Bucharin weiterentwickelt wurden, fanden jetzt rücksichtslose Anwendung gegen die Anhänger Bucharins.

Wirkliche Linke, die während Bucharins Herrschaft gesäubert worden waren, wurden jedoch nicht rehabilitiert. Stattdessen wurden „Führer eines neuen Typs“ gefördert und zu Objekten eines Personenkultes gemacht, der den in Rußland um Stalin herum widerspiegelte. Unverzüglicher Gehorsam ohne Hinterfragen und die unkritische Anbetung Stalins und seiner Werke, das waren jetzt die Anforderungen.

Ernst Thälmann von der KPD ist ein gutes Beispiel für den „neuen Typ“. „Als authentischer Arbeiter war Thälmann eine gute Gallionsfigur und genoß eine große persönliche Beliebtheit. In anderer Hinsicht war er nicht besonders begabt.“ [7] Aber er war unfehlbar gehorsam – und das machte ihn zum Führer der größten Kommunistischen Partei der Welt außerhalb Rußlands.

Im Moskauer Zentrum übernahm Stalins Laufbursche Molotow das Kommando. Bis 1928 hatte er in Kominternangelegenheiten überhaupt keine Rolle gespielt.

Es gab allerdings einen Unterschied zwischen der „Linksorientierung“ der Dritten Periode und der von 1924-25. Trotz aller Torheiten, die begangen wurden, versuchte die Komintern damals noch, eine revolutionäre Rolle zu spielen. 1928-34 war das nicht der Fall. Ein extremer Wortadikalismus ging einher mit Passivität in der Praxis. Die Kommunistischen Parteien trieben sich in die Isolation, und schrien dann umso vehementer von hinter den Seitenlinien.

Dies paßte Stalin in den Kram. Er brauchte diese Parteien noch, aber in erster Linie als Propagandaagenturen der UdSR. Eine aktive Politik, z.B. ein Herantreten an die Sozialdemokraten, um eine aggressive Einheitsfront gegen Hitler aufzubauen, barg in sich die Gefahr politischer Umwälzungen. Das war das letzte, was Stalin wollte. Seine Politik war konservativ: Verstrickungen im Ausland vermeiden, um so das Risiko einer ausländischen Intervention zu vermeiden. Der Linksradikalismus der Dritten Periode ließ sich mit diesem Ziel gut verbinden. Die Komintern hatte jetzt aufgehört, eine revolutionäre Organisation zu sein.

Stalins Motive sind klar, und in der UdSSR war sein Wort Gesetz. Aber warum beugten sich die Kominternparteien der neuen Linie? Am wichtigsten war das von Stalin geerbte Prestige der russischen Revolution – ein Ergeignis, das noch nicht so lange zurücklag. Die Sowjetrepublik war ein Symbol für die Hoffnungen kommunistischer Aktivisten. Und die Niederlagen in der Welt außerhalb Rußlands erhöhten nur seine Bedeutung. Je schwieriger die Zeiten in anderen Ländern wurden, desto wichtiger wurde der Mythos (denn inzwischen war es einer) von der Arbeitermacht in Rußland, desto mehr stieg das Prestige Stalins, des „Lenin unserer Zeiten“, wie es die stalinistische Propaganda ausdrückte. „Je dunkler die Nacht, desto heller der Stern.“

1930 gab es dann eine wirkliche und dramatische Veränderung in der Weltlage. Als die neue Linie im Sommer 1928 angenommen wurde, war der Weltwirtschaftsboom der späten 20er Jahre immer noch voll im Gang. Und dieser Boom hielt während der ersten fünfzehn Monate der Dritten Periode an. Nach dem Zusammenbruch von Wall Street im Oktober 1929 entfaltete sich im Laufe des Jahres 1930 eine vernichtende Krise. Die Produktionszahlen fielen, und die Arbeitslosigkeit stieg ins Unermeßliche überall auf der Welt. Aber in der UdSSR, wo der erste Fünfjahresplan im Gang war, stiegen die Produktionszahlen schnell, und die Arbeitslosigkeit, die während der NÖP-Periode hoch gewesen war, verschwand. Dieser Kontrast trug erheblich zur Stärkung des Mythos Rußland und in der Folge zur Stärkung von Stalins Einfluß auf die Kominternparteien bei.

