Gustav Eckstein

Zur Bevölkerungsfrage

(1. August 1910)


Der Kampf, Jg. 3 11. Heft, 1. August 1910, S. 486–494.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


England war das erste Land, in dem der industrielle Kapitalismus zur Herrschaft gelangte, dort brachte er zuerst alle jene Erscheinungen der Anhäufung von Reichtum auf der einen, des Elends auf der anderen Seite hervor, die er seither überall bei seinem Auftreten gezeigt hat. Um die Wende des 18. Jahrhunderts schossen die gewaltigen Fabriken empor, in denen ein verelendetes Proletariat ausgebeutet wurde und die zugleich dem letzten Rest von selbständigen Flandwebern und Spinnern den Garaus machten. Es begann die Zeit des tiefsten Elends, der ärgsten Erniedrigung der englischen Arbeiterschaft, die Zeit der furchtbarsten Kinderausbeutung, während zugleich der Reichtum der Besitzenden stieg und die Regierung sich in jene lange Reihe blutiger und kostspieliger Kriege gegen das Frankreich der Revolution und des Kaisertums einliess, die die englische Staatsschuld in eine bis dahin unerhörte Höhe hin auf trieben. Nicht nur Philanthropen mussten sich in dieser Situation die Frage nach dem Ursprung der herrschenden Not vorlegen, sie beschäftigte im höchsten Masse das allgemeine Interesse. Die Armenlasten stiegen immer höher und erreichten 1817 die Höhe von etwa 160 Millionen Kronen, bei einer Bevölkerung des Landes von etwa 11 Millionen und waren so eine schwere Last, besonders für die Grundbesitzer, die sie aufbringen mussten. Zugleich aber drang der Widerhall der gewaltigen sozialen Kämpfe aus Frankreich herüber und liess die Besitzenden vor einer sozialen Revolution zittern.

Unter diesen Verhältnissen musste ein Buch wie der Versuch über die Prinzipien der Bevölkerung von Robert Malthus das grösste Aufsehen erregen, bei den Besitzenden laute Begeisterung, bei den Besitzlosen Wut und Empörung wecken.

Die Lehre, die Malthus vortrug, war nicht neu und nicht originell; aber sein Buch traf den richtigen Augenblick. Er zeigte, dass das grosse Elend des Volkes nicht auf soziale Ursachen zurückzuführen sei, sondern auf das unerbittliche Walten eines übermächtigen Naturgesetzes, das besagt, dass die Menschen sich rascher vermehren als die Mittel ihres Unterhaltes. Jede Art von Organismen hat nämlich das Bestreben, sich ins Ungemessene zu vermehren. Dieses Streben findet aber im Nahrungsmangel seine Schranke. Dieser ist dadurch bedingt, dass der zur Verfügung stehende Boden beschränkt ist und daher auch der Vermehrung der Organismen Schranken setzt. Während es also die natürliche Tendenz der Lebewesen ist, sich fortwährend zu vervielfältigen, können sie sich tatsächlich nur in einem viel langsameren Tempo vermehren, da die Ueberzähligen keine Nahrung mehr finden. Während sie, wenn sie unbehindert wären, sich etwa im Verhältnis von 1 : 2 : 4 : 8 ... vermehren würden, können sie es in Wirklichkeit nur etwa im Verhältnis von 1 : 2 : 3 : 4 ... Dieses Gesetz gilt auch für den Menschen, dessen Zahl sich in höchstens 25 Jahren verdoppeln würde, wenn nicht diesem Wachstum Hemmnisse erstünden. Werden mehr Menschen geboren, als die Zahl beträgt, für die Lebensmittel vorhanden sind, dann entstehen Not und Elend und in ihrem Gefolge Laster und diese raffen die Ueberzähligen hinweg. Die einzige Möglichkeit, dem furchtbaren Wirken dieses Naturgesetzes zu entgehen, besteht daher darin, dass das Proletariat die Zahl der Geburten durch moralische Enthaltsamkeit vom Geschlechtsgenuss einschränkt und so die Uebervölkerung verhindert.

Diese Lehre erlangte für das soziale und geistige Leben des letzten Jahrhunderts eine Bedeutung wie kaum eine andere. Hier schien eine Ursache von Not und Elend einleuchtend nachgewiesen, die den Reichen jede Verantwortung nahm und sie den Armen selbst aufbürdete, die durch die übermässige Hingabe an den Geschlechtsgenuss selbst die Uebervölkerung schufen. Hatte schon Malthus selbst seine Theorie in erster Linie als Widerlegung der sozialistischen Ideen Godwins entwickelt, so musste sie in der Folgezeit erst recht dazu herhalten, die Unsinnigkeit des Sozialismus, ja jeder sozialen Reform zu erweisen. Denn je mehr die Lage des Proletariats gehoben werde, desto grösser für die Arbeiter die Versuchung, Kinder ins Leben zu setzen und dadurch die Uebervölkerung zu steigern, das Elend zu vermehren. Der Sozialismus vollends würde nur dazu führen, dass sich die Menschen wie die Kaninchen vervielfältigten, und so käme es bald dahin, dass die ganze Menschheit in tiefste Not und Verkommenheit versinken müsste.

Eine sehr starke Stütze erhielt diese Lehre dadurch, dass Darwin sie zu einem der Grundpfeiler seiner Theorie der natürlichen Zuchtwahl machte. Diese setzt ja voraus, dass der Nahrungsspielraum für die Vermehrung jeder Tier- und Pflanzenart zu klein wird; in dem sich daraus ergebenden erbitterten Kampf ums Dasein können sich stets nur die Bestangepassten behaupten und am Leben erhalten. Der Siegeslauf des Darwinismus verschaffte daher auch dieser Lehre von dem Widerstreit zwischen der Vermehrung der Organismen und ihrem Nahrungsspielraum und dem sich daraus ergebenden Kampfe ums Dasein ein erhöhtes Ansehen als unzweifelhafte naturwissenschaftliche Wahrheit.

