Joseph Dietzgen

Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit

 

V. „Praktische Vernunft“ oder Moral

b) Das sittlich Rechte

Dem Wesen nach beschränkt sich unsere Arbeit auf den Nachweis, dass reine Vernunft ein Unding ist, dass die Ver­nunft Inbegriff der einzelnen Erkenntnisakte ist, welche nur vermeintlich reine, d. h. allgemeine, tatsächlich aber und notwendig immer nur praktische, d. h. besondere Er­kenntnisse inbegreift. Wir betrachteten die Philosophie, die vorgebliche Wissenschaft reiner oder absoluter Er­kenntnisse. Ihr Zweck erweist sich eitel, insofern die philosophische Entwicklung einen fortwährenden Ent­täuschungsakt darstellt, wo die unbedingten oder absoluten Systeme sich als räumlich und zeitlich bedingt erweisen. Unsere Darstellung hat die relative Bedeutung ewiger Wahrheiten gezeigt. Wir erkannten die Vernunft von der Sinnlichkeit abhängig, erkannten bestimmte Grenzen als notwendige Bedingung der Wahrheit überhaupt. In spe­ziellem Bezug auf Lebensweisheit sahen wir die gewonnene Wissenschaft des „reinen“ Erkenntnisvermögens prak­tisch bestätigt durch die Abhängigkeit des Weisen oder Vernünftigen von sinnlich gegebenen Verhältnissen. Bringen wir diese Theorie ferner bei der Moral in engerem Sinne in Anwendung, so muss sich auch hier, wo das Rechte und Schlechte streitbar ist, durch die wissenschaftliche Methode wissenschaftliche Einhelligkeit erreichen lassen.

Die heidnische Moral ist eine andere als die christliche. Die feudale Moral unterscheidet sich von der modern bürgerlichen wie Tapferkeit und Zahlungsfähigkeit. Kurz, dass die verschiedenen Zeiten und verschiedenen Völker verschiedener Moral sind, bedarf keiner Ausführung en détail. Es gilt diesen Wechsel als notwendig begreifen, als Vorzug der menschlichen Gattung, als geschichtliche Ent­wicklung und somit den Glauben an die „ewige Wahrheit“, wofür jedesmal die herrschende Klasse ihre eigennützigen Gebote ausgibt, umzutauschen gegen die Wissenschaft, dass das Recht überhaupt ein purer Begriff ist, den wir ver­möge der Denkkraft den verschiedenen einzelnen Rechten entnehmen. Das Recht im allgemeinen bedeutet nicht mehr und nicht minder als jeder Gattungsname, als z. B. der Kopf überhaupt. Jeder wirkliche Kopf ist ein aparter, ent­weder Menschen- oder Tierkopf, breit oder lang, schmal oder dick, d. h. eigen oder individuell geartet. Aber jeder aparte Kopf hat doch wieder allgemeine Eigenschaften, Eigenschaften, welche allen Köpfen übereinstimmend an­gehören, z. B. des Körpers Oberhaupt zu sein. Ja, jeder Kopf hat so viel Gemeines wie Apartes, nicht mehr eigen als kommun. Das Denkvermögen entnimmt den einzelnen, wirklichen Köpfen das Allgemeine und verschafft sich so den Begriff des Kopfes, d. i. den Kopf überhaupt. Wie der Kopf überhaupt das Gemeinschaftliche aller Köpfe, so be­deutet das Recht überhaupt das Gemeinschaftliche aller Rechte. Beides sind Begriffe und keine Dinge.

Jedes wirkliche Recht ist ein besonderes, recht nur unter gewissen Umständen, für gewisse Zeiten, diesem oder jenem Volke. „Du sollst nicht töten“ ist Recht im Frieden, Un­recht im Kriege; recht für die Majorität unserer Gesell­schaft, welche ihrem dominierenden Bedürfnisse die Mucken der Leidenschaft geopfert wissen will, doch unrecht dem Wilden, der nicht soweit gekommen, ein friedliches ge­selliges Leben zu schätzen, der deshalb das angeführte Recht als unrechte Beschränkung seiner Freiheit empfindet. Für die Lebensliebe ist der Mord ein schimpflicher Greuel, für die Rache ein köstliches Labsal. So ist der Raub dem Räuber recht und dem Beraubten unrecht. Von einem Un­recht überhaupt kann dabei nur in einem relativen Sinne die Rede sein. Die Handlung ist nur soweit allgemein un­recht, als sie allgemein mißliebig ist. Sie ist der großen Mehrzahl unrecht, weil unsere Generation mehr Interesse am bürgerlichen Handel und Wandel als an den Abenteuern der Heerstraße hat.

