Julian Borchart

Das Kapital: Zur Kritik der politischen Ökonomie
von Karl Marx

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Anhang
Das Wesen der Marxschen
Krisentheorie [1]

Von Julian Borchardt

Bei dem großen Gegensatz zwischen bürgerlicher und sozialistischer Wirtschaftslehre gehen die Meinungen über so ziemlich alles, was die Krise anbetrifft, weit auseinander. Doch dürfte wohl dafür allgemeine Zustimmung angenommen werden dürfen, dass die Krise eine schwere Störung des Gleichgewichts zwischen Produktion und Konsum ist.

„Als wirtschaftliches Ideal,“ schreibt Paul Mombert [2], „muss ein Zustand erscheinen, bei dem sich auf dem Warenmärkte Angebot und Nachfrage die Wagschale halten, wo also ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsum besteht, wo die erzeugten Gütermengen ebenso sehr ungestörten Absatz finden, als auch die Nachfrage nach Gütern ohne weiteres befriedigt werden kann.“

In der Tat wird heutzutage die Verbindung des Produzenten mit dem Konsumenten durch so viele dazwischengeschobene und oft sehr komplizierte Faktoren vermittelt, dass man nur zu leicht die einfache Grundwahrheit vergisst: die Produktion ist für den Konsum da; die Güter werden für den Zweck hergestellt, das Bedürfnis zu befriedigen. Folglich muss, der Natur der Sache nach, ein Gleichgewicht angestrebt werden; das heißt, es muss möglichst von jedem Bedarfsartikel gerade so viel produziert werden, wie die Konsumenten brauchen, nicht mehr und nicht weniger. Geschieht das nicht, werden entweder zu viel oder zu wenig Güter hergestellt, oder überhaupt andere als gebraucht werden, dann tritt eine Störung ein, die sich je nach dem Umfang, den sie annimmt, bemerkbar machen muss. Und es bedarf nicht einmal einer besonderen nationalökonomischen Schulung, um wahrzunehmen, dass zu Zeiten der Krise auf der einen Seite massenhaft unverkäufliche Waren aufgestapelt liegen, während zugleich auf der anderen Seite, bei der Masse der Konsumenten, Mangel herrscht. Freilich ist damit noch nicht ohne weiteres gesagt, dass die Störung bei den Produzenten oder bei den Konsumenten selbst liegen muss. Es können sehr wohl die produzierten Waren in Quantität wie Qualität den Bedürfnissen des Konsums entsprechen; aber der ungemein komplizierte Apparat, der heutzutage die Waren vom Produzenten zum Konsumenten hinüberführt, kann gestört sein, so dass auf der einen Seite dieselben Waren unverkäuflich liegen bleiben, die auf der anderen Seite dringend gebraucht werden. Jedenfalls bleibt es dabei, dass in der Störung des Gleichgewichts zwischen Produktion und Konsum, auf welchen Ursachen sie auch beruhen mag, die Krise besteht.

Es fragt sich, ob das immer so gewesen ist, oder ob es Zeiten gegeben hat, wo keine solche Störung vorhanden, vielleicht nicht einmal möglich gewesen ist. Genau können wir das nicht wissen, weil nämlich unsere Kenntnis des Wirtschaftslebens der Völker in ihrer Urzeit weit geringer ist, als man nach mancher üppigen Schilderung annehmen möchte. Jedoch liegt allerdings die Vermutung nahe, dass in kleinen Horden wilder Völkerschaften, die überhaupt nur das unmittelbare Bedürfnis befriedigen wollten, nicht leicht mehr oder weniger produziert worden sein kann, als dazu nötig war. Nehmen wir zum Beispiel die alten Deutschen im Zeitalter des Augustus und Herrmann, so schreibt über sie Steinhaufen (Germanische Kultur in der Urzeit, S. 144 ff.):

„Wie bei allen Naturvölkern, besteht für die Arbeit nur ein Motiv, das zwingende Bedürfnis, der Mangel. Eine regelmäßige Arbeit gibt es nicht ... Als Arbeit wird die zunächst aus der Nahrungssuche, aus Unterkunfts- und anderem Bedürfnis hervorgehende Tätigkeit auch nur bis zu einem gewissen Grade empfunden ... Jeder Haushalt beschafft und produziert alles Nötige selbst.“

Man stelle sich einen solchen ganz primitiven germanischen Stamm vor, vielleicht nur ein paar Dutzend Köpfe stark, der in der Wildnis umherschweift, Tiere jagt, Wurzeln und Früchte sucht, andere Stämme beraubt, so ist der Gedanke, dass diese Menschen mehr oder weniger „produzieren“ als sie unmittelbar brauchen, schlechthin abzuweisen.

