Gustav Eckstein

Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals

Eine Besprechung

(16. Februar 1913)


Quelle: Vorwärts, 16. Februar 1913.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I. Das Verhältnis von gesellschaftlicher Produktion
und Konsumtion bei Marx

Das theoretische Verständnis jeder Waren produzierenden Wirtschaft gründet sich auf der Kenntnis des Wertgesetzes. Nur wenn man versteht, nach welchen Regeln der Verkehr der Waren erfolgt, kann man die Geheimnisse der Wirtschaftsform enträtseln, in der kapitalistischen Gesellschaft wird nun der Wert einer Ware durch die Arbeit bestimmt, die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendig ist. Gesellschaftlich notwendig ist aber, von der Technik abgesehen, mit der wir uns hier nicht zu beschäftigen haben, diejenige Arbeit, die hinreicht, um das gesellschaftliche Bedürfnis nach der betreffenden Warenart zu befriedigen. Wenn z. B. in einem gegebenen Augenblick mehr Hüte oder mehr Dampfmaschinen auf den Markt gebracht werden, als dem gesellschaftlichen Bedürfnis entspricht, dann war die Arbeit, die in diesen überzähligen Waren verkörpert ist, nicht gesellschaftlich notwendig, sie hat daher auch keinen Wert geschaffen, die Waren bleiben unverkäuflich. Wie groß ist aber dieses gesellschaftliche Bedürfnis nach einer Warengattung, und wovon hängt seine Größe ab? Man sieht, es handelt sich hier um eine der grundlegenden Fragen der politischen Ökonomie. Die sogenannte subjektivistische Schale der Nationalökonomie, die Vertreter der Lehre von „Grenznutzen“, wollen der Frage durch psychologische Erwägungen beikommen; aber was nützt mir die schönste psychologische Betrachtung über mein Lebensbedürfnis nach einem Hut. wenn ich kein Geld habe, ihn zu kaufen, und wie soll die Psychologie ergründen, wie groß das Bedürfnis eines Fabrikanten nach einer Dampfmaschine von 100 Pferdekräften ist? Es ist klar, das gesellschaftliche Bedürfnis wird bestimmt durch die Größe und Verteilung des Einkommens in der Gesellschaft, sowie durch die Möglichkeit, durch die Anwendung von Produktionsmitteln Profit zu erzielen. Es ist auch klar, daß diese beiden Bestimmungsgründe in innigster Wechselwirkung zueinander stehen. Das Bedürfnis nach der Dampfmaschine wird bestimmt durch die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe Waren zu erzeugen, die sich mit Profit verkaufen lassen. Wieviele Waren aber und zu welchem Preis sie sich verkaufen lassen, hängt wieder davon ab, wieviel an Lohn, Profit, Grundrente usw. bezahlt worden ist. Die Höhe dieser Einkommenszweige hängt aber wieder von den Produktionsverhältnissen und -bedingungen ab. Man sieht, die hier zu lösende Aufgabe ist keineswegs einfach und leicht.

Es ist eine der genialsten Leistungen von Karl Marx, nicht nur diese Frage .zuerst klargestellt, sondern sie auch in der scharfsinnigsten Weise 'beantwortet zu haben. Der dritte Abschnitt des zweiten Bandes des Kapitals, in dem dies geschieht, gehört zu den tiefsten, allerdings auch zu den schwierigsten Partien des ganzen Werkes.