In den meisten Parteien existierte eine berechtigte Abscheu vor den Exzessen der rechten Wendung und ihren Ergebnissen. Diese Abscheu wurde meistens nur von einer Minderheit geteilt, aber sie gab der Kominternexekutive, die inzwischen nur aus Agenten Stalins bestand, einen Hebel gegen die „rechten“ Führungen. So wurde die britische Kommunistische Partei mit Hilfe einer linksorientierten Opposition in den Bezirken London und Newcastle und mit Hilfe der Jungen Kommunistischen Liga „umgedreht“.

In den meisten Fällen jedoch mußte Druck angewendet werden. Die großen Parteien in Frankreich, Deutschland und der Tschechoslowakei hatten 1925 bereits eine Kette von Säuberungen wirklicher und vermeintlicher „Rechter“ und dann von wirklichen und sonstigen Linken in den Jahren 1925-27 über sich ergehen lassen müssen. Die Überlebenden in den Führungen hatten ein flexibles Rückgrat entwickelt und paßten sich der neuen Linie und den „Führern neuen Typs“ ohne allzu große Schwierigkeiten an. Seinerzeit hatten sie Trotzki und Sinowjew denunziert, jetzt war Bucharin an der Reihe.

Es gab Ausnahmen. Es erwies sich als notwendig, die rechte Mehrheit in der Führung der amerikanischen Kommunistischen Partei per Kominternerlaß auszuschließen. Den Ausgeschlossenen gelang es nicht, die Mehrheit der Mitgliedschaft mitzuziehen. Ein ähnliches Unternehmen gegen die Kilbom-Führung in Schweden führte zu einer Spaltung, bei der Kilbom die Mehrheit der Mitglieder mitnahm (ungefähr 18.000 im Jahr 1928). In den meisten Fällen jedoch konnten sogar die prominentesten Führer ausgeschlossen werden, ohne daß es ihnen gelungen wäre, mehr als eine Handvoll ihrer Anhänger mitzunehmen.

Mancherorts gingen die Mitgliedszahlen stark zurück. In Frankreich fielen die offiziellen Mitgliedszahlen von 52.526 im Jahr 1928 auf 39.000 im Mai 1930 und weiter auf 30.000 im März 1932. Die tschechische Partei, die 1928 150.000 Mitglieder beanspruchte, zählte 1931 nur noch 35.000. [8] Die britische Kommunistische Partei hatte 5.526 eingeschriebene Mitglieder im März 1928, Ende 1929 beanspruchte sie 3.500. Die norwegische Partei, 1928 eine zwar kleine aber immer noch wichtige Partei, war 1932 inzwischen zu einer isolierten Sekte reduziert worden.

Auch hier gab es Ausnahmen. In den späten 20er Jahren war die südafrikanische Partei eine kleine, abnehmende Organisation unter weißer Führung gewesen. Mit einer neuen Linie und einer neuen, teilweise schwarzen, Führung wurde sie in die Lage versetzt, eine Anzahl von Streiks durch schwarze Arbeiter anzuführen und, trotz Repressionsmaßnahmen, ihren Einfluß zu vergrößern. Ähnlich war es in Australien, da die Wirtschaftskrise Australien besonders hart traf – 1932 war jeder dritte Arbeiter ohne Beschäftigung. Deshalb, und weil die Arbeiterpartei an der Macht war und den Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiter anführte, entsprach die ultralinke Linie der verzweifelten Stimmung in manchen Teilen der Arbeiterklasse. Die KP Australiens wuchs von 249 Mitglieder 1928 auf 2.824 1934 und legte dabei den Grundstein für ihren späteren Einfluß in den Gewerkschaften. [9]

Der bei weitem wichtigste Fall war aber der der KPD. „Von einer relativ stabilen Mitgliedschaftszahl um die 125.000 in den späten 20er Jahren wuchs sie auf 170.000 im Jahr 1930, 240.000 im Jahr 1931 und 360.000 Ende 1932 am Vorabend der Katastrophe“. [10]

1931 hatte Trotzki gesagt, Deutschland sei „der Schlüssel zur Weltlage“ Und es war in Deutschland, daß die neue Linie in der Praxis und in einer Situation tiefer und sich verschärfender sozialer Krise von einer Massenpartei getestet wurde.

 

 

„Nach Hitler sind wir an der Reihe“

Das hat Herr Brüning sehr klar gesagt: wenn die (Faschisten) erst einmal an der Macht sind, wird die Einheitsfront des Proletariats zustandekommen und wird alles wegfegen ... Die faschistischen Herrschaften schrecken uns nicht. Sie werden rascher abwirtschaften als jede andere Regierung.