Es ist daher sehr begreiflich, dass die Anhänger sozialer Reformen ebenso wie die Sozialisten sich zunächst nicht an diese scheinbar unumstössliche Wahrheit selbst heranwagten, sondern sich der Frage zuwendeten, ob die Wirkung dieses Gesetzes nicht in seinen Folgen zu mildern oder aufzuheben wäre. So entstand der sogenannte „NeuMalthusianismus“, der die Grundlage der Malthusschen Theorie beibehielt, aber nicht mehr dem Proletariat moralische Enthaltsamkeit predigte, sondern die von der neueren Medizin und Technik besonders entwickelten Methoden der künstlichen Verhinderung der Empfängnis empfahl. Auf diese Weise sollte der Uebervölkerung gesteuert werden, ohne dass das Proletariat genötigt wäre, den Freuden der Liebe zu entsagen und sich damit zugleich allen jenen moralischen, geistigen und physischen Schädigungen auszusetzen, welche die gewaltsame Unterdrückung des Geschlechtstriebes oft mit sich bringt.

Unter den Büchern dieser Richtung wird in der Regel an hervorragender Stelle auch die erste grössere Arbeit genannt, mit der Karl Kautsky als junger Mann vor nunmehr 30 Jahren vor die Oeffentlichkeit trat. [1] Diese Einreihung des Buches ist aber nicht ganz zutreffend. Kautsky war zwar damals von einem wirklichen Verständnis der Lehren Karl Marx’ noch ziemlich weit entfernt, aber er war auch damals schon durch und durch ein revolutionärer Sozialist. Ihm konnte daher auch der Neu-Malthusianismus nicht genügen, der lediglich darauf ausging, das kapitalistische Wirtschaftssystem im Wesen zu verewigen, wenn er auch seine Schrecken für das Proletariat mildern wollte.

In seinem heute noch interessanten und lesenswerten Buch, das auch erkennen lässt, was der Autor ohne Marx schon war, zugleich aber auch, was wir ihm für das leichtere Verständnis der Marxschen Lehren verdanken, zeigt Kautsky, dass das von Malthus empfohlene Mittel der Beschränkung der Kinderzahl die Lage des Proletariats nicht dauernd heben könne, da der Kapitalismus jedes Steigen der Löhne sogleich mit der Einführung neuer Maschinen beantworte, wodurch die Löhne abermals gedrückt werden, und da auch davon abgesehen der Uebergang zum Beispiel vom Körnerbau zur Viehzucht und ähnliche Aenderungen der Produktionsmethoden Ersparung von Arbeitskräften und damit neuerliche relative Uebervölkerung herbeiführen. Allerdings erblickt auch er in der drohenden Uebervölkerung die grösste Gefahr für ein sozialistisches Gemeinwesen; denn „jede Verbesserung des Loses der unteren Klassen müsse begleitet sein von einem schnelleren Anwachsen ihrer Zahl“. Wenn es daher dem revolutionären Proletariat gelingt, den Kapitalismus zu stürzen und die sozialistische Gesellschaft zu errichten, dann kann es sich der Gefahr der Uebervölkerung nur durch die künstliche Verhinderung der Empfängnis entziehen. Kautsky stimmt also in jener ersten Schrift mit den Neu-Malthusianern in der Anempfehlung des sogenannten „präventiven Geschlechtsverkehrs“ überein, er unterscheidet sich aber wesentlich dadurch von ihnen, dass er dieses Mittel nur zur Ergänzung der sozialen Revolution und zur dauernden Festhaltung ihrer Errungenschaften angewendet sehen will.

Damals war Kautsky noch ein strenggläubiger Anhänger der Lehre Darwins vom unerbittlichen und erbitterten Kampfe ums Dasein, den alle gegen alle führen; aber schon im ersten Jahrgang der bald darauf begründeten Neuen Zeit führte er in einer sehr interessanten Artikelreihe den Gedanken weiter aus, den Darwin bereits angedeutet hatte und der später auch in der Biologie und besonders Psychologie wieder grössere Bedeutung gewinnen sollte, dass eines der wichtigsten Hilfsmittel im Kampfe ums Dasein vieler Tierarten und besonders des Menschen der Zusammenhalt sei, das Solidaritätsgefühl. Diese Erkenntnis bildet auch die Grundlage von Kautskys späterer Schrift Ethik und materialistische Geschichtsauffassung. Aber auch hier lässt er die Voraussetzung des Darwinismus, die Lehre von dem durch Uebervölkerung hervorgerufenen Kampf ums Dasein, unangefochten.

In seinem kürzlich erschienenen Buche Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft [2] wendet er sich nun gegen diese Grundlage des Malthusianismus und Darwinismus selbst. Malthus und ihm folgend Darwin nahmen hier die Fruchtbarkeit der Arten als unveränderlich an, unabhängig von der Umgebung und Lebensweise der betreffenden Tiere oder Pflanzen. Sie setzten voraus, dass die Vermehrung stets gleichmässig weitergehe und nur durch den Mangel an Lebensmitteln in der Weise aufgehalten werde, dass die überzähligen Individuen zugrunde gehen.