Wollte ein Gesetz, eine Lehre, eine Handlung absolut recht, recht überhaupt sein, so müßte sie dem Wohle aller Menschen unter allen Verhältnissen, zu allen Zeiten ent­sprechen. Dieses Wohl ist jedoch so verschieden wie die Menschen, ihre Umstände und die Zeit. Was mir gut, ist einem anderen schlimm, was in der Regel wohl, tut aus­nahmsweise leid; was einer Zeit frommt, hemmt eine andere. Das Gesetz, welches Anspruch darauf machen wollte, Recht überhaupt zu sein, dürfte nie und niemand wider­sprechen. Keine Moral, keine Pflicht, kein kategorischer Imperativ, keine Idee des Guten vermag den Menschen zu lehren, was gut, was böse, was recht, was unrecht sei. Gut ist, was unserem Bedürfnis entspricht, böse, was ihm wider­spricht. Aber was ist wohl gut überhaupt? Alles und nichts! Nicht das grade Holz ist gut, nicht das krumme. Keines ist gut, und jedes ist gut – da, wo ich sein bedarf. Und wir bedürfen alles, gewinnen jedem Dinge eine gute Seite ab. Wir sind nicht beschränkt auf dies oder jenes. Wir sind un­beschränkt, universell, allbedürftig. Deshalb sind unsere Interessen unzählbar, unsagbar, deshalb ist jedes Gesetz ungenügend, weil es immer nur ein besonderes Wohl, ein einzelnes Interesse im Sinne hat, deshalb ist kein Recht recht, oder auch alle Rechte: du sollst töten und du sollst nicht töten.

Der Unterschied zwischen guten und bösen, rechten und schlechten Bedürfnissen findet, wie Wahrheit und Irrtum, wie Vernunft und Unvernunft, seine Auflösung in dem Unterschiede des Besonderen und Allgemeinen. Die Ver­nunft vermag aus sich sowenig positive Rechte, absolut moralische Maximen zu entdecken wie irgendeine andere spekulative Wahrheit. Erst wenn ihr sinnliches Material gegeben ist, wird sie der Zahl nach das Allgemeine und Be­sondere, dem Grade nach das Wesentliche und Unwesent­liche zu ermessen wissen. Die Erkenntnis des Rechten oder Moralischen will, wie die Erkenntnis überhaupt, das All­gemeine. Aber das Allgemeine ist nur möglich innerhalb gesetzter Schranken, als das Allgemeine eines besonderen, gegebenen, sinnlichen Objekts. Wenn man irgendeine Maxime, irgendein Gesetz oder Recht, zu Recht „an sich“, zu Recht überhaupt oder im Allgemeinen macht, so ver­gißt man diese notwendige Beschränkung. Das Recht im allgemeinen ist zunächst ein leerer Begriff, der erst einen vagen Inhalt gewinnt, wenn er als Recht des Menschen im allgemeinen erfaßt wird. Die Moral, die Bestimmung des Rechten hat jedoch einen praktischen Zweck. Lassen wir nun das allgemein menschliche, das widerspruchslose Recht für moralisches Recht gelten, so wird notwendig der prak­tische Zweck verfehlt. Eine Tat oder Handlungsweise, welche allgemein, d. h. überall recht ist, empfiehlt sich selbst, bedarf deshalb keiner gesetzlichen Vorschrift. Nur das determinierte, bestimmten Personen, Klassen, Völkern, bestimmten Zeiten und Umständen angepaßte Gesetz hat praktischen Wert und ist um so praktischer, je begrenzter, bestimmter, präziser, je weniger allgemein es ist.