Marx untersucht zuerst die Frage, wie Produktion und Konsumption voneinander abhängen würden, wenn in der kapitalistischen Gesellschaft keine Akkumulation stattfände, d. h. wenn die Kapitalisten den ganzen Mehrwert aufzählten und nichts davon zur Vergrößerung ihres Kapitals verwendeten. Das ist allerdings ein Fall, der in der Wirklichkeit nur zu den seltensten Ausnahmen gehört, aber es ist eben der einzige Weg, auf dem die Wissenschaft vorwärts gelangen kann, daß sie die komplizierten Erscheinungen zuerst auf ihre einfachsten Grundlinien zurückführt, diese eingehend studiert und dann erst den Einfluß untersucht, den die zuerst absichtlich außer Betracht gelassenen Momente ausüben. Diese sogenannte „Isolierungsmethode“ wird von Marx überhaupt in seinem Hauptwerk angewendet, am meisterhaftesten vielleicht gerade in den uns hier beschäftigenden Abschnitten. Er teilt die gesamte gesellschaftliche Produktion in zwei Gruppen, in die Produktion von Produktionsmitteln, also von Maschinen, Rohstoffen, Fabriksbaulichkeiten usw. und in die Produktion von Konsummitteln, also von Lebensmitteln, Wohnhäusern, kurz aller Produkte, die nicht erst wieder in die Produktion, sondern in den unproduktiven Konsum der Gesellschaft eingehen; und nun untersucht er, in welcher Weise diese beiden Produktionszweige voneinander abhängig sind. Soll die Produktion, wie ja die Voraussetzung ist, auf gleicher Stufenleiter, d. h. ohne Erweiterung fortgeführt werden, so müssen erstens die Produktionsmittel in beiden Abteilungen ersetzt werden, soweit sie in der Jahresproduktion aufgegangen sind, zweitens müssen für die Arbeiter und für die Kapitalisten, die ihren ganzen Mehrwert aufzehren, Konsummittel produziert werden. In welcher Weise dieser Verzehr stattfindet, ist für diese Frage zunächst gleichgültig, also ob z. B. die Kapitalisten große Dienerschaft halten, ob sie Kunstwerke anschaffen, ob sie Prachtbauten errichten oder Kriegsschiffe bauen. Ebenso ist es gleichgültig, in welcher Weise der Mehrwert den Arbeitern abgenommen wird, ob schon bei der Lohnzahlung oder eventuell , auch erst nachher durch Verkauf der Lebensmittel zu Monopolpreisen, durch Zölle oder indirekte Steuern. Das Wesentliche ist, die Verschlingungen aufzuzeigen, wie die verschiedenen Teile des produzierten Wertes und des Gesamtproduktes der Gesellschaft sich gegeneinander austauschen. Diesen Vorgang hat Marx in Zahlenreihen veranschaulicht, in den berühmt gewordenen Schemata des 2. Bandes.

Nachdem er nun die Verhältnisse bei einfacher Reproduktion (d. h. ohne Akkumulation) untersucht hat, geht Marx zu der nooh schwierigeren Aufgabe über, den Einfluß zu studieren, den die Akkumulation auf die Verteilung der Produkte an die verschiedenen Gruppen und auf die Produktion selbst ausüben muß. Auch hier entspricht die Darstellung natürlich nicht unmittelbar der Wirklichkeit, sondern nimmt noch sehr starke Vereinfachungen vor. Es handelt sich ja gerade darum, die Verschlingungen der Gesamtzirkulation und die gegenseitigen Abhängigkeiten in den einfachsten Grundlinien darzustellen. Dabei können die erwähnten Abteilungen, die Erzeugung von Produktionsmitteln und die von Konsummitteln, natürlich nicht als unabhängig voneinander betraohtet werden, da es sich ja gerade darum handelt, ihre gegenseitige Abhängigkeit zu studieren. Wenn also zum Beispiel angenommen wird, in einer der beiden Abteilungen verwendeten die Kapitalisten durchschnittlich die Hälfte ihres Alchrwertcs zur Vergrößerung ihres Kapitals, so darf man nicht ohne weiteres annchmen, die Akkumulierung erfolge in der anderen Abteilung Im selben Verhältnis, vielmehr muß erst eine komplizierte Rechnung angestcllt, cs muß untersucht werden, wie sich die Löhne in beiden Abteilungen sowie die zum unmittelbaren Verzehr bestimmten 'Peile des Mehrwerts gegen das Produkt der zweiten Abteilung austauschen, das ja aus Konsummittcln besteht, wie aber auch die Produktionsmittel in beiden Abteilungen nicht nur nieder ersetzt, sondern auch in einem solchen Verhältnis erweitert werden, daß das Gleichgewicht in der Produktion zwischen den beiden Abteilungen erhalten bleibt. Trotz aller von Marx vorgenommenen Vereinfachungen ist das eine ziemlich schwierige und komplizierte Aufgabe, die aber von der größten Wichtigkeit und Bedeutung ist. Das Studium dieses Gleichgewichtszustandes in der Produktion ermöglicht ja auch erst das Verständnis für die Störungen dieses Gleichgewichts, so wie der Arzt erst die Vorgänge im gesunden Körper genau erforschen muß, bevor er in das Verständnis der Krankheiten cin- dringen kann. Erst die Forschungen Marx’ über die Gesetze der einfachen und erweiterten Produktion, über die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Abteilungen voneinander und über den gegenseitigen Austausch der einzelnen Wert- und Produktengruppen, sowie endlich über die Geldgeschäfte, die diesen Verkehr vermitteln, haben uns instand gesetzt, dem Problem der Krisen an den Leib zu rücken, an dem sich die gesamte bürgerliche Ökonomie vergebens die Zähne ausgebissen hat.
 

