N. Bucharin

Die politische Ökonomie des Rentners

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Schluß

Betrachten wir das gesamte Böhm-Bawerksche „System“ und versuchen wir dann, das spezifische Gewicht seiner einzelnen Teile festzustellen, so zeigt sich, daß seine Werttheorie die Basis für die Profittheorie bildet. Die Werttheorie dient hier also zum bloßen Behelf. Dies gilt nicht nur für Böhm-Bawerk. Die Theorie der „Zurechnung“ bei Wieser dient ihm zur Ableitung des Anteils des Kapitals, der Arbeit und des Grund und Bodens, woraus dann durch Unterstellung der Begriffe die Anteile der Kapitalisten, Arbeiter und Grundeigentümer abgeleitet werden, als ob diese „natürliche“ Größen wären, die mit der sozialen Ausbeutung des Proletariats nichts zu tun hätten. Dasselbe begegnet uns ferner auch bei Clark, der der hervorragendste Vertreter der amerikanischen Schule ist. Ueberall ein und dasselbe Motiv: die Werttheorie als theoretisches Beginnen, die moderne Gesellschaftsordnung zu rechtfertigen; darin liegt der „gesellschaftliche Wert“ der Grenznutzentheorie für diejenigen Klassen, die ein Interesse haben, diese Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Und je weniger begründet diese Theorie von der logischen Seite ist, desto stärker bindet man sich an sie psychologisch, da man nicht den bornierten Gesichtskreis verlassen will, dessen Grenzen durch die Statik des Kapitalismus gesteckt sind. Für den Marxismus ist dagegen vor allem der weite Gesichtskreis charakteristisch, der die Basis für seinen ganzen Aufbau bildet, der dynamische Gesichtspunkt, von dem aus der Kapitalismus nur als eine Phase der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet wird. Die marxistische politische Oekonomie bedient sich sogar des Wertgesetzes als eines Erkenntnismittels zur Enthüllung der Bewegungsgesetze des gesamten kapitalistischen Mechanismus. Der Umstand, daß die Preiskategorie, zu deren Erklärung vor allem es der Werttheorie bedarf, eine allgemeine Kategorie der Warenwelt bildet, macht noch keinesfalls aus der politischen Oekonomie als solcher eine „Chrematistik“, – gerade umgekehrt: die Analyse der Tauschverhältnisse führt bei einer richtigen Stellung des Problems über die Grenzen des Tausches hinaus. Vom Standpunkt des Marxismus aus ist der Tausch selbst nur eine der geschichtlich vorübergehenden Formen der Güter Verteilung. Da aber jede Verteilungsform einen bestimmten Platz im Reproduktionsprozeß der ihr entsprechenden Produktionsverhältnisse einnimmt, so ist es klar, daß nur bei dem beschränkten Gesichtskreis, der allen Richtungen des bourgeoisen theoretischen Denkens eigen ist, man bei den Marktbeziehungen stehen bleiben oder den vorhandenen „Gütervorrat“ zur Basis der Betrachtungen machen kann. Weder diejenigen, die sich auf die Analyse der sich auf dem Markte bewegenden „richesses venales“ beschränken, noch die, welche ihr Augenmerk auf das Verhältnis zwischen dem im voraus gegebenen Konsumtionsding, dem „Gute“, und dem wirtschaftenden Individuum richten, können die funktionelle Rolle des Tausches begreifen, als einer notwendigen gesetzmäßigen Erscheinung, die einer Gesellschaft von Warenerzeugern immanent zukommt. Und doch ist es klar, wie die richtige Problemstellung sein muß:

„In dem Vollzug aller in dieser (d. h. der Waren produzierenden. N. B.) Gesellschaft möglichen Tauschakte muß sich das durchsetzen, was in einer kommunistischen, bewußt geregelten Gesellschaft mit Bewußtsein durch das gesellschaftliche Zentralorgan bestimmt wird: Was und wieviel produziert wird, wo und von wem produziert wird. Kurz, der Austausch muß den Warenproduzenten dasselbe mitteilen, was den Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft ihre Behörden, die mit Bewußtsein die Produktion regeln, die Arbeitsordnung bestimmen usw. Die Aufgabe der theoretischen Oekonomie ist es, das Gesetz des so bestimmten Austausches zu finden. Aus diesem Gesetz muß ebenso die Regelung der Produktion in den warenproduzierenden Gesellschaften hervorgehen, wie aus den Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften sozialistischer Behörden der ungestörte Ablauf sozialistischer Wirtschaft. Nur daß dieses Gesetz nicht direkt mit Bewußtsein menschliches Verhalten in der Produktion vorschreibt, sondern nach Art eines Naturgesetzes wirkt mit sozialer Naturnotwendigkeit.“ [1]

Mit anderen Worten: Als Untersuchungsobjekt ist uns eine anarchisch aufgebaute Gesellschaft von Warenproduzenten gegeben, die sich entwickelt und wächst, d. h. es ist ein bestimmtes subjektives System gegeben, das unter den Bedingungen des dynamischen Gleichgewichts steht. Es fragt sich, wie dieses Gleichgewicht unter diesen Bedingungen möglich ist. Eine Antwort darauf gibt die Arbeitswerttheorie.

Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ist nur beim Wachstum ihrer Produktivkräfte möglich, d. h. der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit. [2] In der Warenwirtschaft muß diese Grundtatsache ihren Ausdruck auf der Oberfläche der Erscheinungen finden, d. h. auf dem Warenmarkt. Es ist eine empirische Tatsache, die die Basis der Arbeitswerttheorie bildet, daß mit dem Wachstum der Arbeitsproduktivität auch die Preise sinken. Andererseits rufen gerade die Preisschwankungen in der gesellschaftlichen Warenwirtschaft die Neuverteilung der Produktivkräfte hervor. Und so hängen die Erscheinungen des Marktes mit denen der Reproduktion zusammen, d. h. der Dynamik des ganzen kapitalistischen Mechanismus in seinem gesellschaftlichen Maßstab.

Ist ein Zusammenhang zwischen der Grunderscheinung, nämlich der Entwicklung der Produktivkräfte, und den sich objektiv bildenden Preisen gegeben, so entsteht die Frage über das Charakteristikum dieses Zusammenhanges. Bei näherer Analyse erweist es sich, daß dieser Zusammenhang sehr verwickelter Natur ist. Der dritte Band des Marxschen Kapitals beschäftigt sich eben mit der Frage über die Art dieses Zusammenhangs.

Und so tritt das Wertgesetz hier als ein objektives Gesetz auf, das den Zusammenhang zwischen verschiedenen Reihen der gesellschaftlichen Erscheinungen ausdrückt. Es gibt deshalb nichts Widersinnigeres, als wenn man die Marxsche Theorie zu einer „ethischen“ stempelt. Die Marxsche Theorie kennt keine andere Gesetzmäßigkeit als die kausale und kann auch keine andere kennen. Die Werttheorie enthüllt diese kausalen Beziehungen, die nicht nur die Gesetzmäßigkeiten des Marktes ausdrücken, sondern des ganzen sich bewegenden Systems in seiner Totalität.