Aber auch noch auf weit höherer Kulturstufe ist er schwerlich denkbar, solange die sogenannte „Eigenproduktion“ herrscht, das heißt die Produktion für den eigenen Bedarf. Sie hat nicht immer die primitiven Formen behalten, die wir eben erwähnten. Es entstand eine geregelte Wirtschaft, geregelte Tätigkeit. Aber man stelle sich selbst einen Stamm von ein paar hundert, ja sogar von ein paar tausend Köpfen vor, der neben Jagd und Krieg regelmäßige Viehzucht und regelmäßigen Ackerbau betreibt, so sind doch, solange „jeder Haushalt alles Nötige selbst beschafft und produziert“, die Bedürfnisse jedes Einzelnen ganz genau bekannt. Und der Zusammenhang, dass nämlich die gesamte produktive Tätigkeit nur diese bekannten Bedürfnisse befriedigen soll, liegt klar zutage. Dasselbe gilt auch für die Gemeinwirtschaft von Stämmen solcher geringen Größe. Natürlich kann auch dort „Überproduktion“ eintreten, infolge außergewöhnlich guter Ernte oder infolge überreicher Beute im Feldzug. Aber eine Schwierigkeit, die überschießenden Produkte an den Mann zu bringen, dürfte in solchen Fällen wohl kaum verspürt worden sein. Und so werden wir in der Tat annehmen dürfen, dass in all den langen Jahrhunderten der „Eigenproduktion“, das heißt der Produktion für den eigenen Bedarf, das Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsum sich von selbst ergeben haben muss, weil die Produktion sich lediglich nach dem Bedürfnis des Konsums richtete.

Jedoch das Zeitalter der Eigenproduktion, wie lange es auch gedauert haben mag, ging vorüber. Die immerfort steigende Masse der Bevölkerung und ihrer Bedürfnisse erzwang die Teilung der Arbeit und damit die Warenproduktion.

Stellen wir uns den Zustand des frühen oder des späteren Mittelalters vor, wo der Städtebewohner zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend von seinem Handwerk lebte. Sie waren ja insgesamt Ackerbürger, diese Bewohner der mittelalterlichen Städte. Innerhalb der Stadtmauern oder auch draußen besaßen sie ihre Äcker und Wiesen und ließen sie ihre Herden weiden. Aber daneben betrieben sie das Handwerk und zogen aus ihm einen immer größeren Teil ihrer Nahrung. Wenn nun ein Schuhmacher immerfort Schuhe, ein Schneider Gewänder, ein Weber Tuche anfertigte, so verstand es sich von selbst, dass er damit nicht seinen eigenen Bedarf, sondern den Bedarf anderer Leute befriedigen wollte. Die fertiggestellten Produkte mussten verkauft werden und waren auch von vornherein für den Verkauf bestimmt. Man produzierte Waren.

Damit ist die Möglichkeit der Gleichgewichtsstörung gegeben. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Produktion und Konsum ist zerrissen. Denn es ist wohl zu beachten, dass der Verkauf eigener Produkte (ausländische Produkte wurden schon seit Urzeiten von fremden Händlern ins Land gebracht und verkauft), wenigstens bei den Deutschen, unmittelbar nicht aus den Bedürfnissen des Konsums, sondern aus der anschwellenden Produktion entstand. Die große Grundherrschaft, in den Zeiten des fränkischen Königtums (ungefähr 500–900) entstanden, vereinigte auf einem großen Besitztum unter dem Kommando eines Herrn beträchtliche Menschenmengen und hatte zur planmäßigen Bebauung des großen Landbesitzes eine Organisation der Arbeit geschaffen, ein weitverzweigtes Netz von Beamten, Kriegsleuten, Verwaltern, Bauern und Handwerkern. Hier also war das Handwerk entstanden und nur hier konnte es entstehen; auf einem kleinen Bauernhof, wo vielleicht noch kein Dutzend Personen beisammen wohnten, konnte niemand auf den Gedanken verfallen, sich ausschließlich zum Beispiel mit der Verfertigung der Kleider für diese wenigen Menschen zu beschäftigen; er hätte nicht Arbeit genug gehabt, seine Zeit auszufüllen. Aber auf dem Herrenhof, wo es galt, Hunderte von Menschen mit Kleidung, Nahrung usw. zu versorgen, da feilte' man zuerst die Arbeit in der Weise, dass der eine nur Kleider, der andere nur Geräte herstellte.