II. Die Marxschcn Schemata und die Krisen

Auf diese Bedeutung der Marxschen Darstellung hat besonders der russische Professor Tugan Baranowsky mit großem Nachdruck hingewiesen; er hat aber diesen Zusammenhang falsch aufgefaßt. Er rechnete die Marxschcn Schemata weiter, er veränderte auch probeweise verschiedene Voraussetzungen, und stets zeigte sich, daß das Gleichgewicht bei der fortschreitenden Akkumulation erhalten blieb; für Störungen schien in den von Marx aufgestellten Schemata kein Raum, und darum schloß Tugan Baranowsky, solche Störungen, d. h. also die Krisen, seien gar keine notwendige, sondern nur eine zufällige Begleiterscheinung der kapitalistischen Akkumulation, diese könne ruhig und ungestört fortschreiten, wenn nur die richtigen Proportionen in der Produktion eingehalten würden.

Diese Folgerung, die dann der Gegenstand eifriger Diskussionen unter den russischen und deutschen Marxisten wurde, beruht auf einer Verkennung des Zweckes und der Bedeutung der Marxschen Schemata. Diese sollen nicht zur Anschauung bringen, wie die kapitalistische Akkumulation wirklich vor sich geht, sondern vielmehr gerade, wie unter der Voraussetzung kapitalistischer Akkumulation ein Gleichgewichtszustand zwischen Produktion und Konsumtion denkbar ist, und wie sich das gesellschaftliche Bedürfnis sowohl nach Produktions- als auch Konsummitteln bei kapitalistischer Akkumulation gestaltet. Die Berechnungen Tugan Baranowskys bewiesen daher nur die Vorzüglichkeit der Marxschcn Schemata, berechtigten aber keineswegs zu der erwähnten Folgerung. Denn will man das Problem der Krisen studieren, so muß man vor allem die Frage stellen, wie sich denn die Wirklichkeit der kapitalistischen Akkumulation zu den Marxschen Gleichgewichtsschemata verhält, die ja nur die Möglichkeit des Gleichgewichts zeigen.

Da drängt sich sofort die Frage auf, wodurch es denn bewirkt werden soll, daß die von Marx geschilderten Verhältnisse eingehalten werden? Die Produzenten selbst haben natürlich von diesen Schemata keine Ahnung und würden mit souveränster Verachtung auf diese haarspalterischen Hirnwebereien herabblicken, die sie ja doch nicht verstehen. Wer regelt also die Produktion? Es sind die Preise. Der kapitalistische Warenproduzent kennt als solcher nur ein Ziel: er will solche Preise erzielen, daß sein Profit möglichst groß ist.

Unter den Verhältnissen der einfachen Warenproduktion für bekannte Kunden, wie sie heute noch etwa der Dorfschneider oder -Schuhmacher mancherorts kennt, war der Überblick über Produktion und gesellschaftlichen Bedarf verhältnismäßig einfach, und selbst als man dazu überging, iür den Markt zu produzieren, konnte die Produktion leicht durch die Preise geregelt werden. Wurde von einer Ware viel produziert, so sanken alsbald die Preise; nun wurde die Produktion verringert, das Gleichgewicht war bald wieder hergestellt. Anders aber steht es unter den Verhältnissen der hochentwickelten kapitalistischen Produktionsweise. Hier ist der „Markt“, d. h. das gesellschaftliche Bedürfnis, völlig unübersichtlich geworden, besonders auch deshalb, weil die Anlage der Riesenbetriebe oft Jahre erfordert, währenddem sich die ganzen Produktions- und Konsumverhältnisse der Gesellschaft völlig ändern können, weil ferner die wesentliche Einschränkung der Produktion dieser Betriebe fast unmöglich ist, während andererseits ihre Erweiterung oft hohe augenblickliche Gewinne auf Kosten der schwächeren Konkurrenten verspricht. So ist es für den einzelnen Produzenten geradezu unmöglich geworden, das gesellschaftliche Bedürfnis nach den von ihm auf den Markt gebrachten Waren vorher zu ermessen; alles kann nur vermutet, geschätzt werden, die wildeste Spekulation beherrscht die Produktion.

Die Marx’schen Schemata zeigen, wie die kapitalistische Produktion vor sich gehen müßte, wenn sie im Gleichgewicht bleiben soll, sie zeigen, wie groß tatsächlich das gesellschaftliche Bedürfnis nach den verschiedenen Pro- duktenarten ist; aber die Produktion wird nur nach dem Gesichtspunkte des höchsten Profits geleitet, dadurch entfernt sie sich aber sehr wesentlich vom gesellschaftlichen Bedürfnis, der Ausgleich erfolgt von Zeit zu Zeit gewaltsam in den Krisen.