Das allgemeinste, weitest anerkannte Recht oder Be­dürfnis ist seiner Qualität nach nicht rechtlicher, nicht besser oder wertvoller als das kleinste Recht eines Augenblicks, als das momentane Bedürfnis einer Persönlichkeit. Ob wir auch die Sonne hunderte oder tausende Meilen groß wissen, sind wir dennoch frei, sie tellergroß zu sehen. Ob wir auch ein Gebot der Moral theoretisch oder im allgemeinen als gut und heilig anerkennen, sind wir doch in der Praxis frei, dasselbe momentan, stellenweise, individuell als schlecht und nichtsnutzig zu verwerfen. Auch das hehrste, heiligste allgemeinste Recht gilt nur innerhalb gesetzter Schranken, und innerhalb gesetzter Schranken ist auch das krasseste Unrecht gültiges Recht. Wohl besteht ein ewiger Unter­schied zwischen vermeintlichen und wahren Interessen, zwischen passion und raison, zwischen wesentlichen, domi­nierenden, allgemeinen, anzuerkennenden Bedürfnissen und Neigungen und zufälligen, untergeordneten, besonderen Gelüsten. Aber dieser Unterschied begründet keine zwei ge­trennten Welten, eine Welt des Guten und eine andere Welt des Bösen. Der Unterschied ist kein positiver, all­gemeiner, beständiger, absoluter, sondern gilt nur relativ. Er richtet sich, wie der Unterschied von schön und häß­lich, nach der Individualität desjenigen, der da unter­scheidet. Was hier ein wahres, gebotenes Bedürfnis, ist dort eine sekundäre, untergeordnete, verwerfliche Neigung.

Die Moral ist der summarische Inbegriff der verschiedensten einander widersprechenden sittlichen Gesetze, welche den ge­meinschaftlichen Zweck haben, die Handlungsweise des Menschen gegen sich und andere derart zu regeln, dass bei der Gegenwart auch die Zukunft, neben dem einen das andere, neben dem Individuum auch die Gattung bedacht sei. Der einzelne Mensch findet sich mangelhaft, unzulänglich, be­schränkt. Er bedarf zu seiner Ergänzung des andern, der Ge­sellschaft, und muss also, um zu leben, leben lassen. Die Rück­sichten, welche aus dieser gegenseitigen Bedürftigkeit hervor­gehen, sind es, was sich mit einem Wort Moral nennt.

Die Unzulänglichkeit des einzelnen, das Bedürfnis der Genossenschaft ist Grund oder Ursache der Berücksichtigung des Nächsten, der Moral. So notwendig nun der Träger dieses Bedürfnisses, so notwendig der Mensch immer indi­viduell ist, so notwendig ist auch das Bedürfnis ein indi­viduelles, bald mehr und bald minder intensiv. So not­wendig der Nächste verschieden ist, so notwendig sind die erforderlichen Rücksichten verschieden. Dem konkreten Menschen gehört eine konkrete Moral. So abstrakt und inhaltslos wie die allgemeine Menschheit, so abstrakt und inhaltslos ist auch die allgemeine Sittlichkeit, so unprak­tisch und erfolglos sind auch die ethischen Gesetze, welche man aus dieser vagen Idee abzuleiten sucht. Der Mensch ist eine lebendige Persönlichkeit, die ihr Heil und ihren Zweck in sich selbst, zwischen sich und der Welt das Be­dürfnis, das Interesse als Mittler hat, die keinem Gesetz, ohne Ausnahme, längeren und weiteren Gehorsam schuldet, als es diesem Interesse Untertan ist. Die moralische Pflicht und Schuldigkeit eines Individuums geht nie über sein Interesse hinaus. Was aber darüber hinausgeht, das ist die materielle Macht des Allgemeinen über das Besondere.

Bestimmen wir als Aufgabe der Vernunft die Ermittlung des moralisch Rechten, so kann ein einhelliges, wissenschaftliches Resultat erzielt werden unter der Bedingung, dass wir uns vorher über die Personen oder Verhältnisse, über die Grenzen einigen, innerhalb deren das allgemein Rechte zu bestimmen sei, dadurch also, dass wir keine Rechte an sich, sondern determinierte Rechte für be­stimmte Voraussetzungen suchen, dadurch, dass wir die Aufgabe präzisieren. Die widerspruchsvolle Bestimmung der Moral, die mißhellige Lösung beruht auf dem Miß­verständnis der Aufgabe. Ohne ein gegebenes Quantum der Sinnlichkeit, ohne begrenztes Material das Rechte suchen, ist ein Akt der Spekulation, welche überhaupt die Natur ohne Sinne erforschen zu können glaubt. In dem Be­gehr, aus puren Erkenntnisakten oder pur aus der Vernunft eine positive Bestimmung der Moral zu erlangen, mani­festiert sich der philosophische Glaube an Erkenntnisse a priori.