Remmele, KPD-Führer, in seiner Rede vor dem Reichstag (Oktober 1931) [11]

BEI DEN REICHSTAGSWAHLEN im Mai 1928 hatte die SPD 29 Prozent der Stimmen erhalten; das waren mehr als neun Millionen Wähler, ein Zuwachs von 1,3 Millionen im Vergleich zu den Wahlen vom Dezember 1924. Die KPD erzieIte 10,6 Prozent oder 3,2 Millionen Stimmen, ein Zuwachs von einer halben Million, obwohl deutlich unter ihrem Ergebnis von 12,6 Prozent im Mai 1924. Die Nazis erzielten nur 810.000 Stimmen oder 2,6 Prozent. Das Resultat war eine neue „Große Koalition“ an der Regierung, getragen von der SPD, der katholischen Zentrumspartei, den liberalen Demokraten und der rechten Deutschen Volkspartei und geführt vom SPD-Führer Hermann Müller.

Die neue Regierung stellte ihren konservativen Charakter bald unter Beweis. Sie trieb den Bau des Minischlachtschiffs Deutschland voran, obwohl die SPD dieses Projekt während ihrer Wahlkampagne vehement bekämpft hatte. Sie unterstützte die Stahlbosse während der von ihnen verhängten Aussperrung im Herbst 1928. Und sie verfolgte eine tatkräftige Politik von „Gesetz und Ordnung“, von der der 1. Mai 1929 das berüchtigste Beispiel ist.

Zörgiebel, SPD-Mitglied und Polizeipräsident Berlins, hatte Demonstrationen am 1. Mai verboten. Aber die KPD rief wie gewöhnlich dazu auf, und es kam ein großer Zug zustande, an dem auch viele SPD-Mitglieder teilnahmen. Zörgiebels Polizei eröffnete das Feuer auf die Arbeiter, wobei sie 25 tötete und weitere 36 schwer verletzte. Zörgiebel gab ein paar Tage später eine Erklärung ab, „in der er das Schießen der Polizei mit der Behauptung zu rechtfertigen suchte, zuerst sei auf die Polizei geschossen worden. Nach der Erklärung Zörgiebels sollten vierzehn Gewehrkolben von Schüssen aus der Masse zersplittert oder durchlöchert worden sein, obwohl glücklicherweise die Polizei keine Verluste erlitt.“ [12] Die SPD-Minister rückten von Zörgiebel nicht ab.

Die KPD hatte deshalb eine ausgezeichnete Gelegenheit, SPD-Arbeiter zu beeinflussen und zu gewinnen. Sie ging aber dazu über, ihre Chancen zu schmälern, indem sie hysterisch über den „Sozialfaschismus“ tobte, die SPD-Mitglieder „kleine Zörgiebels“ nannte und sich gänzlich unfähig zeigte, sich zur linken Opposition innerhalb der SPD zu verhalten, die sie die „linken Sozialfaschisten“ beschimpfte.

Dann kam die Wirtschaftskrise. „Vom Jahre 1929 ab stieg die Erwerbslosigkeit beständig, bis sie im Jahre 1933 die Ziffer von sechs Millionen erreichte und noch darüber hinausging. Hierbei handelte es sich um die offizieIle Ziffer registrierter Erwerbsloser. Tatsächlich waren zwischen acht und neun Millionen Lohn- und Gehaltsempfänger ohne Arbeit. Darunter befanden sich fast fünfzig Prozent aller Gewerkschaftsmitglieder. Zur gleichen Zeit wurden Löhne und Gehälter herabgesetzt, die Erwerbslosenunterstützungen gekürzt und, infolge des rapiden Falls der Kaufkraft der Arbeiter, Millionen von kleinen Geschäftsleuten, Händlern, Handwerkern und Bauern ruiniert ... Eine radikale Lösung – ganz gleich wie sie aussah, solange sie radikal und wirksam war – das war es, wonach eine steigende Zahl von Deutschen in jenen Jahren verlangte, damals, als die Redensart ‚so kann es nicht weitergehen‘ so häufig wurde wie ‚Grüß Gott!‘ und ‚Guten Tag!‘.“ [13]

In dieser Situation brauchte die KPD konkrete Losungen, wirksame Teilforderungen, mit denen sie eine zunehmende Anzahl von Arbeitern außerhalb der eigenen Ränge hätte beeinflussen können. Stattdessen verabreichte die KPD ihren Anhängern eine spärliche Kost von Gerede über „steigende revolutionäre Kämpfe“, die sich vertiefende Krise (was jeder sowieso sehen konnte), die glorreichen Siege des ersten Fünfjahreslplans und die Drohung durch den Sozialfaschismus. Sie blieb politisch passiv, trotz ihrer wütenden Propagandakampagnen.

