Hal Draper

 

Die zwei Seelen des Sozialismus

 

2. Die ersten modernen Sozialisten

DER MODERNE SOZIALISMUS ENTSTAND im Laufe des etwa halben Jahrhunderts zwischen der großen Französischen Revolution und den Revolutionen von 1848. Ebenso die moderne Demokratie. Aber sie wurden nicht wie „siamesische Zwillinge“ miteinander verbunden geboren. Wann kreuzten sich die beiden Linien zum ersten Mal?

Aus den Trümmern der Französischen Revolution entstanden verschiedene Arten des Sozialismus. Wir werden drei der Wichtigsten hinsichtlich unserer Fragestellung erörtern.

I. Babeuf. – Die erste moderne sozialistische Bewegung war diejenige, die in der letzten Phase der Französischen Revolution von Babeuf geführt wurde (die „Verschwörung der Gleichen“). Sie wurde als Weiterführung des revolutionären Jakobinismus entwickelt, aber mit einem konsequenteren gesellschaftlichen Ziel: einer Gesellschaft der kommunistischen Gleichheit. Hier wird zum ersten Mal in der modernen Zeit die Idee des Sozialismus mit der Idee einer Volksbewegung vereint – eine folgenschwere Verbindung. [1]

Diese Verbindung wirft sofort eine kritische Frage auf: Wie ist im jeweiligen Fall die genaue Beziehung zwischen dieser sozialistischen Idee und jener Volksbewegung? Das ist für die folgenden 200 Jahre die Schlüsselfrage für den Sozialismus.

Die Anhänger Babeufs sahen es so: Die Massenbewegung des Volks ist gescheitert; das Volk scheint der Revolution den Rücken gekehrt zu haben. Aber sie leiden immer noch, sie brauchen noch immer den Kommunismus: Wir wissen es. Der revolutionäre Wille des Volks wurde durch eine Verschwörung der Rechten besiegt: Was wir brauchen, ist eine Intrige der Linken, um eine neue Volksbewegung zu schaffen, um den revolutionären Willen zu wecken. Wir müssen deshalb die Macht ergreifen. Aber das Volk ist nicht mehr bereit, die Macht zu ergreifen. Deshalb müssen wir die Macht in seinem Namen ergreifen, um das Volk auf diese Stufe zu heben. Das bedeutet eine vorübergehende Diktatur, zugegeben von einer Minderheit; aber es wird eine Erziehungsdiktatur sein, die darauf zielt, die Bedingungen für eine demokratische Kontrolle in der Zukunft zu schaffen. (In diesem Sinne sind wir Demokraten.) Das wird keine Diktatur des Volkes sein, wie die Kommune [von 1793 bis 1794; d. Übers.], geschweige denn eine Diktatur des Proletariats; offen gesagt ist es eine Diktatur über das Volk – mit sehr guten Absichten.

Für den Großteil der folgenden fünfzig Jahre bleibt das Konzept der Erziehungsdiktatur über das Volk das Programm der revolutionären Linken – über die drei Bs (von Babeuf über Buonarroti bis zu Blanqui) und auch, mit hinzugefügtem anarchistischem Geschwätz, bis zu Bakunin. Die neue Ordnung wird dem leidenden Volk von den revolutionären Verschwörern hinabgereicht. Dieser typische Sozialismus von oben ist die erste und primitivste Form des revolutionären Sozialismus, aber es gibt heute noch immer Bewunderer von Castro und Mao, die glauben, er sei der letzte Schrei des Revoluzzertums.

II. Saint-Simon. – Hervorgehend aus der revolutionären Periode, nahm ein brillanter Geist einen völlig anderen Kurs. Saint-Simon wurde durch seine Abscheu gegen Revolution, Unordnung und Unruhen angetrieben. Was ihn faszinierte, waren die Möglichkeiten, die Industrie und Wissenschaft eröffneten.

Seine Vision hatte nicht im Entferntesten mit so etwas wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenrechten oder dergleichen Leidenschaften zu tun: Sie schenkte nur der Modernisierung, der Industrialisierung, der Planung Beachtung, losgelöst von all solchen Überlegungen. Die geplante Industrialisierung war der Schlüssel zur neuen Welt, und offensichtlich bestand die Gruppe, die das erreichen sollte, aus den Oligarchien der Finanziers und Geschäftsmänner, Wissenschaftler, Technologen, Manager. Wo er nicht an diese appellierte, forderte er Napoleon oder seinen Nachfolger Ludwig XVIII. auf, seine Pläne für eine königliche Diktatur in die Tat umzusetzen. Er verfolgte unterschiedliche Projekte, die aber eines gemeinsam hatten: Sie waren alle völlig autoritär bis zur letzten geplanten Verordnung. Als systematischer Rassist und militanter Imperialist war er ein wütender Feind gerade jeder Idee von Gleichheit und Freiheit, die er als Abkömmlinge der Französischen Revolution hasste.