Gerade diese Teilung der Arbeit war es nun, die die Produktivität immer mehr steigerte: es wurde immer mehr fertig, die die Produktion schließlich die Bedürfnisse des Herrenhofs selbst und seiner Leute überstieg. Diese überschießenden Produkte waren es, die man zu verkaufen anfing, und es ist sehr interessant, in der deutschen Geschichte zu verfolgen, wie die Entwicklung des Handels allmählich die Handwerker vom Gutshof lostrennte, zur Ansiedlung an den Marktplätzen, zur Gründung und zum Ausbau der Städte führte.

Von Handelskrisen, das heißt von schweren Störungen des Gleichgewichts zwischen Konsum und Produktion ist uns gleichwohl aus den Jahrhunderten des Mittelalters nichts bekannt. Oder wenigstens nur von solchen, die aus äußeren Ursachen, besonders aus Kriegsnöten entstanden, und ihren Grund darin hatten, dass die Produktion hinter dem Konsum zurückblieb. Aber nicht von solchen, die wie heutzutage von innen herausbrachen und aus „Überproduktion“ erwuchsen. Das ist auch erklärlich. Der primitive Handwerker im frühen Mittelalter arbeitete nur für seine nächste Nachbarschaft. Deren Bedarf aber kannte er genau und wusste ihn im Voraus abzuschätzen und sich mit seiner Produktion darauf einzurichten. Der Schuhmacher zum Beispiel fertigte zunächst nur solche Stiefel an, die bei ihm bestellt waren oder von denen er sonst genau wusste, dass sie alsbald gekauft werden mussten. Dazu kam die Organisation der Kaufmannsgilden und HandwerKszünfte, die das vorhandene Absatzgebiet genau verteilten. Freilich blieb es nicht bei so primitiven Zuständen. Verkehr und Handel dehnten sich aus von Ort zu Ort, sogar von Land zu Land. Selbstverständlich wuchs mit jedem solchen Fortschritt die Möglichkeit von Störungen. Der Bedarf an einem fernen Ort oder gar in einem andern Lande ließ sich nicht mit solcher Sicherheit voraussehen, ihm konnte man die Produktion nicht mit solcher Leichtigkeit anpassen, wie dem Bedarf der nächsten Nachbarschaft. Dennoch waren die Zusammenhänge immer noch einfach, klar, übersehbar; von ernstlichen Störungen ist uns, wie gesagt, nichts bekannt.

Halten wir also fest: in den Zeitaltern der Eigenproduktion war das Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsum sozusagen selbstverständlich; die Bedürfnisse des Konsums bestimmten die Produktion. Eben diese Bedürfnisse erforderten alsdann die Arbeitsteilung und erzeugten damit die Möglichkeit einer Störung jenes Gleichgewichts. Die störenden Momente waren aber notwendig, um jene Kräfte zu erzeugen, welche das erhöhte Bedürfnis zu befriedigen vermögen.