Die „Große Koalition“ fiel Ende März 1930 auseinander, nachdem die SPD widerwillig in die Opposition getrieben worden war, weil die von der Geschäftswelt verlangten weiteren Lohn- und Sozialkürzungen sogar für den rechten Flügel der SPD unannehmbar waren.

Jetzt war eine ideale Zeit für die KPD gekommen, um eine konsequente Einheitsfrontkampagne zu starten und die Frage der Einheitsfront ins Zentrum ihrer politischen Orientierung zu setzen. Sich gegen die ganzen Torheiten der These vom „Sozialfaschismus' wendend erklärte Trotzki geduldig:

Die Sozialdemokratie, die heutige Hauptvertreterin des parlamentarisch-bürgerlchen Regimes, stützt sich auf die Arbeiter. Der Faschismus auf das Kleinbürgertum. Die Sozialdemokratie kann ohne Arbeiter-Massenorganisationen keinen Einfluß ausüben. Der Faschismus seine Macht nicht anders befestigen als durch Zerschlagung der Arbeiterorganisationen ...

Für die monopolistische Bourgeoisie stellen parlamentarisches und faschistisches System bloß verschiedene Werkzeuge ihrer Herrschaft dar ... Doch für die Sozialdemokratie wie für den Faschismus ist die Wahl des einen oder des andern Werkzeugs von selbständiger Bedeutung, mehr noch, die Frage ihres politischen Lebens oder Todes ...

Die Faschisierung des Staates bedeutet nicht nur die Mussolinisierung der Verwaltungsformen und –verfahren .... sondern vor allem und hauptsachlich die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen, Zurückwerfung des Proletariats in amorphen Zustand, Schaffung eines Systems tief in die Massen dringender Organe, die eine selbständige Kristallisation des Proletariats unterbinden sollen. Darin besteht das Wesen des faschistischen Regimes. [14]

Es gab deshalb eine objektive Grundlage für eine Einheitsfront gegen den Faschismus, eine reale Interessengemeinschaft zur Aufrechterhaltung der unabhängigen Arbeiterorganisationen. Nicht, daß Trotzki irgendwelche Illusionen gehegt hätte, daß die SPD- und ADGB-Führer, auf sich allein gestellt, diesen Zusammenhang erkennen würden. Ganz im Gegenteil. Aber ein beträchtlicher und wachsender Teil ihrer Anhängerschaft könnte und würde das tun, vorausgesetzt die KPD rückte die Einheitsfront ins Zentrum ihrer Politik. Und, um SPD-beeinflußte Arbeiter zu gewinnen, war es notwendig, sich nicht darauf zu beschränken, sie direkt anzusprechen, sondern auch ihre Führer anzusprechen, wiederholte Male und mit konkreten Vorschlägen bei jeder neuen Wendung im Kampf, ohne sich durch Abfuhren einschüchtern zu lassen, gerade um die Mitglieder zu beeinflussen und so zumindest Teile des SPD/ADGB-Apparats in eine Einheitsfront zu zwingen. Aber die stalinisierte KPD verfolgte den genau entgegengesetzten Kurs.

Nach dem Zusammenbruch der „Großen Koalition“ übernahm Brüning, der Führer der Zentrumspartei, die Regierung. Er regierte vermittels Notverordnungen, wie das die Weimarer Verfassung erlaubte, da er über keine parlamentarische Mehrheit verfügte.

Im September 1930 wurden Wahlen abgehalten. Zwei Jahre lang hatte die KPD, gemäß der Theorie des „Sozialfaschismus“, ihr Sperrfeuer auf die SPD konzentriert. Nun gewann sie Stimmen auf Kosten der SPD. Die KPD erzielte 4.592.100 Stimmen oder 13,1 Prozent. Die SPD erhielt 8.577.700 Stimmen, verglichen mit ihren 9.153.000 im Jahr 1928; ihr Anteil sank somit von 29.8 auf 24.5 Prozent. Gleichzeitig machten die Nazis einen spektakulären Sprung nach vorn, indem sie ihren Stimmenanteil von 1928 verachtfachten und 6.409.600 Stimmen oder 18,3 Prozent auf sich vereinigten. Darüberhinaus war der Gesamtanteil der Arbeiterparteien von 40,4 auf 37,6 Prozent Zurückgefallen. Brüning fehlte immer noch die erforderliche Mehrheit, aber dank der „Tolerierung“ durch die SPD, die kein einziges Mal gegen die Regierung in einer Vertrauensfrage stimmte, blieb er in seinem Amt.