Es ist merkwürdig, dass Darwin selbst nicht auf das Trügerische dieser Voraussetzung aufmerksam wurde, die der Entwicklungslehre eigentlich widerstreitet. Die Fruchtbarkeit ist nämlich bei den verschiedenen Arten, ja selbst bei so nahe verwandten wie Hase und Kaninchen, sehr verschieden. Der Flase bringt in einem Jahr viermal je 1 bis höchstens 5 Junge zur Welt, das wilde Kaninchen hingegen sieben-bis achtmal je 4 bis 12. Wenn nun die verschiedenen Tierarten sich aus gemeinsamen Stammeltern durch allmähliche Anpassung an ihre Umgebung und an die dadurch bedingte Lebensweise herausentwickelt haben, dann müssen sie sich auch in der Fruchtbarkeit selbst an die neue Lebenslage angepasst haben, dann muss die Fruchtbarkeit ebenso wie jede andere Eigenschaft sich der Umgebung anpassen. Tatsächlich wurden auch Untersuchungen über die Einwirkung der Lebensweise auf die Fruchtbarkeit angestellt, ja Darwin selbst hat sich später mit dieser Frage bei den Haustieren eingehender beschäftigt, ohne aber, ebenso wie seine Nachfolger, sich dessen bewusst zu werden, dass damit die Grundlage der Zuchtwahllehre selbst erschüttert wurde.

Kautsky hat nun diesen Schritt getan und zunächst gezeigt, dass die von Malthus übernommene Vorstellung einer fortwährenden Neigung der Arten, über den Nahrungsspielraum hinauszuwachsen, zu unmöglichen Folgerungen führt. Wenn zum Beispiel der Elefant, der, vom Menschen abgesehen, keinen überlegenen Feind besitzt, sich in der von den Darwinisten angenommenen Weise vermehren würde, so würde seine Zahl schon in wenigen Jahrhunderten viele Milliarden betragen. Schon lange vorher hätte er alle schwächeren Pflanzenfresser aus den tropischen Wäldern verdrängt, da er alle pflanzliche Nahrung für sich in Anspruch genommen hätte. Mit den kleineren Tieren hätten auch die Raubtiere, die von ihnen leben, verschwinden müssen. Aber auch der Wald selbst hätte dem Ansturm nicht standhalten können, da der Elefant nicht nur Gras frisst, sondern auch Zweige, Sträucher und junge Bäume. Der tropische Urwald hätte daher bald zur Wüste werden müssen, in der auch die Elefantenherden umkommen müssten. Diesem Bild, der notwendigen Folge der von Malthus und Darwin angenommenen Theorie, entspricht aber die Wirklichkeit bekanntlich durchaus nicht. Ja, Brehm erzählt, und darin stimmen ihm alle Beobachter zu, dass der wildlebende Elefant in einer Umgebung lebt, die ihn und noch viele andere Tierarten reichlichst nährt.

Wenn also die Vorstellung unhaltbar ist, dass die Organismen durchgehends die Tendenz haben, über ihren Nahrungsspielraum hinaus sich zu vermehren, so entsteht die Frage, wovon denn ihre Fruchtbarkeit abhängt. Einen Versuch der Beantwortung dieser Frage beim Menschen hatte Sadler schon 1830 unternommen und die Theorie aufgestellt, dass schmale Kost und harte Arbeit die Fruchtbarkeit des Menschen steigern. Die so oft besprochene Fruchtbarkeit des Proletariats im Gegensatz zum wohlhabenden Bürgertum schien ihm recht zu geben, und dieses Argument wird auch heute noch manchmal von sozialistischen Agitatoren gegen malthusianische Einwände ins Treffen geführt, obwohl Kautsky diese Lehre schon in seiner Schrift von 1880 widerlegt hat.

In derselben Schrift erwähnt er auch schon der von dem englischen Philosophen Herbert Spencer, dem Mitbegründer der Entwicklungslehre, aufgestellten Theorie über die Abhängigkeit der Fruchtbarkeit von der Umgebung, ohne sich aber der Bedeutung dieser Lehre bewusst zu werden. Unterdessen hat Spencer diese Theorie in seinem umfangreichen Werk Prinzipien der Biologie weiter ausgeführt und eingehender begründet und sie bildet nun die Grundlage der Bevölkerungslehre Kautskys.

Spencer geht von der Voraussetzung aus, dass die Kraft, die einem Individuum zur Verfügung steht, eine bestimmte Grösse ist. Je mehr von dieser für einen Zweck verbraucht wird, desto weniger bleibt für andere Verwendungen übrig. Wenn also ein Organismus viel Kraft zur Gewinnung seines Lebensunterhaltes verausgabt, bleibt ihm nur wenig zur Erzeugung von Nachkommenschaft. Ebenso wird etwa ein Säugetier, das hochentwickelte Junge zur Welt bringt und daher eine lange Dauer der Trächtigkeit aufweist, weniger fruchtbar sein als ein anderes, das nur kuze Zeit trächtig ist und unentwickelte Junge wirft. Wo die Brutpflege die Kraft der Eltern, besonders der Mutter, stark in Anspruch nimmt, dort bleibt entsprechend weniger Kraft zur Erzeugung von Nachkommenschaft. Ist die Nahrung reichlich, so auch der Kraftvorrat. Es bleibt daher auch mehr Kraft für die Erzeugung von Nachkommen. Von dieser Grundlage geht Kautsky aus und betrachtet zunächst die Fortpflanzungsverhältnisse bei den Tieren. Wenn eine Tierart an Ausbreitung zunimmt, wird es dem einzelnen Individuum schwerer, genügende Nahrung zu gewinnen, es wird sich zu diesem Zweck mehr anstrengen müssen und mithin an Fruchtbarkeit einbüssen. Zugleich macht aber die Vermehrung dieser Tiere ihren natürlichen Feinden das Leben leichter, erhöht daher deren Fruchtbarkeit. Die Folge der Vermehrung der Feinde ist, dass nicht nur mehr Tiere der betreffenden Art ihnen zum Opfer fallen, sondern dass auch die anderen mehr auf Flucht und Abwehr bedacht sein müssen, wodurch sich wieder ihre Fruchtbarkeit mindert, infolgedessen auch wieder die ihrer Feinde, während die Nahrung wieder reichlicher wird. So erhält sich in der organischen Natur ein natürliches Gleichgewicht, ohne dass es zu einem eigentlichen Kampf um den Nahrungsspielraum käme oder dass die überzähligen Individuen verhungern müssten.