Von der einfachen Warenproduktion geht die Entwicklung hinüber in die Frühzeit des Kapitalismus. Was unterscheidet den Kapitalismus von der einfachen Warenproduktion? Äußerlich die Unselbständigkeit des eigentlichen Produzenten. Der Handwerker ist sein eigener Herr, der für eigene Rechnung arbeitet, der Lohnarbeiter steht im Dienst des Kapitalisten. Innerlich aber und wesentlicher liegt der Unterschied in der weitergetriebenen Organisation der Arbeit. Soweit der Handwerker des Mittelalters sich von Gesellen und Lehrlingen unterstützen lässt, darf er nie vergessen, dass er sie im Handwerk ausbilden soll, dass also jeder von ihnen all das lernen muss, was es im Handwerk zu tun gibt. Der Kapitalist dagegen vereinigt von vornherein in seiner WerKstatt eine größere Anzahl von Arbeitern zu dem Zweck, möglichst viel Produkte fertig zu bringen. Die Ausbildung des einzelnen interessiert ihn nur so weit, wie sie die Gesamtheit instand setzt, mehr zu produzieren. Für diesen Zweck jedoch erweist es sich bald als vorteilhafter, den Einzelnen nicht allseitig auszubilden, sondern ihm eine bestimmte Teiloperation zuzuweisen, in der er sich intensiver einarbeiten kann, und dann durch planmäßiges Zusammenwirken aller die Produktion zu steigern. So entsteht die Manufaktur.

Durch dieses planmäßige Ineinandergreifen kommt aber ein ganz neues Moment in die Produktion, das vorher nicht vorhanden war. Das Quantum Produkte nämlich, das fertig werden muss, wird jetzt überhaupt nicht mehr vom Konsum allein bestimmt, sondern hängt zugleich auch von den Notwendigkeiten der Produktion selbst ab. Ein Beispiel: In einer Typenmanufaktur jener Zeit konnte ein Gießer in einer Stunde 2000 Typen gießen, ein Abbrecher aber konnte 4.000 abbrechen, ein Frottierer 8.000 blankreiben. (Vgl. Marx, Kapital, Bd. 1, Kap. 12, 3.) Es musste folglich immer eine Kolonne zusammenarbeiten, bestehend aus einem Frottierer, zwei Abbrechern und vier Gießern. Dieses Zusammenarbeiten, dieses Aufeinanderangewiesensein bedingt nun aber auch, dass sie 8.000 Typen pro Stunde Herstellen, und nicht weniger; denn sonst würde ein Teil von ihnen nicht voll beschäftigt sein. Nehmen wir an, sie hätten nur 6.000 herzustellen, so könnte man einen Gießer entlassen, aber den Frottierer sowie die beiden Abbrecher müsste man behalten, obgleich sie einen Teil ihrer Zeit vertrödeln und so den Kapitalisten schädigen würden. Daraus folgt, dass der Kapitalist dafür sorgen muss, einen Absatz von 8.000 Typen pro Stunde zu finden, sonst kann er den vorhandenen Produktionsapparat, der ihm Geld kostet und sich nicht verringern lässt, nicht voll ausnutzen.

Wir sehen, wie sich der Zusammenhang zwischen Produktion und Konsum immer weiter auflöst. Schon in jener Frühzeit des Kapitalismus, von der wir hier reden, sind die Kapitalisten gezwungen, das Quantum ihrer Produktion zu steigern ohne RücKsicht auf die Bedürfnisse des Konsums. Die Produktion hat sozusagen ihren Zweck in sich selbst. Ursprünglich war es selbstverständlich das wachsende Bedürfnis des Konsums, das zur Steigerung der Produktion antrieb. Ihm zu genügen, sind die neuen Produktionseinrichtungen geschaffen worden. Nun sie einmal da sind, haben sie ihr selbständiges Leben und müssen funktionieren, ganz gleichgültig, ob sie die Bedürfnisse des Konsums nur befriedigen oder übersteigen.

Damit ist zum ersten Mal die Möglichkeit der Überproduktion gegeben. Überproduktion hier in dem Sinne, den das Wort eigentlich und vernünftigerweise haben sollte, nämlich Produktion über die Bedürfnisse des Konsums hinaus. Die Bande, die die Produktion an den Konsum knüpften, sind jetzt vollständig zerrissen, das Gleichgewicht gerät vollkommen ins Schwanken. Man beachte jedoch wiederum, dass diese Entwicklung durchaus notwendig war, um jene Kräfte zu erzeugen, welche das erhöhte Bedürfnis zu befriedigen vermögen.