Die KPD-Führer waren überglücklich. Sie hatten jetzt 77 Abgeordnete im Reichstag, statt der bisherigen 54. Über das Vorrücken der Nazis machten sie sich lustig. „Der 14. September war der Höhepunkt der national-sozialistischen Bewegung in Deutschland ... was danach kommt, kann nur der Abschwung und Verfall sein“ [15], erklärte die Tageszeitung der KPD in Berlin. Und zur Frage der drohenden faschistischen Machtergreifung: „Die faschistische Diktatur ist nicht mehr eine Gefahr, sie ist bereits da“ [16], sagte sie, und meinte damit, daß das Brüning-Regime selbst faschistisch sei, genauso wie sein sozialdemokratisch geführter Vorgänger es gewesen war.

Es war eine Kombination von Blindheit, linksradikaler Protzerei und parlamentarischem Kretinismus.

Trotzkis nüchterne und treffende Kritik wurde im gleichen September 1930 niedergeschrieben:

Der Zuwachs von 1.300.000 Stimmen ist vom Standpunkt der „normalen“ Parlamentsmechanik, selbst wenn man das Anwachsen der Gesamtwählerzahl berücksichtigt, ein ungeheurer. Aber der Stimmengewinn der Partei verblaßt vollkommen vor dem Sprung des Faschismus von 800.000 Stimmen auf 6.400.000 Stimmen. Keine geringere Bedeutung für die Bewertung der Wahlen besitzt die Tatsache, daß die Sozialdemokratie, trotz bedeutender Verluste, ihren Grundbestand gehalten und noch immer eine bedeutend höhere Anzahl von Arbeiterstimmen als die Kommunistische Partei bekommen hat.

Wenn man sich fragt, welche Kombination internationaler und nationaler Bedingungen geeignet wäre, die Arbeiterklasse am stärksten zum Kommunismus zu drängen, so könnte man keine günstigeren Bedingungen für eine solche Wendung anführen als die gegenwärtige Lage in Deutschland: ... Die Kommunistische Partei hat sich trotz ausnehmend günstiger Bedingungen als zu schwach erwiesen, das Gebäude der Sozialdemokratie mit Hilfe der Formel „Sozialfaschismus“ zu erschüttern; der wirkliche Faschismus bedroht dies Gebäude jetzt ... Mag die Feststellung, daß die Sozialdemokratie durch ihre gesamte Politik das Aufblühen des Faschismus vorbereitet, noch so richtig sein, so ist es nicht weniger richtig, daß der Faschismus vor allem für die Sozialdemokratie selbst eine tödliche Drohung darstellt ...

Zweifellos werden die Führer der Sozialdemokratie und eine dünne Schicht der Arbeiter-Aristokratie den Sieg des Faschismus letztlich dem revolutionären Sieg des Proletariats vorziehen. Doch gerade das Herannahen einer solchen Entscheidung bedeutet für die sozialdemokratische Führung außerordentliche Schwierigkeiten in den eigenen Reihen. Die Politik der Einheitsfront der Arbeiter gegen den Faschismus ist ein Erfordernis der gesamten Situation; sie eröffnet der Kommunistischen Partei ungeheure Möglichkeiten. Die Bedingung des Erfolges ist das Fallenlassen von Theorie und Praxis des „Sozialfaschismus“, deren Schädlichkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen katastrophal wird. [17]

Genau das aber konnten die KPD-Führer nicht leisten. Stalin hatte die Theorie des Sozialfaschismus verordnet und nur er konnte sie verschrotten. Es gab in der Tat einige Verschiebungen in der Betonung der Linie. Im Januar 1931 wurde die Losung der „Volksrevolution“ als „wichtigste strategische Losung der Parteischlag den Sozialfaschismus, dann werdet ihr den Nationalfaschismus treffenfür zu einfach“ erklärt, und so weiter und so fort. Aber die zentrale Stoßrichtung der Linie wurde aufrechterhalten: die SPD ist der Hauptfeind.

Als die Nazis dann eine Volksabstimmung zur Entlassung der sozialdemokratischen Landesregierung in Preußen im Sommer 1931 propagierten, unterstützte die KPD dieses Vorhaben, nannte sie die „rote Volksabstimmung“ und tat ihr Möglichstes (ohne Erfolg, wie sich herausstellte), die Regierung unter Umständen zu zerstören, die als einzige Alternative eine Nazi-konservative Koalitionsregierung zuließen.