Erst in der letzten Phase seines Lebens (1825), enttäuscht über die Weigerung der natürlichen Elite, ihre Pflicht zu tun und die neue modernisierende Oligarchie zu errichten, wandte er sich mit Appellen an die Arbeiter, die unter ihr standen. Das „Neue Christentum“ sollte eine Volksbewegung sein, aber ihre Rolle sollte lediglich darin bestehen, die Herrschenden davon zu überzeugen, den Rat der Saint-Simon’schen Planer zu beachten. Die Arbeiter sollten sich organisieren – um ihre Kapitalisten und leitenden Bosse zu bitten, die Kontrolle den „untätigen Klassen“ zu entreißen.

In welchem Verhältnis stand dann seine Vorstellung von der geplanten Gesellschaft zur Volksbewegung? Das Volk, die Bewegung, könnte als Rammbock nützlich sein – in den Händen eines anderen. Saint-Simons letzte Idee war eine Bewegung von unten, um einen Sozialismus von oben hervorzubringen. Aber Macht und Kontrolle sollten da bleiben, wo sie immer gewesen waren – oben.

III. Die Utopisten. – Eine dritte Art des Sozialismus, die sich in der nachrevolutionären Generation entwickelte, war die der echten utopischen Sozialisten – Robert Owen, Charles Fourier, Etienne Cabet usw. Sie entwarfen das Idealbild einer gemeinschaftlichen Kolonie, die voll entwickelt dem Kopf des Führers entsprang und von Gnaden der menschenfreundlichen Reichen unter den Fittichen der wohlwollenden Macht finanziert werden sollte.

Owen (in gewisser Hinsicht der sympathischste in der ganzen Gruppe) war ebenso kategorisch wie die anderen: „Diese große Veränderung ... muss und wird von den Reichen und Mächtigen vollendet werden. Es gibt keine anderen Parteien, die dazu fähig sind ... es ist eine Verschwendung von Zeit, Talent und Geldmitteln, wenn die Armen in Opposition zu den Reichen und Mächtigen kämpfen ...“ Natürlich war er auch gegen „Klassenhass“, den Klassenkampf. Von den vielen, die daran glaubten, hat kaum jemand so unverblümt wie er geschrieben, dass das Ziel dieses „Sozialismus“ sei, „die ganze Gesellschaft so zu regieren oder zu behandeln, wie die fortgeschrittensten Ärzte ihre Patienten in den bestorganisierten Irrenanstalten regieren und behandeln“, mit Nachsicht und Güte gegenüber den Unglücklichen, die so wurden „durch die Irrationalität und Ungerechtigkeit des gegenwärtigen, äußerst irrationalen Gesellschaftssystems“.

Die Gesellschaft Cabets sah Wahlen vor, aber es sollte keine freie Diskussion geben; und eine kontrollierte Presse, systematische Indoktrination und völlig reglementierte Einheitlichkeit waren unabdingbarer Bestandteil des Rezepts.

Wie sah das Verhältnis zwischen der sozialistischen Idee und der Volksbewegung für diese utopischen Sozialisten aus? Letztere war die Herde, die vom guten Schäfer gehütet werden musste. Wir müssen nicht glauben, dass der Sozialismus von oben notwendigerweise grausame despotische Absichten beinhaltet.

Diese Seite der Sozialismen von oben hat sich längst nicht überlebt. Im Gegenteil, sie ist so modern, dass ein moderner Schriftsteller wie Martin Buber in seinem Buch Pfade in Utopia die Meisterleistung vollbringen kann, die alten Utopisten so zu behandeln, als ob sie große Demokraten und „Libertäre“ gewesen wären!

Dieser Mythos ist ziemlich weit verbreitet, und er beweist erneut die außerordentliche Unempfindlichkeit sozialistischer Schriftsteller und Historiker gegenüber der tief verwurzelten Vorgeschichte des Sozialismus von oben als des vorherrschenden Bestandteils in den zwei Seelen des Sozialismus.

 

Anmerkung

1. Streng genommen nahmen Gerrard Winstanley und die „True Levellers“ (die wahren Gleichmacher), der linke Flügel der Englischen Revolution, diese Verbindung vorweg; aber sie wurde vergessen und führte historisch gesehen zu nichts.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003