Hal Draper

 

Die zwei Seelen des Sozialismus

 

4. Der Mythos des anarchistischen „Libertarismus“

EINE DER AUSGEPRÄGTESTEN AUTORITÄREN FIGUREN in der Geschichte des Radikalismus ist kein anderer als der „Vater des Anarchismus“, Proudhon, dessen Name regelmäßig als großes „libertäres“ Musterbeispiel wiederbelebt wird, weil er fleißig das Wort „Freiheit“ wiederholt und „die Revolution von unten“ ins Feld führt.

Einige sind vielleicht bereit, seinen Antisemitismus, der dem Hitlers sehr ähnelt („Der Jude ist der Feind der Menschheit. Es ist notwendig, diese Rasse nach Asien zurückzuschicken oder auszurotten ...“) zu übersehen, oder seinen prinzipientreuen Rassismus im Allgemeinen (er meinte, die amerikanischen Südstaaten hätten das Recht, Schwarze in Sklaverei zu halten, da sie die niedrigste der minderwertigen Rassen seien); oder seine Verherrlichung des Kriegs um seiner selbst willen (genau nach dem Muster Mussolinis); oder seine Ansicht, dass Frauen keine Rechte hätten („Ich verweigere ihr jedes politische Recht und jede Initiative. Für die Frau besteht Freiheit und Wohlstand einzig und allein in Ehe, Mutterschaft, und häuslichen Pflichten ...“) – das ist die „Kinder, Kirche, Küche“-Ideologie der Nazis.

Aber es ist nicht möglich, seine heftige Gegnerschaft nicht nur gegenüber Gewerkschaften und dem Streikrecht zu übersehen (bis zur Unterstützung von Streikbrecheraktionen der Polizei), sondern auch gegenüber jeder Art des Stimmrechts, des allgemeinen Wahlrechts, der Volkssouveränität und sogar der Idee einer Verfassung. („Diese ganze Demokratie widert mich an ... Was würde ich nicht dafür geben, über diesen Pöbel mit geballten Fäusten herzufallen!“) Seine Notizen zu seiner Idealgesellschaft enthalten bezeichnenderweise die Unterdrückung aller anderen Gruppen, jeder öffentlichen Veranstaltung von mehr als zwanzig Menschen, der Pressefreiheit und aller Wahlen; in den gleichen Notizen ersehnt er „eine allgemeine Inquisition“ und die Verurteilung von „mehreren Millionen Menschen“ zu Zwangsarbeit – „wenn eines Tages die Revolution vollbracht ist“.

Hinter all dem stand eine leidenschaftliche Verachtung der Massen – das notwendige Fundament des Sozialismus von oben, so wie das Gegenteil davon die Grundlage des Marxismus war. Die Massen seien korrupt und hoffnungslos („Ich verehre die Menschheit, aber ich spucke auf die Menschen!“). Sie seien „bloß Wilde ... es ist unsere Pflicht, sie zu zivilisieren, ohne dass wir sie zu unserem Souverän machen“, schrieb er an einen Freund, den er verächtlich schalt: „Sie glauben immer noch an das Volk.“ Fortschritt könne nur durch die Herrschaft einer Elite erreicht werden, die Obacht geben müsse, dem Volk nicht die Souveränität zu geben.

Gelegentlich hoffte er auf irgendeinen herrschenden Despoten, der als Ein-Mann-Diktator die Revolution bringen sollte: Louis Bonaparte (er schrieb 1852 ein ganzes Buch, in dem er den Kaiser als Träger der Revolution pries); Prinz Jerome Bonaparte, schließlich Zar Alexander II. („Wir dürfen nicht vergessen, dass der Despotismus des Zaren für die Zivilisation notwendig ist.“).