„Es ist wahr,“ sagt Macaulay in seiner Geschichte Eng­lands, wo er von dem Aufstande gegen die gesetzlose und grausame Regierung James II. redet, „die Grenze zwischen der gerechten und ungerechten Auflehnung ist unmöglich genau zu bestimmen. Diese Unmöglichkeit stammt aus der Natur des Unterschieds zwischen Recht und Unrecht und findet sich in allen Teilen der Ethik wieder. Die gute Hand­lung ist von der schlechten nicht so genau zu unterscheiden wie der Kreis vom Viereck. Es gibt eine Grenze, wo Tugend und Laster ineinander übergehen. Wer vermöchte wohl den Unterschied zwischen Mut und Verwegenheit, zwischen Vorsichtigkeit und Feigheit, zwischen Freigebigkeit und Verschwendung genau zu markieren? Wer ist fähig zu be­stimmen, wie weit die Gnade über das Verbrechen aus­zudehnen ist, wo sie aufhört den Namen der Gnade zu ver­dienen und zur verderblichen Schwachheit wird?“

Die Unmöglichkeit der genauen Bestimmung dieser Grenze ursacht nicht im Sinne Macaulays die Natur des Unterschieds zwischen Recht und Unrecht, sondern die be­fangene Anschauung, welche an ein unbegrenztes Recht, an positive Tugenden und Laster glaubt, welche sich nicht zu der Einsicht erhoben hat, dass gut und brav, recht und schlecht immer nur einer Relation des Subjekts, das ur­teilt, gilt und nicht dem Objekt an sich. Mut ist in den Augen des Vorsichtigen Verwegenheit und Vorsicht in den Augen des Mutigen Feigheit. Die Auflehnung gegen eine bestehende Regierung ist immer nur den Aufständischen gerecht, den Angegriffenen immer unrecht. Keine Hand­lung kann recht überhaupt, absolut recht oder unrecht sein.

Dieselben Eigenschaften des Menschen sind, je nach Be­dürfnis und Verwendung, je nach Zeit und Ort, bald gut, bald schlecht. Hier gilt Winkelzügigkeit, List und Ver­schlagenheit, dort Treue, Gradheit und Offenheit. Hier führt Barmherzigkeit und Milde, dort rücksichtslose, blutige Strenge zum Zweck und zur Wohlfahrt. Die Quan­tität, das mehr oder minder Heilsame einer menschlichen Eigenschaft bestimmt den Unterschied zwischen Tugend und Laster.

Nur insoweit die Vernunft das quantitative Rechtsein einer Eigenschaft, Vorschrift oder Handlung zu ermessen vermag, weiß sie Recht und Unrecht, Tugend und Laster zu scheiden. Kein kategorischer Imperativ, kein ethisches Soll begründet das wirkliche praktische Recht, umgekehrt findet die Ethik ihre Begründung in dem wirklichen sinn­lichen Rechtsem. Der Vernunft überhaupt ist Freimütig­keit keine bessere Charaktereigenschaft als Verschlagen­heit. Nur insofern die Freimütigkeit quantitativ, d. h. öfter, häufiger, allgemeiner, besser bekommt als Ver­schlagenheit, ist erstere vorziehbar. Daraus erhellt, dass eine Wissenschaft des Rechten nur insoweit der Praxis zum Leitfaden dienen kann, als andererseits die Praxis der Wissenschaft zur Voraussetzung gedient hat. Die Wissen­schaft kann die Praxis nicht weiter belehren, als sie erstlich von der Praxis belehrt worden ist. Die Vernunft kann die Handlungswelse des Menschen nicht im voraus bestimmen, weil sie die Wirklichkeit nur erfahren, nicht antizipieren kann, weil jeder Mensch, jede Situation neu, ursprünglich, original, nie dagewesen ist, weil sich die Möglichkeit der Vernunft auf das Urteil a posteriori beschränkt.

Das Recht im allgemeinen oder das Recht an sich ist ein Recht ins Blaue hinein, ist ein spekulativer Wunsch. Das wissenschaftlich allgemeine Recht bedarf gegebener, sinn­licher Voraussetzungen, auf deren Grund die Bestimmung des Allgemeinen statthat. Die Wissenschaft ist keine dog­matische Versicherung, die da sagen könnte: das oder das ist recht; weil es als recht erkannt wird. Die Wissenschaft bedarf zu ihren Erkenntnissen einen äußerlichen Grund. Sie kann das Rechte nur erkennen, sofern es recht ist. Sein ist Material, Voraussetzung, Bedingung, Grund der Wissen­schaft.