Prof. Tugan Baranowsky hat also das Wesen der Marx’schen Darstellung falsch aufgefaßt, als er aus ihr ableitcn zu können glaubte, die Krisen seien nicht notwendige, sondern nur zufällige Begleiterscheinungen der kapitalistischen Akkumulation. Dieses Mißverständnis ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, daß Marx selbst nicht mehr dazu gekommen war, seine Krisentheorie auf Grund der Schemata zu entwickeln.

Ungleich gründlicher als Tugan Baranowsky hat aber Genossin Luxemburg Wesen, Zweck und Bedeutung der Marx’schen Darstellung verkannt.
 

III. Die Auffassung des Problems bei Rosa Luxemburg

In den ersten sechs Kapiteln ihres Buches gibt die Verfasserin im engen Anschluß an Kapitel 18 bis 21 des zweiten Bandes des Kapital, jedoch mit einigen Abweichungen, auf die wir zum Teil noch zurückkommen müssen, eine Skizze der Behandlung des Problems der Verteilung des Jahresprodukts der Gesellschaft resp. der Gesamtzirkulation des gesellschaftlichen Kapitals bei Quesnay, Smith und Marx. Im sechsten und siebenten Kapitel bringt sie besonders die vorhin erwähnten Marx’schen Schemata der erweiterten Reproduktion zum Ausdruck und beginnt mit deren Kritik. Die entscheidende Stelle findet sich auf Seite 104 [88/89 der Neuausgabe] und ganz ähnlich auf Seite 304 [258] des Buches. Diese Sätze bilden den Kern der Ausführungen, sie kenzeichnen den Standpunkt der Verfasserin. Ihre Ausführungen sind rein abstrakt und notigen daher den Kritiker, der auf sie eingehen will, der Verfasserin in diese Regionen zu folgen.

Sie beanstandet, daß.bei Marx nicht zu ersehen sei, woher die ständig wachsende Nachfrage herriihrc, die der fortschreitenden Erweiterung, der Produktion im Marxschen Schema zugrunde liegt.

Ist dieser Vorwurf richtig, dann ist damit dargetan, daß die ganze Darstellung bei Marx unsinnig und falsch ist; denn ihr Zweck ist ja eben, wie wir gesehen haben, die Gesetze aufzudecken, nach denen dieser Verkehr der verschiedenen Wert- und Produktengruppen erfolgt, nach denen sich Produktion und Konsum ins Gleichgewicht setzen. Tatsächlich übt auch Genossin Luxemburg an Marx’ Darstellung eine abfällige und ziemlich höhnische Kritik, die sie mit verschiedenen Ausrufungszeichen unterstützt. (Vgl. z. B. S. 93 [79] ff. Diese höhnische Kritik durchzieht besonders die Kapitel 8 und 9.) Worin bestehen nun die Argumente, mit denen Genossin Luxemburg'Marx gegenübertritt? Sie fährt Seite 104 [88/89] fort:

„Sie (die ständig wachsende Nachfrage) kann unmöglich von den Kapitalisten I und II (d. h. in den Abteilungen der Erzeugung von Produktionsmitteln und in der von Konsummitteln), d. h. von ihren persönlichem Konsum herrühren. Im Gegenteil, die Akkumulation besteht gerade darin, daß sie einen – und zwar mindestens absolut wachsenden – Teil des Mehrwertes nicht selbst konsumieren, sondern dafür Güter schaffen, die von anderen verwendet werden ... Für wen produziert der andere, akkumulierte Teil des Mehrwertes? Nach dem Marx’schen Schema geht die Bewegung von der Abt. I aus, von der Produktion der Produktionsmittel. Wer braucht diese vermehrten Produktionsmittel? Das Schema antwortet: die Abteilung II braucht sie. um mehr Lebensmittel hersteilen zu können. Wer braucht aber die vermehrten Lebensmittel? Das Schema antwortet: eben dde Abteilung I, weil sei jetzt mehr Arbeiter beschäftigt.“