Gilt dieses Gesetz für die belebte Natur im allgemeinen, so auch für den Menschen, nur dass hier seine Wirksamkeit komplizierter und mannigfaltiger werden muss; denn während die Lebensverhältnisse der verschiedenen Individuen einer Tierart im wesentlichen übereinstimmen, machen sich beim Menschen die sozialen Einflüsse geltend, die die Angehörigen desselben Stammes oder Volkes in ganz verschiedene Lebenslagen bringen; während die Tiere auf Veränderungen ihrer Umgebung nur durch entsprechende Anpassung ihrer Organe antworten können, stehen dem Menschen die mannigfachsten künstlichen Hilfsmittel zu diesem Zwecke zur Verfügung. Das Tier, das in ein kälteres Klima versetzt wird, muss warten, bis ihm ein dichterer Pelz wächst, der Mensch zieht einen wärmeren Rock an. Daher lassen sich die Gesetze der Natur keineswegs unmittelbar auf die Gesellschaft übertragen. Viel wichtiger als Aenderungen oder Unterschiede seiner natürlichen Umgebung sind für den Menschen die Mittel, mit denen er auf sie einzuwirken vermag; viel grösser als der unmittelbare Einfluss seiner natürlichen Umgebung ist der des sozialen Milieus, in dem er lebt.

Es hat daher, wie Marx sagt, jede Wirtschaftsform ihr eigenes Bevölkerungsgesetz. Das des Kapitalismus hat er selbst mit unübertrefflicher Schärfe in dem Gesetz der industriellen Reservearmee gezeichnet. Aber ihn interessierte dabei lediglich die soziologische Seite der Frage, auf die biologische ging er gar nicht ein. Er setzte ebenso wie Darwin, allerdings für seine Betrachtungsweise mit vollem Recht, eine bestimmte Fruchtbarkeit der Bevölkerung als gegeben voraus.

Kautsky geht nun, indem er den Marxschen Gedanken auf die Biologie überträgt, darauf aus, zu zeigen, in welcher Weise diese natürliche Fruchtbarkeit des Menschen durch die sozialen Verhältnisse beinflusst wird, in denen er lebt. Nun fällt beim Menschen, wie bei allen Säugetieren die Last der Fruchtbarkeit fast ganz dem weiblichen Teile zu. Die Frau ernährt die Frucht mit ihrem Blut und später mit ihrer Milch, sie trägt das Kind zuerst in ihrem Leib, später auf dem Arm, auf dem Rücken oder sonst, sie hat auch auf manchen Kulturstufen allein oder doch in erster Linie für seinen Unterhalt zu sorgen. So kommt Kautsky zu dem Satz (Seite 156): „Die Geschichte der menschlichen Fruchtbarkeit ist die Geschichte der Frauenarbeit.“

Unter diesem Gesichtspunkt untersucht er nun die Fortpflanzungsverhältnisse in den verschiedenen Phasen der Kultur, in den verschiedenen Wirtschaftsformen. Die Frau des von der Jagd lebenden Wilden muss selbst Wurzeln, Beeren, Kräuter, Würmer und andere Nahrungsmittel für sich und ihre Kinder suchen; daneben teilt sie aber nicht nur die Anstrengungen und Gefahren der fortwährenden Wanderungen, zu denen das Jägerleben die Horde zwingt, diese Lasten fallen ihr, die nicht nur die Kinder, sondern auch den primitiven Hausrat zu schleppen hat, in noch viel höherem Masse zu, als dem Mann. Dazu kommt, dass sie die Kinder so lange stillen muss, bis sie ihre eigene Kost vertragen können, da Milch von Tieren nicht zur Verfügung steht. Aus allen diesen Gründen erklärt sich die geschlechtliche Kälte und die geringe Fruchtbarkeit der Naturvölker im Jägerstadium.

Ganz anders liegen die Verhältnisse bei den viehzüchtenden Nomaden, bei denen die Lebensmittel reichlich vorhanden sind, deren Gewinnung aber fast ganz den Männern zufällt. Die Hausarbeit der Frauen wird oft noch durch Sklaven erleichtert, die Kinder finden in der Milch der Haustiere bald einen Ersatz für die Muttermilch, auf die sie daher nicht lange angewiesen bleiben. So erklärt sich die ungeheure Fruchtbarkeit der Nomaden, die einst es den Germanen ermöglichte, immer neue Völkerschwärme in das römische Reich zu werfen. Ein weiteres bezeichnendes Beispiel liefern die Araber, die innerhalb eines Jahrhunderts die ungeheuren Gebiete von Indien bis Spanien mit ihren Völkerfluten überschwemmten.

Aehnlich gross wie bei den Nomaden ist die Fruchtbarkeit bei Ackerbauern auf reichem und reichlich zugemessenem Boden. Audi hier ist die Frau von Arbeit entlastet, ohne in Faulheit zu verkommen, während die Lebensmittel reichlich vorhanden sind. Als charakteristisches Beispiel dieser Stufe führt Kautsky Südafrika im 17. Jahrhundert an, wo die Fruchtbarkeit der grundbesitzenden Buren und Kaffern ausserordentlich gross, die der auf die Jagd angewiesenen oder in Sklaverei lebenden Hottentotten hingegen sehr gering war, wie überhaupt die Fruchtbarkeit der abgerackerten Arbeitssklaven so gering ist, dass sich die Sklaverei stets nur dort und so lange behaupten konnte, als ein fortwährender Zustrom neuen billigen Sklavenmaterials stattfand.

Machen sich hier schon die sozialen Unterschiede in der Fruchtbarkeit geltend, so werden diese Verhältnisse um so komplizierter und mannigfaltiger, je verwickelter die wirtschaftlichen und sozialen Zustände sich gestalten.

