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DAS IDEALMODELL EINER MODERNEN SOZIALDEMOKRATIE, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, wird oft dargestellt, als sei sie auf einer marxistischen Grundlage entstanden. Das ist ein Mythos, wie so vieles in den vorhandenen Geschichten des Sozialismus. Der Einfluss von Marx war stark, auch zeitweilig auf einige der führenden Köpfe der Partei, aber die Politik, welche die Partei durchdrang und sich schließlich durchsetzte, entsprang hauptsächlich zwei anderen Quellen.
Die eine war Lassalle, der den deutschen Sozialismus als organisierte Bewegung (1863) gründete, und die andere waren die britischen Fabier, aus deren Ideen Eduard Bernsteins „Revisionismus“ schöpfte.
Ferdinand Lassalle ist der Prototyp des Staatssozialisten – also einer, dessen Ziel es ist, Sozialismus durch den bestehenden Staat herabgereicht zu bekommen. Er war nicht das erste prominente Beispiel (das war Louis Blanc), aber für ihn war der bestehende Staat der kaiserliche Staat unter Bismarck.
Der Zweck des Staats, erklärte Lassalle den Arbeitern, bestehe darin, „eine solche Stufe des Daseins zu erreichen, die sie als Einzelne niemals erreichen könnten“. Marx lehrte genau das Gegenteil: Die Arbeiterklasse müsse ihre Emanzipation selbst erringen und in diesem Prozess den Staat abschaffen. Eduard Bernstein hatte völlig recht, als er sagte, Lassalle habe aus dem Staat „einen wahren Kult gemacht“. „Das uralte Vestalfeuer aller Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene modernen Barbaren [die liberale Bourgeoisie]“, erklärte er einem preußischen Gericht. Damit waren Marx’ und Lassalles Positionen „grundsätzlich entgegengesetzt“, stellte der Lassalle’sche Biograf Footman fest, der sein Propreußentum, seinen propreußischen Nationalismus, seinen propreußischen Imperialismus bloßlegt.
Lassalle organisierte diese erste deutsche sozialistische Bewegung als seine eigene Diktatur. Ganz bewusst machte er sich daran, sie als Massenbewegung von unten aufzubauen, um einen Sozialismus von oben zu erringen (wie beim oben erwähnten Rammbock von Saint-Simon). Das Ziel war, Bismarck davon zu überzeugen, Zugeständnisse zu machen – besonders das allgemeine Wahlrecht einzuführen, auf dessen Basis eine parlamentarische Bewegung unter Lassalle eine Massenverbündete des Bismarck’schen Staats in einer Koalition gegen die liberale Bourgeoisie werden könnte. Zu diesem Zweck versuchte Lassalle in der Tat, mit dem Eisernen Kanzler zu verhandeln. Lassalle schickte ihm die diktatorischen Statuten seiner Organisation als „die Verfassung meines Reichs, dessentwegen Sie mich vielleicht beneiden werden“, und dann fuhr er fort:
Es wird Ihnen aus diesem Miniaturgemälde deutlich die Überzeugung hervorgehen, wie wahr es ist, dass sich der Arbeiterstand instinktmäßig zur Diktatur geneigt fühlt, wenn er erst mit Recht überzeugt sein kann, dass dieselbe in seinem Interesse ausgeübt wird und wie sehr er daher, wie ich Ihnen schon neulich sagte, geneigt sein würde, trotz aller republikanischen Gesinnungen – oder vielmehr gerade auf Grund derselben – in der Krone den natürlichen Träger der sozialen Diktatur, im Gegensatz zu dem Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft, zu sehen, wenn die Krone ihrerseits sich jemals zu dem – freilich sehr unwahrscheinlichen – Schritt entschließen könnte, eine wahrhaft revolutionäre und nationale Richtung einzuschlagen und sich aus einem Königtum der bevorrechteten Stände in ein soziales und revolutionäres Volkskönigtum umzuwandeln!
Obwohl dieser geheime Brief damals unbekannt war, begriff Marx das Wesen des Lassalleanertums vollkommen. Er sagte Lassalle ins Gesicht, dass er ein „Bonapartist“ sei, und erkannte scharfsinnig: „Er gebärdet sich wie der künftige Arbeiterdiktator.“ Die Lassalle’sche Tendenz nannte er den „königlich preußischen Regierungssozialismus“ und verurteilte seine „Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie“.
„Statt aus dem revolutionären Umwandlungsprozesse der Gesellschaft“, so schrieb Marx, entsteht laut Lassalle der Sozialismus „aus der ‚Staatshilfe‘, die der Staat den Produktivgenossenschaften gibt, die der Staat, nicht der Arbeiter ‚ins Leben ruft‘.“ Marx macht sich lustig darüber. „Was aber die jetzigen Kooperativgesellschaften betrifft, so haben sie nur Wert, soweit sie unabhängige, weder von den Regierungen noch von den Bourgeois protegierte Arbeiterschöpfungen sind.“ Hier ist eine klassische Stellungnahme zu der Bedeutung des Wortes „unabhängig“ als Grundpfeiler des Sozialismus von unten gegenüber dem Staatssozialismus.
Es gibt ein aufschlussreiches Beispiel dafür was passiert, wenn ein akademischer Antimarxist der amerikanischen Sorte zufällig auf diesen Standpunkt von Marx stößt. In seinem Buch Demokratie und Marxismus (später überarbeitet und als Einführung in die marxistische Theorie herausgegeben) beweist Mayo mit großem Geschick, dass der Marxismus antidemokratisch sei, indem er den Marxismus einfach als „Moskauer Orthodoxie“ definiert. Aber zumindest scheint er Marx gelesen zu haben, denn es fiel ihm auf, dass nirgendwo in den Metern von Schriften und während seines langen Lebens Marx Interesse an mehr Macht für den Staat zeigte, sondern eher das Gegenteil. Marx, dämmert es ihm, war kein „Staatsanhänger“:
Die populäre gegen den Marxismus gerichtete Kritik heißt, er neige dazu, in eine Form der „Staatsanhängerschaft“ zu verfallen. Auf den ersten Blick verfehlt diese Kritik anscheinend weit das Ziel, denn die Tugend der Marx’schen politischen Theorie ... ist die völlige Abwesenheit jeder Verherrlichung des Staates.
Diese Entdeckung stellt eine bemerkenswerte Herausforderung an die Marx-Kritiker dar, die natürlich im Voraus wissen, dass der Marxismus den Staat verherrlichen muss. Mayo löst diese Schwierigkeit mit zwei Feststellungen: 1. „Die Staatsanhängerschaft wohnt dem Bedürfnis nach totaler Planung inne ...“ 2. Sieh dir Russland an! Aber Marx erhebt die „totale Planung“ nicht zum Fetisch. Er wurde so häufig (von anderen Marx-Kritikern) dafür kritisiert, dass er es versäumte, einen Sozialismusentwurf vorzulegen, gerade weil er sich so heftig gegen den utopischen „Planismus“ – oder Planung von oben – seiner Vorgänger wandte. Der „Planismus“ ist genau die Vorstellung von Sozialismus, die der Marxismus zerstören wollte. Der Sozialismus muss Planung beinhalten, aber die „totale Planung“ ist nicht dem Sozialismus gleich – genau wie jeder Dummkopf ein Professor sein kann, aber nicht jeder Professor ein Dummkopf sein muss.
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003