Ebenso steht es auch mit der Frage der Verteilung. Der Verteilungsprozeß verläuft in Wertformulierungen. Das „soziale“ Verhältnis zwischen dem Kapitalisten und dem Arbeiter äußert sich in einer „ökonomischen“ Formel, denn die Arbeitskraft wird zur Ware; nachdem sie aber einmal zur Ware geworden und in den Kreislauf der Warenzirkulation geraten ist, fällt sie schon dadurch allein unter das elementare Gesetz des Preises und Werts. Ebenso wenig wie auf dem Gebiete der Warenzirkulation überhaupt das kapitalistische System ohne die regulierende Wirkung des Wertgesetzes bestehen könnte, ebenso wenig könnte das Kapital seine eigene Herrschaft reproduzieren, bestünden nicht Gesetze, die der Reproduktion der Arbeitskraft als solche immanent sind. Doch insofern die aufgewendete Arbeitskraft mehr gesellschaftliche Arbeitsenergie entwickelt, als es zu deren gesellschaftlicher Reproduktion notwendig ist, insofern besteht auch die Möglichkeit des Mehrwertes, der durch die Gesetze der Warenzirkulation fortwährend an die Käufer der Arbeitskraft geschoben wird, d. h. an die Besitzer der Produktionsmittel. Die Entwicklung der Produktivkräfte, die sich in der kapitalistischen Gesellschaft durch den Mechanismus des Wettbewerbes vollzieht, nimmt hierin die Form der Anhäufung von Kapitalien an, wovon dann auch die Bewegung der Arbeitskraft abhängt; dabei wird die Entwicklung der Produktivkräfte beständig von der Verdrängung und dem Absterben von ganzen Produktionsgruppen begleitet, in denen der individuelle Arbeitswert der Waren ihren gesellschaftlichen Arbeitswert übersteigt.

So ist das Wertgesetz das Grundgesetz des sich bewegenden kapitalistischen Systems. Es ist selbstverständlich, daß es unter fortwährenden „Störungen“ in Erscheinung tritt, bildet es doch den Ausfluß der widerspruchsvollen Natur der kapitalistischen Gesellschaft. Es ist selbstverständlich, daß die widerspruchsvolle Struktur der kapitalistischen Gesellschaft, die zu ihrem unvermeidlichen Krach führt, letzten Endes auch das „normale“ kapitalistische Gesetz, das Wertgesetz, zum Scheitern bringen wird. [3] In der neuen Gesellschaft wird aber der Wert seinen Fetischcharakter verlieren, er wird nicht mehr das blinde Gesetz der subjektlosen Gesellschaft sein, d. h. er wird aufhören, Wert zu sein.

Soweit die allgemeinen Umrisse der Marxschen Theorie, der politischen Oekonomie des Proletariats. Sie leitet die „Bewegungsgesetze“ der spezifischen gesellschaftlichen Struktur ab, aber das ist eine wirkliche Ableitung.