Es gab natürlich einen Kandidaten für die Stelle des Diktators, der näher liegend war – ihn selbst. Er erarbeitete ein detailliertes Schema für ein „auf Gegenseitigkeit beruhendes“ Geschäft, der Form nach genossenschaftlich, das sich ausbreiten und alle Geschäfte und schließlich den Staat übernehmen würde. In seinen Aufzeichnungen notierte er sich selbst für die Position des Chefmanagers, der natürlich keiner demokratischen Kontrolle, die er so verachtete, unterworfen sein sollte. Er achtete im Voraus auf Details: „Ein Geheimprogramm für alle Manager entwerfen: unwiderrufliche Beseitigung von Königshaus, Demokratie, Besitzern, Religion [und so weiter].“ – „Die Manager sind die natürlichen Vertreter des Landes. Minister sind bloß höhere Leiter oder Generaldirektoren: wie ich es eines Tages sein werde ... Wenn wir die Herren sind, wird die Religion das sein, was wir wollen; ebenso die Bildung, die Philosophie, die Gerechtigkeit, die Verwaltung und die Regierung.“

Der Leser, der vielleicht voll der üblichen Illusionen über den anarchistischen „Libertarismus“ ist, mag sich fragen: War er dann unaufrichtig in seiner großen Liebe für die Freiheit?

Nicht im Geringsten: Es ist nur notwendig zu verstehen, was die anarchistische „Freiheit“ bedeutet. Proudhon schrieb: „Das Prinzip der Freiheit ist das der Abtei von Thélème [in Rabelais]: Tue, was du tun möchtest.“ Und dieses Prinzip bedeutete: „Jeder Mann, der nicht alles tun kann, was er will, hat das Recht zur Revolte, auch alleine, gegen die Regierung, selbst wenn diese Regierung alle anderen sind.“ Der Einzige, der sich dieser Freiheit erfreuen kann, ist ein Despot; das ist der Sinn der glänzenden Einsicht von Dostojewskis Schigaljow: „Wenn ich mit der unbeschränkten Freiheit beginne, gelange ich zur unbeschränkten Despotie.“

Die Geschichte sieht bei dem zweiten „Vater des Anarchismus“, Bakunin, ähnlich aus. Dessen Entwürfe für eine Diktatur und die Unterdrückung der demokratischen Kontrolle sind besser bekannt als die von Proudhon.

Die Hauptursache ist dieselbe: Der Anarchismus beschäftigt sich nicht mit der Schaffung demokratischer Kontrolle von unten, sondern nur mit der Vernichtung der „Autorität“ über das Individuum, einschließlich der Autorität der radikalsten demokratischen Regulierung der Gesellschaft, die vorstellbar ist. Das haben die maßgebenden anarchistischen Interpreten immer wieder deutlich gemacht; zum Beispiel George Woodcock: „Selbst wenn Demokratie möglich wäre, würde der Anarchist sie nicht unterstützen ... Anarchisten befürworten keine politische Freiheit. Was sie befürworten, ist die Freiheit von der Politik ...“ Der Anarchismus ist aus Prinzip leidenschaftlich antidemokratisch, denn eine ideale demokratische Autorität bleibt immer noch eine Autorität. Aber indem er Demokratie ablehnt, kann er die unvermeidlichen Uneinigkeiten und Meinungsverschiedenheiten unter den Bewohnern der Abtei von Thélème nicht anders lösen, seine unbeschränkte Freiheit für jedes unkontrollierte Individuum ist nicht zu unterscheiden von unbeschränktem Despotismus durch solch ein Individuum – in der Theorie wie in der Praxis.

Das große Problem unseres Zeitalters besteht darin, die demokratische Kontrolle von unten über die riesigen Mächte der modernen gesellschaftlichen Autorität zu erringen. Der Anarchismus, der am freigebigsten mit Geschwätz über irgendetwas von unten ist, lehnt dieses Ziel ab. Er ist die Kehrseite der Medaille der bürokratischen Despotie, in der alle Werte auf den Kopf gestellt sind – nicht das Heilmittel oder die Alternative.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003