In der Ära des modernen Großkapitalismus sind die Tendenzen der Störung, die wir so aus den Notwendigkeiten der Produktion und des Konsums erwachsen sahen, voll entfaltet und auf die Spitze getrieben. Von Gleichgewicht kann hier keine Rede mehr sein. Einmal sind die Produktionsapparate viel gewaltiger, die Warenmassen, die sie produzieren, ungeheuer und deshalb noch viel weniger, als im Zeitalter der Manufaktur, imstande, sich den Bedürfnissen des Konsums anzupassen. Wenn zum Beispiel der Bedarf an Stahl über die vorhandenen Produktionsmöglichkeiten hinaussteigt, so kann man nicht, um ihm zu genügen, ein kleines Stahlwerk anlegen; es muss schon ein großes sein, denn nur ein solches arbeitet wirtschaftlich. Das produziert dann aber gleich weil mehr, als dem neuen Bedarf entspricht. (Vgl. Hilferding, Finanzkapital, S. 327.) Sodann wird, da die Arbeiterklasse unter der Herrschaft des Kapitals immer nur einen Teil der von ihr produzierten Werte erhält, die Differenz zwischen dem, was sie konsumieren kann und dem, was sie konsumieren müsste, damit alle Produkte abgesetzt und verbraucht werden, gerade durch den Fortgang dieser Entwicklung, der die Produktion immer mehr steigert, immer größer. Endlich aber sind durch das Wachstum der Produktion ihre eigenen Zusammenhänge nicht nur umfangreicher, sondern auch komplizierter und eben dadurch empfindlicher, für Störungen weit empfänglicher geworden. Um dies zu veranschaulichen, müssen wir noch einmal etwas weiter ausholen.

Empfindet der Urmensch im Urwald ein Bedürfnis, sagen wir nach Nahrung, so begibt er sich auf die Jagd oder sammelt Früchte und Wurzeln, und was er da jagt oder findet, damit stillt er seinen Hunger. Soll heutzutage der Hunger eines Menschen gestillt werden, so sind dazu eine Menge von Zwischenfaktoren erforderlich.

Um das Brot zu produzieren, das vor uns auf dem Tische liegt, musste der Bäcker arbeiten. Er aber braucht den Backofen nebst allen dazugehörigen Apparaten, und das Haus, worin sie untergebracht sind. Das Mehl kauft er vom Müller, der eine Mühle betreibt. Um Backofen und Mühlen mit ihren Einrichtungen herzustellen, sind Maschinenfabriken tätig, die ihrerseits Eisen, Holz, Kohlen in mehr oder minder vorgearbeiteter Form aus großen Betrieben, Bergwerken usw. beziehen. Kurzum, die Bedürfnisse des modernen Kulturmenschen werden nicht auf direktem, sondern auf sehr indirektem Wege befriedigt. Die Lieferung des Brotes (und ebenso jedes anderen Konsumartikels) an den Konsumenten ist nur das letzte Glied einer langen Kette, die hauptsächlich aus Lieferungen von Produktionsmitteln von einem Produzenten an den andern besteht. Diese Umwege sind notwendig, um die Ergiebigkeit der Produktion auf ihre heutige Höhe zu steigern. Sollen nun Störungen des Gleichgewichts zwischen Produktion und Konsum vermieden werden, so muss nicht nur der Bäcker ganz genau so viel Brot liefern, wie der Konsum braucht, sondern es müssten auch die Maschinenfabriken ganz genau so viel Backöfen fabrizieren, wie hierzu erforderlich sind, die Bergwerke genau so viel Erz und Kohlen usw. Mit einem Wort, es müsste auch zwischen all den verschiedenen Branchen der Produktion ein peinlich genaues Gleichgewicht herrschen. Das ist aber ganz unmöglich gerade aus jenem Grunde, den wir schon angeführt haben, weil nämlich die Produktion, um die Produktivkräfte zu steigern, eigenen Gesetzen folgen muss, die aus ihrer eigenen Organisation entspringen, und sich nach den Bedürfnissen des Konsums nicht richten kann. Wie peinlich genau die Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Branchen sein müsste, das hat Marx in den berühmten Formeln im zweiten Band des Kapital dargestellt, wovon Hilferding in seinem Finanzkapital (S. 297 ff.) ein gutes Resümee gibt. Wir wollen versuchen, durch ein einziges herausgegriffenes Beispiel die Sache kurz zu veranschaulichen.