Aus dem Gesagten ergibt sich die Forderung, die Moral, statt spekulativ oder philosophisch induktiv oder wissen­schaftlich zu erforschen. Wir dürfen keine absolut, sondern nur relativ allgemeine Rechte zu kennen begehren, immer nur Rechte vorher bestimmter Voraussetzungen als mora­lische Aufgabe der Vernunft bestimmen. So löst sich der Glaube an eine sittliche Weltordnung in das Bewußtsein der menschlichen Freiheit auf. Die Erkenntnis der Ver­nunft, des Wissens oder der Wissenschaft schließt ein die Erkenntnis von der beschränkten Rechtsgültigkeit aller ethischen Maximen.

Was auf den Menschen den Eindruck des Heilvollen, Wertvollen, Göttlichen machte, stellte er im Tabernakel des Glaubens als das hochwürdigste Gut aus. Der Ägypter die Katze und der Christ die väterliche Vorsorge. So, als sein Bedürfnis ihn anfänglich zu Ordnung und Zucht an­führte, begeisterte die Wohltat des Gesetzes ihn zu einer solch hohen Meinung von der adligen Herkunft desselben, dass er das eigene Machwerk für göttliche Bescherung an­nahm. Die Erfindung der Mausfalle oder andere wohltätige Neuerungen verdrängten die Katze aus ihrer erhabenen Stellung. Wo der Mensch sein eigener Herr wird, sich selber Schutz und Schirm, wo er selbst vorsieht, wird jede andere Vorsehung unnütz, mit seiner Mündigkeit eine höhere Vor­mundschaft lästig. Der Mensch ist ein eifersüchtiger Mensch! Rücksichtslos subordiniert er jegliches seinen Interessen: Gott und Gebot! Mag sich nun eine Verordnung durch ihre treue Dienste eine noch so alte und wichtige Autorität erworben haben, neue, kontradiktorische Be­dürfnisse degradieren die göttliche Instruktion zur mensch­lichen Satzung, das alte Recht zum frischen Unrecht. Die Einschüchterung mittelst exemplarischer Strafe: Aug' um Auge, Zahn um Zahn, welche der Hebräer als den Schutz­herrn moralischen Wandels gesalbt und geehrt hatte, dem kündigte der Christ ganz frivol den Respekt. Er hatte den Segen der Friedfertigkeit kennen lernen, brachte die er­gebene Duldung ins heilige Land, besetzte den leeren Tabernakel mit der sanftmütigen Zumutung, auch die Linke noch hinzuhalten, wenn die Rechte Ohrfeigen satt­hat. Und in unserer, dem Namen nach wohl christlichen, jedoch der Tat nach höchst antichristlichen Zeit, ist die verehrte Duldung längst außer Praxis gekommen.

Wie jeder Glaube seinen besonderen Gott, so hat jede Zeit ihr besonderes Recht. Soweit bleiben Religion und Moral mit der Verehrung ihres Heiligtums in Ordnung; aber arrogant werden die Gesellen, weil sie sich breiter machen, als sie sind, weil sie, was zeitweise, was unter ge­wissen Umständen göttlich und recht, nun auch allen weiteren Verhältnissen als ein Unübertreffliches, Absolutes, Permanentes aufbürden möchten, weil sie mit dem heil­samen Remedium ihrer individuellen Krankheit die Scharlatanerie einer Universalmedizin treiben, weil sie übermütig ihre Herkunft vergessen. Ursprünglich diktiert ein individuelles Bedürfnis das Gesetz, und dann soll der allbedürftige Mensch auf dem schmalen Seil dieser Regel tanzen. Ursprünglich ist das wirklich Gute recht, und dann soll nur das gebotene Recht wirklich gut sein. Das ist das Unerträgliche: dem etablierten Gesetz ist es nicht genug, dieser Zeit, diesem Volke oder Lande, dieser Klasse oder Kaste recht zu sein; es will alle Welt dominieren, will Recht überhaupt sein, so als wenn eine Pille Medikament über­haupt sein wollte, gut für alles, gut für Durchfall und gut für Hartleibigkeit. Diese dünkelhaften Übergriffe heim­schicken, dem Hahn die Pfauenfeder ausrupfen, ist Sache des Fortschritts, welcher den Menschen über die erlaubte Grenze hinausleitet, ihm die Welt erweitert, seinen be­drängten Interessen die vorenthaltene Freiheit wieder­erobert. Die Übersiedlung von Palästina nach Europa, wo der verbotene Genuß des Schweinfleisches die schlimme Folge von Grind und Krätze nicht mehr nachzieht, erlöst unsere natürliche Freiheit von einer nunmehr sinnlosen, wenn auch ehemals göttlichen Beschränkung. Doch reißt der Fortschritt einem Gott oder Recht nicht die Tressen ab, um sie anderen anzuhängen: das wäre Tausch, kein Akquisit. Die Entwicklung verweist die überlieferten Heiligen nicht des Landes; sie drängt sie nur zurück von dem usurpierten Boden des Allgemeinen in ihr besonderes Gehege. Das Kind hebt sie auf und schüttet dann das Bad aus. Weil die Katze den Heiligenschein verloren, weil sie aufhört Gott zu sein, hört sie noch nicht auf zu mausen, und wenn auch die jü­dischen Gebote zeitbestimmter Reinigung längst ver­schollen, blieb doch die Sauberkeit immer noch in ver­dienter Achtung. Nur einer ökonomischen Verwaltung des alten Erwerbs verdanken wir den gegenwärtigen Reichtum der Zivilisation. Die Entwicklung ist ebensoviel konservativ als revolutionär und findet in jedem Gesetz soviel Unrecht als Recht.