1932 fand sich die KPD in einem Block mit den Nazis zur Unterstützung eines inoffiziellen Streiks der Berliner Trausportarbeiter wieder. „Straßensammlungen für den Streikfonds wurden organisiert, und in einigen Stadtteilen Berlins konnte man die einzigartige Beobachtung machen von einem Kommunisten und einem Nazi, die Arm in Arm standen und nach einem vereinbarten Rhythmus schrien, während sie ihre Sammelbüchsen schüttelten: „Für den Streikfond der RGO.! [Rote Gewerkschafts- Opposition] – Für den Streikfond der N.S.B.0. [Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation]“. Der Anblick dieser perversen Einheitsfront war für die meisten Gewerkschaftler, Sozialisten und sogar für viele Kommunisten so abstoßend, daß sich die ursprüngliche Sympathie für den Streik und die Streikenden in Abscheu und Feindseligkeit verwandelte.“ [18] Das Ergebnis war, daß der Streik schnell zusammenbrach, und die Isolation der KPD von der Masse der sozialdemokratischen Arbeiter massiv gestärkt wurde.

Noch im September 1932, vier Monate bevor Hitler an die Macht kam, wiederholte Thälmann gehorsam: „Die SAP, diese linke Filiale des Sozialfaschismus [SPD] und auch der Brandleristen und Trotzkisten kommen mit der Losung der ‚Vereinigung der SPD und KPD‘, um damit den Einheitswillen der Massen in falsche politische Bahnen zu lenken ... Der Sozialfaschismus und der Faschismus zeigen sich gerade in der jetzigen Entwicklung in Deutschland am drastischsten als ‚Zwillungsbrüder‘, wie es der Genosse Stalin einmal ganz treffend betont hat ... Unsere Partei hat entsprechend der Linie und mit Hilfe der Komintern und der gefaßten Beschlüsse den Kampf gegen alle Tendenzen der Abschwächung des prinzipiellen Kampfes gegen die Sozialdemokratie mit großem Erfolg in der letzten Zeit durchgeführt und gegen jede Auffassung, daß die Hauptstoßkraft innerhalb der Arbeiterklasse nicht mehr gegen die Sozialdemokratie gerichtet sein soll, auf das allerschärfste gekämpft.“ [19]

In Wirklichkeit stärkte die Politik der KPD die Position der SPD-Führung unter SPD-beeinflußten Arbeitern. Aber diese Linie wurde bis zum bitteren Ende weiterverfolgt. Wie wir oben anführten, wuchs die KPD weiter; aber ihr soziales Gewicht nahm nicht zu. Nach einem 1932 vorgelegten Bericht des Direktors für Organisationsfragen in der Komintern sank das Verhältnis Fabrikarbeiter zu Gesamtmitgliederzahl wie folgt: 1928: 62,3 Prozent der Mitglieder, 1929: 51,6 Prozent, 1930: 32,2 Prozent, 1931: 20,22 Prozent. [20] Dies war zum Teil ein unvermeidliches Ergebnis der Wirtschaftskrise, aber nur zum Teil. Die Partei war in zunehmendem Maße eine Partei der Arbeitslosen und Deklassierten. Ihr Stimmenanteil wuchs auch weiterhin. In den letzten freien Wahlen (im November 1932) erzielte sie 5.980.000 Stimmen oder 16,9 Prozent, verglichen mit 7.248.000 Stimmen oder 20,4 Prozent für die SPD und 11.737.000 oder 33,1 Prozent für die Nazis.

Stimmenanteile waren aber nicht das Entscheidende. Die Passivität der KPD in der Praxis, der Stoß gegen den „Sozialfaschismus“, ihre Blindheit angesichts der Wirklichkeit, das waren die entscheidenden Faktoren. In den Jahren 1930, 1931 und sogar noch 1932 hätte eine energische Einheitsfront Hitler besiegen können. Stalins Komintern sorgte dafür, daß eine solche Politik nicht zustandekam.