Wenn wir – der Einfachheit Halber – annehmen, dass die gesamte Produktion nur in demselben Umfang wie bisher fortgesetzt werden soll, also ohne Erweiterung, dann müssen die Kapitalisten im Besitz der nötigen Produktions- und Lebensmittel sein, und zwar nicht in Geld, sondern in natura. Denn Geld können die Arbeiter nicht essen, Geld verwebt kein Garn, schmilzt kein Erz usw. Es muss also die Gesamtmasse der vorhandenen Lebens- und Produktionsmittel sich so auf die verschiedenen Branchen verteilen, dass jede imstande ist, ihre Produktion fortzusetzen. Stimmt das irgendwo nicht ganz genau, so muss eine Störung eintreten. Wie nun muss das Verhältnis der Verteilung aussehen?

Wenn zum Beispiel die Kapitalisten, welche Konsumartikel (Ks) produzieren, am Abschluss des Geschäftsjahres im Besitz von 3.000 Ks in natura sind, so müssen sie davon während des kommenden Jahres ihre Arbeiter und sich selbst ernähren, und es muss noch so viel übrig bleiben, dass sie für den Rest die nötigen Produktionsmittel (Pm) eintauschen können. Nehmen wir an, sie brauchen für ihre Arbeiter 500, für sich selbst auch 500 Ks und für den Rest von 2.000 Ks kaufen sie Pm.

Dann kommen durch eben diesen Kauf die Kapitalisten, welche Pm produzieren, in den Besitz von 2000 Ks in natura, die sie während des kommenden Jahres zur Ernährung ihrer Arbeiter und zu ihrer eigenen Ernährung verwenden können. Sie würden also – bei gleichem Verhältnis wie in der Gruppe Ks – 1.000 den Arbeitern geben, 1000 für sich behalten. Sollen nun die Kapitalisten der Gruppe Pm die Produktion fortsetzen, so müssen sie von ihrer eigenen früheren Produktion noch so viel Pm übrig haben, dass sie zur Beschäftigung dieser Anzahl Arbeiter ausreichen, welche von 1.000 Ks das Jahr über ernährt werden. Das sind – unter der Annahme gleicher Verhältniszahlen – 4.000. Mit anderen Worten: wenn die Produktion der Gruppe Ks erfordert 2000 Pm + 500 Arbeitslohn + 500 Mehrwert für die Kapitalisten, so muss, um das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, die Produktion der Gruppe Pm zur Verfügung haben 4000 Pm + 1000 Arbeitslohn + 1000 Mehrwert. Dies ist der Sinn der berühmten Marxschen Formel:

  1. Pm 4000 c + 1000 v + 1000 m = 6000
  2. Ks  2000 c +   500 v +   500 m = 3000

wobei m den Mehrwert bedeutet, v (= variables Kapital) den Arbeitslohn und c (= konstantes Kapital) die Produktionsmittel. Ein einziger Blick auf diese Formel lehrt, dass ein solch subtiles Gleichgewicht unter den verwickelten Verhältnissen der kapitalistischen Produktion ganz unmöglich ist. Dabei haben wir doch immer nur erst sehr roh summiert. Wir haben sämtliche Kapitalisten, die Pm produzieren, zu einer Gruppe zusammengefasst, ebenso sämtliche Kapitalisten, die Ks produzieren. Es versteht sich jedoch, dass das Gleichgewicht innerhalb viel feinerer Verzweigungen dieser Gruppen existieren muss. So zum Beispiel müssen diejenigen Kapitalisten, welche Bäckereiapparate produzieren, gerade so viel an Ks wie an den für ihre Branche erforderlichen Pm zur Verfügung haben, wie dem Bedarf der Bäckereien entspricht usw. Außerdem haben wir für unser Beispiel angenommen, dass die Produktion nur im gleichen Umfange, ohne Erweiterung fortgesetzt werden soll, was in der Wirklichkeit nie zutrifft. Die Erweiterung aber macht die Bedingungen des Gleichgewichts noch subtiler und komplizierter; Ferner haben wir gar nicht berücKsichtigt die verschiedenen Arten der Pm, nämlich das sogenannte fixe und zirkulierende Kapital, was wiederum die Erfordernisse des Gleichgewichts kompliziert. Und endlich haben wir außer Acht gelassen, dass all jene Umsätze von Pm gegen Ks, von Pm gegen Pm, Ks gegen Ks, von Arbeitslohn gegen Nahrung usw. durch Geld vermittelt werden, und dass aus der Anwendung des Geldes neue Störungsursachen erwachsen.