Auch als die Lage des Bauernstandes infolge der Zerstückelung des Bodens und der feudalen Bedrückung immer schlechter wurde, liess zunächst die Fruchtbarkeit nicht nach, solange die überschüssige Bevölkerung in den Städten Aufnahme und Wohnung fand. Erst als die mittelalterliche Stadtwirtschaft für neuen Bevölkerungszustrom keine Erwerbsgelegenheit mehr bot, während zugleich die Bedrückung der Bauern wuchs, ging die bäuerliche Fruchtbarkeit zurück. Das Heiratsalter besonders für die Mädchen wurde hinaufgesetzt und zugleich die uneheliche Geburt strengstens verpönt. So entstand jene bäuerliche Moral, deren literarischer Ausdruck eigentlich die Lehre Malthus’ ist, die in der Wirklichkeit aber zu reichlicher Fruchtabtreibung und Kindesmord führt. Vom Bauerntum greifen diese Anschauungen auch auf das städtische Kleinbürgertum über, das aus jenem hervorgeht und nun auch in ähnlich beschränkten Verhältnissen lebt. Auch hier wird das Kinderkriegen immer mehr zu einem Privileg der Besitzenden, das auch nur in dem Mass ausgeübt werden darf, als es die pekuniären Mittel gestatten.

Hat der Kleinbauer und Handwerker seine Kinderzahl beschränkt, um ihnen ein auskömmliches Dasein zu ermöglichen, so zwingt die Konkurrenz den Kapitalisten, nicht nur auf Ansammlung, sondern auch auf Erhaltung eines möglichst grossen Kapitals bedacht zu sein, dieses also möglichst wenig zu zersplittern. Wirkt schon das üppige und müssige Leben der Damen sowie die Verbreitung venerischer Krankheiten in der Richtung einer allgemeinen Degeneration und daher auch einer Herabsetzung ihrer Fruchtbarkeit, so wirken hier in derselben Richtung noch viel stärker die Mittel zur künstlichen Verhinderung der Empfängnis. Auf dem entgegengesetzten Pol der Gesellschaft steht das Lumpenproletariat, das zwar im Elend lebt, aber Anstrengungen nicht kennt, während zugleich seine Lebensbedingungen, besonders die Wohnverhältnisse die Geilheit wecken und der Geschlechtsverkehr durch keinerlei Rücksichten gehemmt wird. Daher seine starke Vermehrung, die jene falsche Theorie scheinbar rechtfertigte, nach der die Fruchtbarkeit im umgekehrten Verhältnis zur Ernährung stehen sollte. – Wieder anders liegen die Dinge beim industriellen Proletariat. Hier wird die Frau schon im jugendlichen Alter in das Erwerbsleben hineingerissen, und neben der Arbeit in der Fabrik obliegt ihr bald auch die des eigenen Haushaltes und der Kindererziehung. Freilich wirken diese Umstände, die eine natürliche Minderung der Fruchtbarkeit bewirken würden, heute noch nicht mit voller Wucht, weil der grösste Teil des weiblichen Proletariats noch bäuerlicher Abstammung ist und daher die natürliche Fruchtbarkeit dieser Klasse in die neuen Verhältnisse mitbringt. Die Gründe, welche die Kapitalistenklasse ihre Kinderzahl einschränken lassen, wirken im Proletariat nicht, denn hier gibt es kein vererbbares Vermögen; zugleich nehmen die Versorgung der Städte mit billiger Kuhmilch und mit anderen Surrogaten der Muttermilch, Kinderkrippen u. s. w. der Proletarierin die Lasten des Säugens und der Behütung der Kinder zum grossen Teil ab ; die Kinder gehen dabei zwar oft zugrunde, aber die Arbeitslust der Mutter ist doch erleichtert. Dafür aber macht sich immer mehr als beschränkendes Moment geltend, dass Schwangerschaft und Geburt schwere Behinderungen des Erwerbslebens der Frau bedeuten und zugleich die fabriksmässige Herstellung von Hilfsmitteln der künstlichen Behinderung der Empfängnis deren Gebrauch auch den armen Schichten der Gesellschaft ermöglicht. Tatsächlich hat denn auch die Fruchtbarkeit des Proletariats in den letzten fahren stark abgenommen, wenn sie auch die der Bourgeoisie noch immer übersteigt.

Malthus hatte, wie wir gesehen haben, behauptet, dass sich die Lebensmittel nur in „arithmetischer Progression“, das heisst im Verhältnis der Zahlen 1 : 2 : 3 : 4 .... vermehren, während die Bevölkerung das Bestreben hat, sich in „geometrischer Progression“, das ist im Verhältnis der Zahlen 1 : 2 : 4 : 8 .... zu vervielfältigen. Allerdings zieht er diese Zahlenverhältnisse nur zur Veranschaulichung heran, ohne die Genauigkeit der Uebereinstimmung behaupten zu wollen. Der Gedanke, der seinen Ausführungen zugrunde liegt, ist aber der, dass die Vermehrung sowohl der Menschen als ihrer Unterhaltsmittel das Bestreben hat, stetig in einem bestimmten Verhältnis fortzuschreiten. Die hier nur kurz skizzierten Untersuchungen über die Aenderung der Fruchtbarkeit in verschiedenen Wirtschaftsformen zeigen, dass diese Voraussetzung nicht nur beim Menschen nicht zutrifft, bei dem diese Verhältnisse ungleich komplizierter sind, als jene mechanische Regel es behauptet, sondern auch ebensowenig auf den Nahrungsspielraum. Der Uebergang von einer Wirtschaftsform zur anderen, etwa von der Jagd und dem Fischfang zur Viehzucht oder zum Ackerbau erweitert den Nahrungsspielraum mit ungeheurer Raschheit, während er beim Fortbestand derselben Wirtschaftsweise vielleicht durch Jahrhunderte, ja Jahrtausende sich nur sehr langsam ausdehnt, gleich bleibt oder eventuell zurückgeht. Dies ist gerade dann der Fall, wenn sich diese Wirtschaftsform erschöpft, überlebt hat und zum Uebergang, zu einem neuen System drängt. Hier ist also von einer stetigen Entwicklung im Sinne einer „arithmetischen Progression“ gar keine Rede.