>Bis auf den Umstand, daß im letzten Satze der Konsum der Kapitalisten vergessen ist, und daß es sich nicht nur um die Produktion von „Lebensmitteln“ handelt, sondern von Konsummitteln, wozu z. B. auch private und öffentliche Paläste gehören, ebenso aber auch Kanonen, Kasernen, Kriegsschiffe usw., entspricht diese Darstellung dem Marxschen Schema, aber auch der Wirklichkeit. Die kapitalistische Produktionsweise wird von dem Streben nach Profit geleitet. Es ist also die Frage, ob die Marxschen Schemata zeigen, wie dieser Profit für die Kapitalisten realisiert wird. Das ist aber durchaus der Fall. In dem von Genossin Luxemburg mit Vorliebe herangezogenen Marxschen Schema nimmt der den Kapitalisten zufallende Mehrwert sogar ziemlich rasch zu. Er beträgt im ersten Jahre 1255, im zweiten 1399, im dritten 1515, im vierten 1642 (etwa Millionen Mark, die Zahlen sind willkürlich gewählt und dienen nur der Veranschaulichung der Verhältnisse). Der von der Verfasserin geschilderte Vorgang hat also für die Kapitalisten einen sehr guten Sinn. Und wer die Produkte kauft, das zeigen eben die Schemata. Wenn also Genossin Luxemburg fortfährt: „Wir drehen uns offenbar im Kreise. Lediglich deshalb mehr Konsummättel herstellen, um mehr Arbeiter halten zu können, und lediglich deshalb mehr Produktionsmittel herstellen, um jenes Mehr an Arbeitern zu beschäftigen, ist vom kapitalistischen Standpunkt eine Absurdität“ – so ist schwer zu ergründen wie diese Worte auf die Marxschen Schemata angewendet werden sollen. Der Zweck der kapitalistischen Produktion ist der Profit, und dieser ergibt sich aus dem geschilderten Vorgang für die Kapitalisten, dieser ist daher vom kapitalistischen Standpunkt nicht weniger als eine Absurdität, er ist vielmehr gerade von diesem Standpunkte die Verkörperung der Vernunft. d. h. des Profitstrebens. – Der hier wiedergegebene Gedankengang der Verfasserin ist der Kern, um den das ganze Buch sozusagen herumge schrieben ist. Es enthält alles, was sie zum Problem der Akkumulation Neues zu sagen hat.
 

IV. Die Verwendung der Schemata bei Rosa Luxemburg.

Erkennt man schon hier, daß die Verfasserin Sinn und Zweck der Marx’schen Darstellung verkannt hat, so wird diese Erkenntnis durch den übrigen Inhalt des Buches bestätigt. Vor allem ist ihr schon die Technik dieser Schemata vollkommen unklar geblieben. Das zeigt sich bereits auf S. 72 [61] des Buches sehr deutlich. Es ist dort von der einfachen Reproduktion die Rede (d. h. also ohne Akkumulation, ohne Vergrößerung desKapitalsR Gen^oSin Luxemburg beanstandet nun, daß Marx die Produktion des Geldmaterials, also von Gold und Silber, in die Reihe I eingliedert, zur Produktion von Produktionsmitteln rechnet. Das sei fehlerhaft. Deshalb setzt sie unter die beiden von Marx aufgestellten Reihen noch eine dritte, welche die Produktion des Geldmaterials veranschaulichen soll. Das ist gewiß zulässig; aber man ist gespannt, wie nun die gegenseitige Umsetzung in den drei Reihen vor sich gehen soll. In den Marx’schen Schemata finden sich stets nur zwei Reihen, und wer sich mit ihrem Studium beschäftigt hat, wird zugeben, daß die gegenseitige Verschlingung dieser beiden Reihen oft gerade kompliziert und schwierig genug ist In dem von Genossin Luxemburg aufgestellten Schema ist die Schwierigkeit nicht nur sehr groß, sie ist unüberwindlich. Ein flüchtiger Blick auf das Schema zeigt, daß die Summa der Löhne und Mehrwerte 3010 beträgt, an Konsummitteln aber nur 3000 vorhanden sind. Im Rahmen der einfachen Reproduktion ist der Umsatz schlechthin unmöglich. Nun hat zwar dei Verfasserin auf der vorhergehenden Seite ausdrücklich festgestellt: „Die Darstellung der Geldproduktion und -reproduktion in ihrer organischen Verschlingung mit den beiden anderen Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion würde erst das erschöpfende Schema des kapitalistischen Gesamtprozesses in seinen wesentlichen Punkten liefern.“ Sie selbst macht aber nicht den geringsten Versuch, diese „organischen Verschlingungen“ darzustellen. Der bloße Versuch hätte ihr zeigen müssen, daß ihr Schema unmöglich ist.