Warum? Es war sicherlich nicht im Interesse der stalinistischen Bürokratie in der UdSSR, daß die Nazis an die Macht gelangten, die KPD mitsamt der SPD und den Gewerkschaften zerschlugen, ein massives Wiederaufrüstungsprogramm einleiteten und sich dann bewußt und geplant vornahmen, die Macht Großbritanniens und Frankreichs in Europa zu brechen und das Festland zu dominieren und auszubeuten. Denn dies würde unweigerlich einen Angriff auf die UdSSR bedeuten, wozu es 1941 dann auch kam. Dazu war dieses Programm offen in Hitlers Buch Mein Kampf dargelegt, das bereits 1923 geschrieben wurde. Wie konnte Stalin so blind sein?

Es gibt zwei Gründe. Der erste ist ganz einfach seine Unwissenheit. Stalin, der als Politiker des Apparats eine immense Schlauheit und Rücksichtslosigkeit an den Tag legte, verstand wenig von der Wirklichkeit des Klassenkampfes außerhalb Rußlands. Sein berüchtigter Aphorismus von 1924, den wir bereits zweimal erwähnten, ist es wert, an dieser Stelle in voller Länge zitiert zu werden: „Der Faschismus ist eine Kampforganisation der Bourgeoisie, die sich auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokratie stützt. Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus.“ [21] Daher „sind sie nicht Gegenpole, sondern Zwillinge.“

Natürlich gab es diejenigen, sogar im Zentrum des Kominternapparats, die diesen Quatsch durchschauten. Togliatti z.B.., ein ehemaliger Schüler Gramscis und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Führer der italienischen Kommunistischen Partei, hatte noch auf dem sechsten Weltkongreß der Komintern 1928, als die ultralinke Linie bereits im Aufkommen war, eine hervorragende Analyse vom Verhältnis und grundsätzlichen Interessenkonflikt zwischen der Sozialdemokratie und dem Faschismus geliefert.

Togliatti war ein sehr fähiger Mann, aber, ähnlich wie Gramsci, konnte er sich keine Politik unabhängig von der russischen Führung vorstellen. Daher beeilte er sich zu beweisen, daß ihm die Wahrheit teuer war, Molotow aber noch teurer, und ... er schrieb ein Referat zur Verteidigung der Theorie des Sozialfaschismus. ‚Die italienische Sozialdemokratie‘, erklärte er in Februar 1930, ‚faschisiert sich äußerst leicht‘. Aber ach, noch leichter servilisieren sich die Beamten des offiziellen Kommunismus“ [22], schrieb Trotzki. In der Tat, nachdem sie bis 1929 eine Säuberung nach der anderen durchgemacht hatten, waren die meisten unter ihnen schon lange zu Lakaien geworden.

Der zweite und wichtigere Grund war die verzweifelte Angst, die alle Teile der Bürokratie, auch jene, die von Stalins Herrschaft weniger begeistert waren, bezüglich ihrer Isolation von jeder anderen Schicht in der russischen Gesellschaft ergriff. Zumindest im Prinzip mußten sie erkennen, daß die Masse der Bevölkerung, Arbeiter wie Bauern, die immensen Entbehrungen, die ihnen durch den ersten Fünfjahresplan auferlegt wurden, mit höchster Feindseligkeit betrachteten. Das Regime war jetzt weitaus isolierter, als es 1919 gewesen war. Eine Auslandsintervention zum jetzigen Zeitpunkt könnte tödlich sein, denn sie könnte als Kristallisationspunkt für die bisher größtenteils passiv gebliebene Feindschaft dienen. So war jeder Aufruhr im Ausland unwillkommen – und die russische Bürokratie erblickte in Großbritannien und Frankreich, die während des Bürgerkriegs nach der Revolution Truppen nach Rußland entsandt hatten, nach wie vor den Hauptfeind.

Nach den Wahlen von 1930 in Deutschland freute sich die Prawda darüber, daß die Erfolge der Nazis „dem französischen Imperialismus nicht wenige Probleme“ [23] verschafft hätten. die verzweifelt Hoffnung, daß eine extreme Rechtsregierung in Deutschland prinzipiell anti-französisch sein würde, beherrschte ihre Denkweise.

So wurde der KPD ihre Passivität auferzwungen. Schon im Sommer 1928 war Thälmanns Führungsposition – durch die Mehrheit eines nicht geringeren Organs als das Zentralkomitee der KPD selbst – in Frage gestellt worden. Diese Herausforderung wurde jedoch von der Kominternexekutive überstimmt. (Es handelte sich um die Wittart-Affäre: Eine Reihe enger Mitarbeiter Thälmanns waren in Diebstahl von Parteigeldern verwickelt, und er hatte sie gedeckt.) Später, 1931-32, waren Neumann und Remmele, die durch Moskau in die erste Führungsposition in der KPD gehoben worden waren, an der Reihe und wurden eliminiert. Im Rahmen der „neuen Linie“ hatten sie sich für eine allzu aktive Politik seitens der KPD stark gemacht. Jede aktive Politik war für Moskau ein Fluch. Also mußte Thälmann, als Stalins Sprachrohr, weiterhin unterstützt werden.