Malthus wurde zu seinem Irrtum hauptsächlich dadurch verführt, dass er Technik und Wirtschaft verwechselte; diese stehen aber oft geradezu in einem Gegensatz zueinander, der nirgends so deutlich wird wie in der heutigen Landwirtschaft. Setzt schon in der Industrie das Privateigentum an den Produktionsmitteln der Anwendung und Verbreitung technischer Fortschritte oft schwer überwindbare Hindernisse entgegen, so wirkt es in der Landwirtschaft noch viel stärker in dieser Richtung. Die technische Rückständigkeit dieses Produktionszweiges ist nicht durch seine Natur bedingt, sondern durch die sozialen Verhältnisse, durch das Privateigentum. Die Zersplitterung des Bodens macht jede wirklich rationelle Wirtschaft unmöglich, zu der auch ein Kapitalaufwand nötig wäre, der dem Lande nicht zufliessen kann, weil die Grundrente einen grossen Teil auch des Kapitalprofits an sich reisst. Dieser Tribut, den der Landwirt dem Grundbesitzer zu leisten hat, der ihn verschwendet oder in der Industrie anlegt, entführt zugleich Jahr für Jahr der Landwirtschaft riesige Wertmengen, während zugleich das ländliche Proletariat, so weit es nicht durch zwerghaften Grundbesitz an die Scholle gebunden ist, ebenfalls der Industrie zustrebt und das Land entvölkert. So ist also das Gesetz der allmählichen Abnahme des Bodenertrages keineswegs, wie die bürgerliche Oekonomie behauptet, ein Naturgesetz, sondern es entspringt den sozialen Verhältnissen, die der Kapitalismus zeitigt. Es verliert daher auch mit diesem seine Geltung.

Die Aufhebung des Privateigentums muss eine ungeheure Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft mit sich bringen. Nicht indem sie den Bauern expropriiert, sondern indem sie ihm erst die Möglichkeit bietet, seinen Betrieb rationell zu gestalten und sich der Hilfsmittel zu bedienen, die ihm moderne Wissenschaft und Technik schon heute in reichstem Masse bieten könnten, wenn er in der Lage wäre, sie auszuniitzen, die aber erst dann sich voll entfalten können. So ist die Sorge, die heute auch viele Sozialisten beschleicht, ob die Verwirklichung des Sozialismus nicht eine rasche Uebervölkerung herbeiführen werde, für lange Zeit gegenstandslos geworden. Inzwischen aber hat der Mensch Zeit, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.

Der Sozialismus befreit die Frau aus ihrer Abhängigkeit vom Manne, er gestaltet ihre Lebensweise besser und gesünder, er hätte also insofern die Tendenz, auch ihre Fruchtbarkeit zu erhöhen. Dem steht aber gegenüber, dass er die Frau auch viel intensiver, als es heute geschieht, zu geistiger Betätigung, zu geistiger Arbeit heranziehen wird, ein Kraft verbrauch, der der Fruchtbarkeit stark entgegenwirkt. Dadurch werden aber auch die Ansprüche erhöht, welche die Frau an ihre eigene Leistungsfähigkeit auf geistigem und sozialem Gebiet stellt; sie will nicht mehr blosse Gebärmaschine sein, und die medizinische Technik bietet ihr bequeme Mittel, die Zahl der Kinder nach Wunsch zu regulieren. Die von den Gegnern des Sozialismus an die Wand gemalte Gefahr der raschen Uebervölkerung, sobald der Druck der Not von den Schultern des Volkes genommen ist, ist also illusorisch.

Bei einem flüchtigen Vergleich der beiden Schriften Kautskys über die Bevölkerungsfrage könnte man leicht zu der Auffassung kommen, dass sie in ihrem Resultat eigentlich übereinstimmen, in der Erwartung, dass die künstliche Verhinderung der Empfängnis die Gefahr der Uebervölkerung bannen werde. Das hiesse aber den vollständigen Wandel verkennen, der sich in den Grundauffassungen Kautskys unter dem Einfluss des Marxismus vollzogen hat. In jener ersten, vor dreissig Jahren erschienenen. Schrift sucht Kautsky noch nach den Mitteln zur Verwirklichung des Sozialismus, den er als ethisches Ideal und Ziel des Klassenkampfes, aber noch nicht als notwendiges Ergebnis des Kapitalismus selbst betrachtet und erblickt im Neu-Malthusianismus eine unerlässliche Forderung, soll die Errungenschaft der sozialen Revolution nicht alsbald wieder verloren gehen. In seinem neuen Werk untersucht er die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsweise und Fruchtbarkeit. Wir haben ihn raschen Schrittes auf der Wanderung durch die Reihe der Wirtschaftsformen begleitet und konnten dabei beobachten, wie die Beeinflussung der Fruchtbarkeit durch die Lebensverhältnisse, die anfangs, auf den niedersten Stufen, fast rein organisch ist, das heisst auf die natürliche Anpassung beschränkt bleibt, immer mehr zu einer bewussten, mit künstlichen Mitteln geförderten wird. Es ist das ein Vorgang, der sich auf allen Gebieten des menschlichen Kulturlebens wiederholt und der auch dadurch notwendig wird, dass sich die einschneidendsten Aenderungen in der Lebenshaltung, der Wirtschaftsweise der Menschen mit einer Raschheit vollziehen, die eine natürliche Anpassung ihres Organismus gar nicht erlauben würde; diese wird aber auch durch die Hilfsmittel der Kultur überflüssig gemacht. Kautsky macht daher in seinem neuen Buch keineswegs für den präventiven Geschlechtsverkehr als Hilfsmittel der sozialen Befreiung Propaganda, sondern er zeigt, dass die Lebensverhältnisse der neuen Gesellschaft, insbesondere die Stellung, die sie der Frau zuweist, diese selbst zu einer Beschränkung der Kinderzahl veranlassen werden.