Dasselbe Unvermögen, mit den Marx’schen Schemata zu arbeiten, offenbart die Verfasserin im 25. Kapitel, indem sie nochmals den Versuch macht, Marx’ Darstellung zu widerlegen. Außer den schon angeführten Argumenten, sucht sie hier den Nachweis der Unzulänglichkeit der Marxschen Schemata auch mathematisch zu führen. Sie will bei den Ansätzen auch die wachsende Ausbreitung des Proletariats berücksichtigen, sowie auch den Umstand, daß der Wert der Produktionsmittel im Laufe der kapitalistisehen Entwicklung rascher wächst als die Gesamtsumme der gezahlten Löhne. Und nun zeigen die Rechnungen, daß Produktion und Konsum tatsächlich nicht mehr übereinstimmen, und stolz genug verkündet sie dieses Resultat. In der Tat aber rührt dieses Ergebnis einfach daher, daß die Tabelle ganz falsch gerechnet ist; der Fehler liegt in der Art ihrer Rechnung selbst, und diese zeigt, daß sie das Wesen der Marxschen Schemata nicht erfaßt hat. Sie glaubt nämlich, diesen liegen die Forderungen einer gleichen Akkumulationsrate zugrunde, d. h. sie setzen voraus, daß in den beiden betrachteten Hauptabteilungen der gesellschaftlichen Produktion stets im gleichen Verhältnis akkumuliert, d. h. ein gleicher Teil des Mehrwerts zum Kapital geschlagen werde. Das ist aber eine ganz willkürliche Annahme, die den Tatsachen widerspricht. Dieser Fall bildet nicht die Regel, sondern eine seltene Ausnahme. Das zeigen die Marx’schen Schemata selbst sehr deutlich, und Genossin Luxemburg stellt das auch auf Seite 95 [80/81] ausdrücklich fest. Sie glaubt aber darin ein Argument gegen die Richtigkeit des dort behandelten Schemas gefunden zu haben. Es besteht gar keine ersichtliche Regel in dieser Akkumulation und Konsumtion (in Abteilung II)“, sagt sie, „beide dienen bloß den Bedürfnissen der Akkumulation in 1“. Das ist ganz richtig. Es ist ja eben die Aufgabe der Schemata, zu zeigen, ln welcher Weise die Akkumulation der einen Reihe von der in der andern abhängt. Wäre die Anschauung der Genossin Luxemburg richtig, dann könnte überhaupt keine Änderung im gegenseitigen Verhältnis der verschiedenen Produktionszweige stattfinden, jede Anpassung wäre ausgeschlossen, ln Wirklichkeit gibt es keine solche allgemeine Akkumulationsrate, und sie wäre auch theoretisch ein Unding. Wenn Genossin Luxemburg S. 310 [264] behauptet, „eine Abweichung im Akkumulationstempo der beiden Abteilungen sei durch das Marxschc Schema, das auf ihrer strengen Gleichmäßigkeit beruht, direkt ausgeschlossen“, so liegt hier ein kaum begreiflicher Irrtum der Verfasserin vor, der neuerdings zeigt, daß ihr das Wesen der Marxschen Schemata völlig rätselhaft geblieben ist. Die Akkumulation erfolgt in den verschiedenen Produktionszweigen je nach der Aussicht, Kapital in ihnen profitbringend anzulegen. Und diese Aussicht ist keineswegs stets in allen Produktionszweigen die gleiiche. Das wirkliche Gesetz der gleichen Profitrate steht im vollen Gegensatz zum eingebildeten Gesetz der gleichen Akkumulation. Die Rechnungsmethode der Genossin Luxemburg ist aber uin so merkwürdiger, als sie sich ja die naheliegende Präge hätte vorlegen können, wozu denn Marx ein so umständliches und kompliziertes Rechnungsverfahren einschlug, wie das auf S. 491 und 496 des 2. Bandes des Kapital auseinandergesetzte, wenn eine so sehr einfache und primitive Methode, wie die von ihr selbst gewählte, auch zum Ziel führte.