So konnte Hitler ohne jeden Widerstand im Januar 1933 an die Macht gelangen. Es stimmt zwar, daß sein erstes Kabinett nur eine Minderheit von Nazis umfaßte, und daß seine Partei nur ein Drittel der Stimmen bei den vorhergehenden Wahlen im November 1932 erzielt hatte. Das alles war aber nicht von Belang. Nachdem er einmal an der Macht war und sicher sein konnte, daß sich die zwischen SPD und KPD tief gespaltenen Arbeiter nicht aktiv gegen ihn vereinigen würden, ging er als erstes dazu über, die KPD zu verbieten, dann die SPD, dann die Gewerkschaften. Gegen die Terrorherrschaft seiner faschistischen Sturmabteilungen gab es keinen wirksamen Widerstand. Nachdem er die Arbeiterparteien ausgeschaltet hatte, ließ er sich von den übriggebliebenen Teilen des Reichstags zum Diktator ernennen.

Danach waren nicht wir „an der Reihe“, sondern unsere Zerstörung: Die Arbeiterbewegung wurde zerschlagen und die Klasse atomisiert. Wenige Tage, nachdem Hitler Kanzler wurde, faßte Trotzki die Erfahrung zusammen:

Die Geschichte der deutschen Arbeiterklasse, mit 1914 angefangen, ist das tragischste Kapitel der modernen Geschichte. Welch erschütternder Verrat seitens ihrer historischen Partei, der Sozialdemokratie, und welche Unfähigkeit, welche Kraftlosigkeit ihres revolutionären Flügels! Doch wozu so weit zurückgreifen. In den letzten 2-3 Jahren der faschistischen Flut war die Politik der Stalinschen Bürokratie nichts anderes als eine Kette von Verbrechen, die den Reformismus buchstäblich retteten und damit die weiteren Erfolge des Faschismus vorbereiteten. [24]

 

Anmerkungen

Mit * versehene Zitate konnten aus Zeitgründen nicht endgültig;ltig in deutschen Originaltexten geortet werden. Sie sind also aus dem Englischen übersetzt worden.

1. Stalin, Werke, Dietz Verlag, Berlin 1955, Bd.13, S.35-6. [Andere Übersetzung: Über die Aufgaben der Wirtschaftler im Marxists’ Internet Archive.

2. Carr, Die Russische Revolution: Lenin und Stalin 1917-1929, Verlag W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart 1980, S.120.

3. Diese und die folgenden Zahlen sind aus Nove, An Economic History of the USSR, London 1972. Die Zahlen wurden zur nächsten Prozentzahl aufgerundet.

4. Protokoll 10. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, Feltrinelli Reprint 1967, S.907-8.

5. Protokoll des VI. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Bd.II, Manifest, Karl Liebknecht Verlag (Reprint), Erlangen 1972, S.13f.

6. Protokoll 10. Plenum, S.891.

7. Carr, Foundations of a Planned Economy, Bd.3, Teil 2, London 1976, S.415.

8. Carr, The Twilight of the Comintern, London 1982, S.178 u. 167.

9. Davidson, The Communist Party of Australia, Stanford 1969, S.53 u. 61.

10. Trotzki, Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?, Auswahl aus „Schriften über Deutschland“, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1971, S.103-4.

11. Trotzki, ebenda, S.103.

12. Anderson, Hammer oder Amboß, S.186.

13. ebenda, S.193f.

14. Trotzki, a.a.O., S.80-1 (Hervorhebungen von Hallas).

15. Rote Fahne, nach dem 14.9.1928* (?).

16. ebenda.* (?)

17. Trotzki, a.a.O., S.15 und 30f.

18. Anderson, a.a.O., S.209f.

19. Thälmann, Reden und Aufsätze, Bd.2 (1930-1933), Verlag Rote Fahne 1975.

20. Borkenau, World Communism, S.364; Org-Bericht der Komintern, vorgelegt 1932.

21. Trotzki, a.a.O., S.81.

22. ebenda, S.83.

23. zitiert in Carr, a.a.O., S.29.

24. Trotzki, a.a.O., S.273.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.1.2004