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Kautskys Buch ist sowohl für die Biologie als für die Sozialwissenschaft von grosser Bedeutung schon dadurch, dass es die Grundlage zerstört, auf der sowohl Malthus als auch Darwin ihr Lehrgebäude errichtet haben, die Behauptung, dass jede Organismenart das natürliche Bestreben hat, sich über den Nahrungsspielraum hinaus zu vermehren. [3]

Ueber diesen negativen Punkt hinaus zeigt dieses Buch aber an einem Musterbeispiel, wie biologische Lehren auf das Studium sozialer Verhältnisse, ohne diesem oder jenen Gewalt zu tun, wie das sonst fast immer geschieht, anzuwenden sind, zur gegenseitigen Befruchtung beider Gebiete der Wissenschaft. Kautsky hat in der Behandlung der Bevölkerungsfrage ganz neue Wege gewiesen, dieser Zweig der Forschung empfängt durch seine Arbeit die reichsten Anregungen. Die Ergebnisse, zu denen er gelangt, werden allerdings voraussichtlich in manchen Richtungen nicht nur Ergänzungen, sondern auch Korrekturen erfahren müssen.

Spencers Biologie rührt aus einer Zeit, wo die Forschung auf diesem Gebiet sich noch fast ausschliesslich der blossen Beobachtung bediente und aus dieser ihre Schlüsse zog, und in der zugleich die mechanistische Betrachtungsweise absolut herrschte. Die heutige Biologie zieht in ungleich grösserem Ausmass das Experiment als verlässlichstes Hilfsmittel der Forschung heran und hat gelernt, dass die Gesetze der Mechanik zwar natürlich auch für die Welt der Organismen uneingeschränkt gelten, dass aber die Fragestellung jener Wissenschaft hier nicht genügt.

Es ist unzweifelhaft richtig, dass ein Organismus auf die Dauer nicht mehr Energie verausgeben kann als er einnimmt. Aber aus diesem Satz ergeben sich noch nicht notwendig die Folgerungen, die Spencer aus ihm gezogen hat. Denn im Gegensatz zur unbelebten Natur hängen nicht nur die Leistungen eines Organismus von den Energien ab, die er angesammelt hat, sondern auch umgekehrt die Ansammlung der Energien von den Leistungen, die von ihm beansprucht werden. Was ein Arbeiter leisten kann, hängt allerdings von der Menge Nahrungsmittel ab, die er konsumiert; aber zugleich regelt sich auch seine Nahrungsaufnahme nach dem Kraftaufwand, den sein Organismus zu leisten hat. Die Arbeit macht bekanntlich hungrig.

Die Verhältnisse sind daher schon aus diesem Grunde keineswegs so einfach, wie die Theorie Spencers sie hinstellt. Es ist sehr wohl möglich, dass ein Organismus, an den die Fortpflanzung höhere Anforderungen stellt, eben deswegen auch grössere Energiemengen ansammelt, ferner aber auch, dass er anderen Lebensgebieten solche Energiemengen selbst auf Kosten seiner eigenen Erhaltung entzieht. So kommt es bei manchen niederen Tieren vor, dass ihre Fruchtbarkeit sich gerade bei karger Ernährung ungemein steigert, allerdings auf Kosten der Lebensdauer des mütterlichen Tieres selbst. Ferner bietet die Mannigfaltigkeit in der Art der Fortpflanzung auch innerhalb des von Spencer vorgezeichneten Rahmens noch Gelegenheit zu den verschiedensten Arten der Anpassung. Das Legen von Eiern erfordert weit weniger Kraftverbrauch als das Gebären lebender Jungen. Aber auch auf jedem dieser Gebiete gibt es noch grosse Unterschiede. Insbesondere ist der Grad der Entwicklung sehr verschieden, in dem bei den einzelnen Tierarten die Jungen zur Welt gebracht werden. Die Anstrengungen der Brutpflege sind ebenfalls sehr verschieden, keineswegs aber stets der genaue Ersatz für den Energieverbrauch einer längeren Trächtigkeit. Dazu kommt noch, dass, wenigstens bei manchen Tierarten, die Erzeugung männlicher Nachkommenschaft weniger Kraft und Material in Anspruch zu nehmen scheint als die weiblicher. Durch alle diese Faktoren werden hier die Verhältnisse so kompliziert, dass sie durch ein Gesetz wie das Spencers nicht vollkommen erfasst werden können. Dieses Gesetz bildet also nur einen Rahmen, der allerdings weiter ist als seine Vertreter annehmen, der aber doch die Grenze andeutet, über die die Vermehrung nicht hinausgehen kann. Es ist aber noch die höchst wichtige Aufgabe der Detailforschung, zu untersuchen, wie weit der Rahmen in jedem einzelnen Falle ist, und wie sich die Vorgänge innerhalb dieses Rahmens abspielen. Hier werden daher auch die Schlussfolgerungen Kautskys, der jenes Gesetz als zu eindeutig auffasst, wohl wichtige Korrekturen und Ergänzungen erfahren müssen.

Von ungleich grösserer Wichtigkeit als das allgemeine Naturgesetz sind aber für Kautsky die Verhältnisse bei den Säugetieren und speziell beim Menschen. Es ist sehr merkwürdig und ein Beweis dafür, dass die grundlegende Bedeutung dieser Frage für die theoretische Biologie bisher verkannt wurde, dass sich die Wissenschaft mit ihr verhältnismässig noch recht wenig beschäftigt hat. Eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der Forschung über die Abhängigkeit der Fruchtbarkeit von der Umgebung oder auch nur von der Ernährung existiert überhaupt nicht. Man muss sich das spärliche Material aus der wissenschaftlichen Literatur aus Artikeln und gelegentlichen Notizen zusammensuchen. Während in letzter Zeit die eifrigsten Studien über die Vererbung bestimmter Eigenschaften und Merkmale und auch über den Einfluss der Ernährung auf das Geschlecht der Nachkommenschaft gepflegt worden sind, wurde die so wichtige Frage der Abhängigkeit der Fruchtbarkeit selbst von den Lebensumständen sehr vernachlässigt. So weit aber solche Forschungen vorliegen, scheinen sie allerdings Kautskys Auffassung zu bestätigen.