Zwar spüren die Gläubigen der Pflicht Differenz zwischen moralischem und gesetzlichem Recht; doch läßt ihre inter­essierte Befangenheit sie nicht zu der Einsicht, dass jedes Gesetz ursprünglich moralisch und jede bestimmte Moral im Verlauf der Entwicklung zum bloßen Gesetz herab­sinkt. Ihr Verständnis erreicht andere Zeiten und andere Klassen, nur nicht die eigenen. In den Gesetzen der Chinesen und Lappländer erkennt man chinesische und lappländische Bedürfnisse. Doch weit erhabener ist das Reglement des bürgerlichen Lebens! Unsere heutigen Einrichtungen und Moralbegriffe sind entweder ewige Natur- und Vernunft­wahrheiten oder permanente Orakelsprüche eines reinen Gewissens. Als wenn nicht der Barbar auch eine barbarische Vernunft; als wenn nicht der Türke ein türkisch, der Hebräer ein hebräisch Gewissen hätte; als wenn sich der Mensch nach dem Gewissen richten könnte, da sich doch umgekehrt das Gewissen nach dem Menschen richtet!

Wer die Bestimmung des Menschen beschränkt auf das Gott lieben und dienen, um später ewig selig zu werden, mag die überkommenen Vorschriften seiner Moral gläubig als Autorität anerkennen und demnach wandeln. Wem da­gegen die Entwicklung, die Bildung, die irdische Seligkeit des Menschen Zweck ist, wird die Frage nach dem Titel dieser Superiorität keineswegs müßig finden. Das Bewußt­sein individueller Freiheit schafft erst die zum beherzten Fortschritt nötige Rücksichtslosigkeit gegen andermanns Regel, erlöst uns von dem Streben nach einem illusorischen Ideal, einer besten Welt überhaupt und gibt uns den be­stimmten praktischen Interessen unserer Zeit oder Indi­vidualität zurück. Zugleich aber söhnt es uns aus mit der bestehenden wirklichen Welt, welche wir nun nicht mehr betrachten als verfehlte Realisation dessen, was sein soll, sondern als Ordnung dessen, was sein kann. Die Welt ist immer recht. Was da ist, soll sein und soll nicht eher anders sein, bis es anders wird. Wo die Wirklichkeit, die Macht, ist per se auch das Recht, d. h. die Formulierung des Rechten. Der Ohnmacht bleibt in Wirklichkeit kein weiteres Recht, als erst die Übermacht zu erstreben, um dann ihrem Be­dürfnis die verweigerte Geltung zu schaffen. So wie uns das Verständnis der Geschichte die Religionen, Sitten, Ein­richtungen und Anschauungen der Vergangenheit nicht nur von der negativen, lächerlichen, verbrauchten, sondern auch von der positiven, vernünftigen, notwendigen Seite zeigt, welche uns z. R. die Vergötterung der Tiere als be­geisterte Anerkennung ihrer Nützlichkeit verstehen lernt; so zeigt uns das Verständnis der Gegenwart die bestehende Ordnung der Dinge nicht allein in ihrer Unzulänglichkeit, sondern auch als vernünftige, notwendige Konklusion vor­hergegangener Prämissen.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2007