Aber gerade deshalb, weil der Marxismus über die beschränkten Rahmen des bourgeoisen Gesichtskreises hinaus geht, wird er immer mehr der] Bourgeoisie verhaßt. Die gesellschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften – und ganz besonders in der Theorie der Oekonomie – ist keineswegs gestiegen; im Gegenteil, es macht sich eine immer schärfere Differenzierung bemerkbar. Die bürgerliche Oekonomie kann gegenwärtig nur insoweit fortschreiten, als sie den Rahmen einer rein beschreibenden Wissenschaft nicht verläßt. Hierin vermag sie zu verrichten und verrichtet auch eine gesellschaftlich nützliche Arbeit. Natürlich darf man nicht alles, was auf diesem Gebiete geleistet wurde, auf guten Glauben annehmen. Denn jede, sogar die „reinste“ Beschreibung, geschieht von einem gewissen Standpunkt aus: Die Wahl des Materials, das Hervorheben des einen und das ungenügende Beachten des anderen Momentes usw., all dies wird von den sogenannten „allgemeinen Ansichten“ der betreffenden Autoren bestimmt. Dennoch ist es bei einer kritischen Stellung möglich, aus diesen Arbeiten reiches Material zu gewinnen, um Folgerungen zu machen. Was dagegen die eigentliche Theorie anbelangt, so sahen wir am Beispiele Böhm-Bawerks, daß sie eine Wüste ist. Folgt nun aber daraus, daß die Marxisten dieses Gebiet durchaus unbeachtet lassen sollen? Keineswegs. Denn der Entwicklungsprozeß der proletarischen Ideologie ist ein Kampfprozeß. Ebenso wie auf dem ökonomischen und politischen Gebiete das Proletariat in ununterbrochenem Kampfe gegen die ihm feindlichen Elemente vorwärts schreitet, ebenso verhält es sich auch auf den höheren Stufen der Ideologie. Diese letztere fällt nicht vom Himmel als ein in allen seinen Teilen fertiges System, sondern wird in schwerem, qualvollem Entwicklungsprozeß gewonnen. Durch Kritik der feindlichen Ansichten wehren wir nicht nur direkt die feindlichen Ueberfälle ab, sondern schärfen auch unsere eigenen Waffen: Das gegnerische System kritisieren, heißt vor allem sein eigenes durchdenken. Auch aus einem anderen Grunde ist es notwendig, die bürgerliche Oekonomie aufmerksam zu studieren. Für den ideologischen Kampf gilt dieselbe Regel wie für jeden direkten praktischen Kampf: Man muß alle Gegensätze der Feinde, alle Unstimmigkeiten zwischen ihnen ausnutzen. Die Sache liegt nämlich so, daß trotz der Einheit des Zieles – der Apologie des Kapitalismus – unter den bourgeoisen Gelehrten bis auf den heutigen Tag eine große Verschiedenheit in den Ansichten besteht. Während auf dem Gebiete der Werttheorie eine gewisse Einheit auf den von der österreichischen Schule geschaffenen Grundlagen erreicht wurde, stellt hinsichtlich der Distritution fast jeder Theoretiker seine eigene Theorie auf und beruft sich dabei auf die „allgemein gültige“ Werttheorie. Dies beweist aber wiederum nur, wie schwer – rein logisch genommen – die gestellte Aufgabe ist und welche „Gedankenarbeit“ sie von den modernen Scholastikern verlangt. Doch erleichtert dieser Umstand zugleich beträchtlich die Aufgabe der Kritik und gestattet die allgemeinen logischen Fehlgriffe und die sonstigen schwachen Stellen des Gegners aufzudecken. Und so fördert die Kritik der bourgeoisen Oekonomie die Entwicklung der eigenen ökonomischen Wissenschaft des Proletariats. Die bourgeoise Wissenschaft hat nunmehr aufgehört, die Erkenntnis der sozialen Verhältnisse zu ihrem Ziele zu machen. Sie beschäftigt sich nur mit deren Apologie. Das wissenschaftliche Kampffeld behauptet allein der Marxismus, der sich nicht scheut, die gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze zu analysieren, auch wenn sie die gegenwärtige Gesellschaft dem unvermeidlichen Untergang zuführen. In diesem Sinne war und bleibt der Marxismus die theoretische rote Fahne, des Banner, um das sich alle sammeln, die den Mut haben, dem herannahenden Gewitter kühn entgegen zu schauen.

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Fußnoten

1. R. Hilferding: Das Finanzkapital, S. 2 u. 3.

2. Ein alter und fast ganz unbekannter Oekonomist, N. F. Canard, formulierte diesen marxistischen Gedanken treffend, nicht schlechter jedenfalls als der viel gepriesene Rodbertus; siehe sein: Principes d’économie politique, Paris, an X (1801). In diesem von der Akademie preisgekrönten Werk schreibt Canard:

„Ainsi ce n’est qu’ä son activité et à son travail qu’il doit cette grande différence qui sépare l’homme civilisé de l’homme naturel ou du sauvage“ (S. 3). „Il faut donc distinguer dans l’homme le travail nécessaire à sa Conservation, et le travail superflu“ (S. 4). „Ce n’est qu’en amassant une quantité de travail superflu, que l’homme a pu sortir de l’état sauvage, et se créer successivement tous les arts, toutes les machines et tous les moyens de multiplier le produit du travail en le simplifiant“ (S. 5).

3. Der Krach des Kapitalismus, der in Rußland bereits eingetreten ist und in ganz Europa beginnt, drängt jetzt die materiell stoffliche Form des Produktes in den Vordergrund und schiebt das Produkt als Wert in den Hintergrund. Dies ist aber eben vom Standpunkte des Kapitalismus aus der Ausdruck der „Abnormität“ der Lage.


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2020