Die überraschendsten Resultate ergeben sich aber aus den Berechnungen im letzten Kapitel des Buches. Die Verfasserin nimmt hier an, durch indirekte Steuern werde den Arbeitern beider Abteilungen, und nur diesen, ein Betrag von 100 weggenommen, der für Kriegsauslagen verwendet wird. Ein solcher Vorrang würde in der Tat lediglich zur Folge haben, daß in Abteilung II, in der Konsummittel hergestellt werden, nun mehr Uniformen, Kasernen und Panzer''otten und weniger Arbeiterkleider, Lebensmittel und Zinshäuser produziert werden. Nur indirekt könnte diese Verschiebung wieder auf Abteilung I zurückwirken. Kriegsgeräte gehören ja ökonomisch jedenfalls zu den Konsummitteln. Wiie schon früher erwähnt, macht es prinzipiell in den hier zu betrachtenden Fragen keinen Unterschied, ob die „Konsummittel“ von den Kapitalisten konsumiert werden. Genossin Luxemburg konstruiert aber einen Gegensatz zwischen diesen beiden Verwendungsarten. Aus „Konsummitteln“ macht sie im Handumdrehen „Lebensmittel“ und glaubt daher, eine Verstärkung der Rüstungen müsse auf die Zirkulation des Gesamtkapitals eine ganz besondere Wirkung ausüben, und sie gelangt dabei zu den erstaunlichsten Ergebnissen. Wenn den Arbeitern insgesamt ein Betrag von 100 genommen wird, verringert sich dadurch nach den Berechnungen der Genossin Luxemburg der Wert des jährlichen Gesamtprodukts um 171 : 5, also fast um das Doppelte des ganzen Steuerbetrages. Wie das zugehen soll, ist rätselhaft. Aber die Verfasserin rechnet noch weiter, und schließlich ergibt sich, daß in der gesamten Produktion, also wenn man schon berücksichtigt, daß die 100 in der Produktion von Kriegsmaterial angelegt werden, die Arbeitslöhne um 34 : 75, der in die Jahresproduktion eingehende Wert der Produktionsmittel aber um 51 abnehmen. Wo diese 51 hinkommen, bleibt ebenfalls ein Rätsel.
 

V. Die Geldzirkulation

Nun spielen die erwähnten Schemata bei Marx noch in anderer Hinsicht eine große Rolle. Es ist klar, daß zur Akkumulation jeweils größere Geldsummen notwendig sind: denn jedes Anlage suchende Kapital tritt zuerst in der Form des Geldkapitals auf. Diese Geldaufschatzungen sind für die gesamte Wirtschaft von größter Bedeutung, denn sie bilden die Grundlage des gesamten Kreditsystems, dieses ist daher nur zu verstehen, wenn man den Mechanismus begreift, der die Zirkulation des Geldes und besonders dessen Aufschatzungen beherrscht. (Vgl. Kapital, Bd. III, Kap.%nbsp;30 bis 32.) Marx widmet deshalb der Untersuchung dieser Frage besondere Sorgfalt, und gerade in den hier in Frage kommenden Kapiteln ist diesen Untersuchungen ein breiter Raum eingeräumt.

Merkwürdigerweise hat Genossin Luxemburg diese Ausführungen Marx’ vollständig mißverstanden. In dem Irrtum befangen, daß die Schemata die Frage offen lassen, „woher die ständig wachsende Nachfrage rühre“, hat sie in den Untersuchungen, die Marx über die Frage anstellt, woher das Geld kommt, das die Kapitalisten aufschatzen müssen, um es zur Akkumulation verwenden zu können, eine ungeschickte Aufwerfung der Frage erblickt, woher das Geld komme, um die überschüssigen Produkte zu kaufen, d. h. wer die Käufer dieser Produkte seien. Natürlich kann sie deshalb auch in Marx’ Ausführungen die Antwort auf die Frage nicht finden, die Marx zwar in seinen Schemata gelöst, in jenen hier untersuchten Abschnitten sich aber gar nicht gesteckt hat. Genossin Luxemburg sieht aber ihr Mißverständnis nicht ein, sondern kanzelt Marx ab, daß er dies Problem unter der „schiefen Form der Frage nach „Geldquellen“ zu beantworten suchte“. Es handle sich aber in Wirklichkeit um tatsächliche Nachfrage, um Verwendung für Waren, nicht um Geldquellen zu ihrer Bezahlung. Wie durchaus aber die Verfasserin verkannt hat, um was es sich bei Marx handelt, geht besonders deutlich aus dem nächsten Satz hervor: „In bezug auf Geld als Medium der Zirkulation müssen wir hier ... annehmen, daß die kapitalistische Gesellschaft stets die zu ihrem Zirkulationsprozeß erforderliche Geldmenge zur Verfügung hat oder sich dafür Surrogate zu beschaffen weiß“. Marx hat sich mit dieser Annahme eben nicht begnügt, sondern die von Genossin Luxemburg so getadelten eingehenden Untersuchungen angestellt.
 