So erklärt zum Beispiel Havelock Ellis, eine der bekanntesten Autoritäten auf dem Gebiete der Erforschung des menschlichen Geschlechtslebens, „dass mit wachsender Kultur der Geschlechtstrieb an Stärke zunimmt“. [4] Und er beruft sich zur Stütze dieser Ansicht nicht nur auf eine lange Reihe von Schilderungen verlässlicher Forscher, die die geschlechtliche Kälte der Wilden bestätigen, sondern auch auf die biologische Forschung, welche zeige, dass domestizierte Tiere grössere Geschlechtsbegierde und Fruchtbarkeit aufweisen als ihre wilden Verwandten, dass gut genährte Tiere überhaupt fruchtbarer sind als schlecht versorgte. Zustimmend zitiert er einen Ausspruch Heapes:

„Sehr wahrscheinlich hat die Zeugungskraft des Menschen mit der Kultur zugenommen, wie sie beim Vieh durch die Domestikation gesteigert wird; und es hat die Wirkung regelmässiger reichlicher Zufuhr guter Nahrung und die vielen Stimuli, die das Leben in unserem modernen Gemeinwesen mit sich bringt, die Zeugungsorgane so angeregt, dass ein gesundes Weib fast zu jeder Zeit ihrer Geschlechtsreife konzipieren kann.“

Nicht die Entdeckung dieser Wahrheit ist das Verdienst Kautskys, der auch die Ehren eines Eroberers biologischen Neulandes gewiss nicht für sich in Anspruch nimmt, sondern dass er ihre grundlegende Bedeutung für die Vermehrung in Natur und Gesellschaft erkennt und insbesondere dass er gezeigt hat, wie sie für die Sozialwissenschaft fruchtbar zu machen ist. Damit hat er der Forschung über das Bevölkerungsproblem ganz neue Bahnen gewiesen. Auf ihnen wird die Wissenschaft weiter zu schreiten und die Untersuchung eingehender in den Details zu führen haben. Dabei wird sich zugleich ergeben, wie weit jenes Naturgesetz beim Menschen Geltung hat und in welcher Weise es sich jeweils durchsetzt. Auf diese Weise wird auch die Sozialwissenschaft sich für die Biologie fruchtbar erweisen und jener Wissenschaft einen Teil der Dankesschuld abstatten, die ihr für mannigfache Hilfe und Anregungen gebührt. Kautsky selbst hat diese Untersuchungen in dem vorliegenden Band erst in gröberen Strichen skizziert, die feinere Durchführung wird die Aufgabe künftiger Forschung sein. Dass Kautsky sich mit jener Skizze begnügte, rührt wohl hauptsächlich von dem zu grossen Vertrauen, das er in die Gültigkeit und Genauigkeit jener Spencerschen Theorie setzte, und das ihm nur ihre Anwendung auf die sozialen Verhältnisse, nicht aber zugleich auch eine Erprobung an ihnen geboten erscheinen liess.

Doch nicht nur der Forscher wird Anregung, der wissenschaftlich interessierte Leser Genuss aus dem Buche gewinnen, sondern auch der Agitator wird reichlich Argumente in ihm finden, nicht nur zur Abwehr gegnerischer Einwände, sondern zugleich auch zur Gewinnung neuer Schichten der Bevölkerung.

Die ungemein klaren und präzisen Ausführungen über den Einfluss von. Kapitalismus und Sozialismus auf die Landwirtschaft bieten eine willkommene Ergänzung zu Kautskys Agrarfrage und zu seiner Schrift über Die soziale Revolution. Sie werden besonders in unserer Landagitation sich gewiss als ungemein fruchtbar erweisen. Von grossem Interesse sind ferner die Abschnitte über das Verhältnis von Kapitalismus und Proletariat zu Wissenschaft und Kunst. Sie zeigen, wie auch diese beiden gewaltigen Kulturfaktoren erst vom Siege des Proletariats ihren glänzendsten Aufschwung zu erwarten haben. Freilich stehen sie nicht in allen Teilen mit dem Grundgedanken des Buches in so notwendigem Zusammenhang, wie man das sonst in Darstellungen Kautskys gewohnt ist. Hier hat die Geschlossenheit der Darstellung dem Mitteilungsdrang des Mannes der Propaganda eine Konzession machen müssen. Denn in Kautsky vereinigen sich, wie selten in einem Manne, die Qualitäten des Forschers und des Kämpfers.

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Anmerkungen

1. Karl Kautsky, Der Einfluss der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft, Wien 1880, Verlag von Bloch und Hasbach.

2. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachfolger, 1910, 268 Seiten, Preis 2 Mk.

3. Es ist wohl kaum notwendig, darauf hinzuweisen, dass damit die Entwicklungslehre selbst keineswegs angegriffen erscheint. Dass die höheren Organismen sich aus niederen entwickelt haben, gehört heute zu den am sichersten verbürgten Tatsachen der Naturwissenschaft. Der Streit dreht sich nur um die Frage der Beschaffenheit und der Erklärung dieser Entwicklung, und hier gewinnt gegenüber der Lehre des Darwinismus der Lamarckismus immer mehr an Boden, der Kautskys Buch gewiss als starke Waffe in diesem Kampfe begrüssen wird.

4. H. Ellis, Das Geschlechtsgefühl, Würzburg 1903, S. 271.


Zuletzt aktualisiert am 7. Oktober 2023