So erklärt es sich denn, dass in der kapitalistischen Gegenwart ein auch nur annäherndes Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsum nicht hergestellt werden kann und die Krisen unvermeidlich sind. Zugleich ober zeigt sich immer wieder die Notwendigkeit dieser Störungen, um jene Steigerung der Produktivkräfte herbeizuführen, die allein imstande ist, den ebenfalls unaufhörlich steigenden Bedürfnissen des Konsums zu genügen. And es bleibt nur noch die Frage übrig, ob und wie in der Zukunft eine Lösung dieser Widersprüche, ihre Zusammenfassung zu einer höheren Einheit zu erwarten ist.

Die Antwort finden wir mit klassischer Klarheit in der nachgelassenen Broschüre von Engels: Grundsätze des Kommunismus (S. 18–21). Die gewaltige Steigerung der Produktivkräfte, welche wir dem Großkapitalismus verdanken, war zugleich die Ursache, die das Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsum völlig und, wie es auf den ersten Blick scheint, unheilbar in Unordnung brachte. Die Krisen sind die unausweichliche Folge der Tatsache, dass die Produktivkräfte, um sich weiterzuentwickeln, keine RücKsicht nehmen können weder auf die Bedürfnisse des Konsums noch auf die Bedürfnisse der anderen Branchen. Ob Absatz da ist oder nicht, es muss immer weiter produziert werden, um die riesigen vorhandenen Anlagen nicht zu entwerten. Da ist der periodisch wiederkehrende Zusammenbruch unvermeidlich. Zugleich aber erzeugen die so gewachsenen Produktivkräfte immer kolossalere Massen von Vorräten, und was noch mehr ist, sie erzeugen für die Zukunft die Möglichkeit, immer noch größere Massen zu produzieren. Und so hat sich denn das wirtschaftliche Problem geradezu umgedreht. Am Anfang der Jahrtausende war die Frage: wie befriedigen wir durch die Produktion die Bedürfnisse des Konsums? Heute heißt es gerade umgekehrt: wie schaffen wir es, dass die ungeheuren Produktenmassen, die wir mit Leichtigkeit produzieren können, den Konsumenten zufließen, dass sie auch wirklich konsumiert werden? Das ist das große Problem, das gelöst werden muss, und zwar in einer nicht mehr zu fernen Zukunft. Denn es ist zu befürchten, dass der Wirtschaftskörper der Völker die gewaltigen Störungen, denen er andauernd ausgesetzt ist, nicht zu lange mehr wird ertragen können. Ist man sich aber einmal darüber klar, dass die Lösung nicht auf dem Wege erfolgen kann und wird, auf dem allein sie bisher gesucht worden ist, nämlich durch Einschränkung der Produktion, sondern dass die wirtschaftliche Notwendigkeit sich auf dem gerade entgegengesetzten Wege durchsehen wird, durch Steigerung des Konsums, so dass er alle die jetzt produzierten und später noch vermehrbaren Produkte auch wirklich verzehrt, dann ergeben sich ungeahnte, unübersehbare und hoffnungsfreudige Perspektiven. Dann überkommt uns die Ahnung eines Zustandes der Gesellschaft, worin die materielle Not von jedem Menschen gebannt ist, und wo deshalb alle Menschen, in ihrem Lebensunterhalt, in ihrer materiellen Existenz gesichert, sich neuen, höheren, edleren Aufgaben widmen können. Eines Zustandes, wo bei voller Entwicklung der individuellen Fähigkeiten zum ersten Mal in der Geschichte die persönliche Freiheit und der Wohlstand für alle zur Wahrheit werden wird.

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Anmerkungen

1. Als Erläuterung zu Kapitel 24, Seite 302.

2. Wirtschaftskrisen, Karlsruhe, G. Braun 1913, 6. 1.

 


Zuletzt aktualisiert am 12. Juli 2024