VI. Die Lösung des Problems

Hat Genossin Luxemburg so die Probleme dort übersehen, wo sie sind, und sie dort gefunden, wo sie gar nicht vorhanden, so ist die Lösung, die sie bietet, wohl noch erstaunlicher, als das Problem selbst. Die große Frage, zu deren Beantwortung das Buch bestimmt ist, wird S. 304 [259] so formuliert: „Für wen produzieren die Kapitalisten, wenn und soweit sie nicht selbst konsumieren, sondern „entsagen“, d. h. akkumulieren?“ Wir haben gesehen, daß die Marx- schen Schemata diese Frage beantworten, daß sich aber Genossin Luxemburg mit dieser Antwort nicht zufrieden gibt. Und was ist ihre Antwort? „Die Exzistenz nichtkapitalistischer Abnehmer des Mehrwerts“, heißt es S. 338 [287], „ist also direkte Lebensbedingung für das Kapital und seine Akkumulation, insofern als der entscheidende Punkt im Problem der Kapitalakkumulation“, und nun schildert Genossin Luxemburg in längeren historischen Ausführungen, wie das Kapital zum Export nach nichtkapitalistischen Ländern drängt, überall die alten Wirtschaftsformen zertrümmert, das Volk ausbeutet, oft mit Gewalt plündert, was ihm der Handel nicht gewährt, dadurch aber die Grundlagen schafft, auf denen sich auch in jenen Ländern der Kapitalismus entwickelt. So wird das Ausbeutungsgebiet des Kapitalismus immer enger, da die nichtkapitalistischen Länder und Volksschichten immer mehr vom Kapitalismus ergriffen werden. So schaufelt sich dieses selbst das Grab, in das er endlich von selbst stürzen muß. Die Frage: „Für wen produzieren die Kapitalisten?“ findet also die merkwürdige Antwort: Für die Kleinbauern in Europa und in China, für die Neger Zentralafrikas, kurz für die nichtkapitalistischen Länder und Volksschichten. Merkwürdig! Aber die Sache wird noch etwas erstaunlicher, wenn wir sie näher betrachten. Genossin Luxemburg zeigt, wie furchtbar gerade diese nichtkapitalistischen Länder und Volksschichten vom Kapitalismus ausgebeutet werden, und dasselbe ist auch schon von vielen anderen Autoren gezeigt worden. Die Ausbeutung besteht aber darin, daß man dem Ausgebeuteten mehr Wert wegnimmt, als man ihm gibt. Nun war die Krage, wo der überschüssige Wert hinkomme, der bei Kapitalakkumulation Jahr für Jahr auf den Markt geworfen wird. Die Antwort lautet nun, dieser überschüssige Wert werde dadurch untergebracht, daß man ihn an nichtkapitalistische Völker und Klassen verkauft, die einen viel größeren Gegenwert dafür geben. Wie dadurch die angebliche Schwierigkeit beseitigt werden soll, ist völlig unerfindlich; sie würde vielmehr dadurch noch wesentlich verschärft.

In der Tat findet gewaltsamer Import von Waren statt und die Darstellung des Vorganges ist bei Luxemburg im wesentlichen richtig; aber die ökonomischen Ursachen dieses Exports, auf die ich aber im Rahmen dieser Buchbesprechung nicht näher eingehen kann, sind wesentlich andere als die von der Verfasserin angegebene.

Genossin Luxemburg glaubt mit ihrem Buche einen Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus geliefert zu haben. Leider ist das keineswegs der Kall. Mit wirklichen Problemen des Imperialismus beschäftigt sich nur das 30. Kapitel: Die internationale Anleihe, das aber nichts Neues enthält. Überhaupt hat das Buch mit den neuen Erscheinungen des heute pulsierenden wirtschaftlichen Lebens so wenig zu tun, das es ebenso gut auch vor 20 und mehr Jahren hätte geschrieben werden können.

Mit den theoretischen Voraussetzungen fallen die praktischen Schlußfolgerungen, vor allem die Katastrophentheorie, welche Genossin Luxemburg auf ihre Lehre von der Notwendigkeit nichtkapitalistischer Konsumenten aufgebaut hat.

Es ist schmerzlich, über ein Buch, das zur Förderung der proletarischen Bewegung beizutragen bestimmt war, ein so hartes Urteil fällen zu müssen. Aber mit vollem Recht hat kürzlich Genosse Mehring in einem ähnlichen Fall gesagt:

„Es ist sicherlich keine angenehme Aufgabe, über das Buch eines Gesinnungsgenossen so abfällig zu urteilen. Wir würden aber jedes Recht verlieren, die bürgerliche Literatur über Marx so scharf unter die Lupe zu nehmen, wie wir gewohnt sind, wenn wir solche Dinge nicht ebenso scharf kritisierten. Und das ist auch noch nicht der durchschlagendste Grund. Nicht nur aus Rücksicht auf die Gegner, sondern aus Rücksicht auf die eigene Partei muß dergleichen zurückgewiesen werden.“


Zuletzt aktualisiert am 21. Februar 2023