Julian Borchardt

Vor und nach dem 4. August 1914

Hat die deutsche Sozialdemokratie abgedankt?

(1915)


Vor und nach dem 4. August 1914. Hat die deutsche Sozialdemokratie abgedankt? Von Julian Borchardt, 3. durch ein Vorwort erweiterte Auflage 7.–10. Tausend, Verlag der Lichtstrahlen, Berlin Lichterfelde, 1915.
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Vorwort zur 3. Auflage.

Die kleine Schrift, deren dritte Auflage hiermit der Öffentlichkeit überreicht wird, hat einem Teil der sozialdemokratischen Redakteure und Parteiführer nicht gefallen. Das hatte ich erwartet, und für eine sachliche Kritik meiner Ausführungen wäre ich dankbar gewesen. Leider war es mir nicht vergönnt, unter den zahlreichen Gegenäußerungen, die mir zu Gesicht kamen, auch nur einen einzigen Versuch sachlicher Widerlegung zu finden. Zahlreich dagegen fand ich Verdächtigungen und Beschimpfungen meiner Person.

Das sozialdemokratische Pressebureau hat es für gut befunden, in einer im ganzen Deutschen Reich verbreiteten Erklärung einen Teil meiner Angaben als „in jeder Beziehung erfunden“ zu verdächtigen. Nämlich die Angabe, dass die Furcht vor Zertrümmerung der Organisationen, Verbot der Zeitungen usw. für die Haltung der Partei im Kriege ausschlaggebend gewesen sei. Nun, die Redakteure des Pressebureaus wohnen ja in Berlin, und in Berlin pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass die Dinge so sind wie ich sie schildere. In welchem Zahlabend, in welcher Zusammenkunst etwa ein Genosse die Haltung der Partei zu kritisieren wagt — sofort wird ihm entgegengehalten, was wäre dann aus unseren Organisationen, aus unseren Zeitungen geworden! Auch hat — um nur einen herauszugreifen — der Reichstagabgeordnete Fritz Zubeil in zahlreichen Versammlungen ganz ungeschminkt mitgeteilt, dass die Sorge um Vernichtung der Organisationen und der Presse für seine Abstimmung den Ausschlag gegeben hat. Die Redakteure des Pressebureaus können sich leicht bei ihm darüber erkundigen. Auf Wunsch können sie auch noch andere Namen von mir erfahren.

Da wird er schon wieder indiskret, wird Hans Block von der Leipziger Volkszeitung sagen. Ihn hat nämlich die Veröffentlichung vertrauliche Mitteilungen in meiner Schrift „unangenehm berührt“. Da es mir hier an Raum gebricht, werde ich mich an anderer Stelle über das Recht der Vertraulichkeiten ausführlich äußern. Hier nur so viel, dass in einer demokratischen Partei die Instanzen nur im Auftrag der Mitglieder handeln. Die Mitglieder haben also ein Recht, zu erfahren, was in den Sitzungen der Instanzen vorgeht; und wer ihnen das durch ein Schweigegebot, durch einen Mantel der „Vertraulichkeit“ zu wehren sucht, der erweckt den Anschein, als ob er die Verantwortung scheute. Die Erklärung des Pressebureaus hat einige Parteiredakteure ermutigt, ihrem Groll gegen mich die Zügel schießen zu lassen. Die Volkswacht in Bielefeld (Nr. 36 vom 12. Februar 1915) schreibt:

„Was Borchardt wollte, nämlich eine gewisse Clique in der Partei in Verdächtigungen und Verunglimpfungen der Reichstagsfraktion noch zu übertrumpfen, ist ihm jetzt glänzend gelungen. Er ist fortan der Kronzeuge der Kreuzzeitung, der Post und Blätter ähnlichen Schlages. So taucht er doch wieder aus der Versenkung auf, in die ihn sein, sagen wir einmal sonderbares Verhalten alten bewährten Parteigenossen gegenüber hinabgestossen hatte. Auf dem Hintergrunde der Post und der Kreuzzeitung hebt sich das Relief Borchardts parteiretterischer Tätigkeit besonders wirkungsvoll ab.“

Die Rheinische Zeitung in Köln (Nr. 26 vom 1. Februar 1915) lässt sich wie folgt vernehmen:

„Dieser Borchardt, der seiner Landtagskandidatur unter Umständen verlustig ging, mit denen er beim besten Willen keinen Staat machen kann, betreibt das Geschäft der Parteikritik nicht allein in seinen Lichtstrahlen und in der Auslandspresse, sondern auch in Broschüren. Der wissenschaftliche Sozialismus wird darin malträtiert, dass es einen Hund jammern könnte.“

Das Volksblatt für Harburg behauptet, meine Klagen richteten sich nur gegen die Zeitungen, die meine Artikel nicht drucken. — Dieses eifrige Bemühen, eine sachliche Kritik meiner Broschüre durch Verunglimpfung meiner Person zu ersetzen, ist aber, so weit ich sehen kann, keinem so gut gelungen, wie der Chemnitzer Volksstimme, in welcher am 12. Februar 1915 (Nr. 35) zu lesen war:

„Es ist ganz selbstverständlich, dass die Auslassungen des Julian Borchardt in seiner Broschüre die Partei auf das schwerste schädigen müssen. Das ist ja auch der einzige Zweck dieser Schrift gewesen. Wir möchten der bürgerlichen Presse sagen, dass dieser Julian Borchardt ein notorischer Lump ist, der, wenn nicht der Krieg dazwischen gekommen wäre, längst zur Partei hinausgeschmissen worden wäre. Nun benutzt er die Galgenfrist, die ihm der Krieg gegeben hat, um durch gewissenloseste Niederträchtigkeiten die Arbeiterbewegung zu schädigen. Wir möchten dringend bitten, dem Treiben dieses Burschen nicht die mindeste Beachtung zu schenken.“ Red.

Der verantwortliche Redakteur dieses Blattes war an jenem Tage Erich Kuttner.

Wer an der Straße bauet, muss die Leute reden lassen. Und wenn es einem Gassenbuben beliebt, mich mit Schmutz zu bewerfen, kann ich auch nicht gleich hinter ihm herlaufen. Es wäre mir ein leichtes, den Mann, der das geschrieben, durch die Gerichte bestrafen zu lassen. Aber „die Welt wird durch keine Strafe gebessert, kehret sich nichts daran, sie prallet und bellet dawider“, sagt Dr. Martin Luther. Es kann mir deshalb nicht einfallen, gegen solche Anwürfe etwas anderes zu unternehmen, als — ihnen möglichst weite Verbreitung zu geben. Den Lesern meiner Broschüre aber bin ich die Mitteilung schuldig, dass das Schiedsgericht, vor dem man mich im vorigen Jahre anklagte (und auf dessen Verhandlungen jene Anwürfe hinzielen) nicht nur meinen Ausschluss aus der Partei einstimmig abgelehnt, sondern auch ebenso einstimmig ausgesprochen hat, dass ich würdig bin, Vertrauensämter zu bekleiden. Mich dünkt, die Gehässigkeit, welche meine Schrift bei den genannten und noch einigen anderen Personen ausgelöst hat, ist ein Zeichen dafür, dass sie doch wohl so ungefähr das Richtige getroffen haben muss.

Lichterfelde, den 20. Februar 1915

Julian Borchardt



1. Die Gründe der Reichstagsfraktion.

Als am 4. August 1914 die sozialdemokratische Fraktion des Deutschen Reichstags einmütig für Bewilligung der Kriegskredite stimmte, hat dies viele überrascht. Welches waren ihre Gründe?

Im Namen der Fraktion gab ihr Vorsitzender Hugo Haase die folgende Erklärung; ab (worin diejenigen Stellen, die als Gründe in Betracht kommen, hier durch den Druck hervorgehoben werden):

„Wir stehen vor einer Schicksalsstunde. Die Folgen der imperialistischen Politik, durch die eine Ära des Wettrüstens herbeigeführt wurde und die Gegensätze zwischen den Völkern sich verschärften, sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung. hierfür fällt den Trägern dieser Politik zu, wir lehnen sie ab. Die Sozialdemokratie hat diese verhängnisvolle Entwicklung mit allen Kräften bekämpft und noch bis in die letzten Stunden hinein hat sie durch machtvolle Kundgebungen in allen Ländern, namentlich im innigen Einvernehmen mit den französischen Brüdern für Aufrechterhaltung des Friedens gewirkt. Ihre Anstrengungen sind vergeblich gewesen.

Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel.

Nun haben wir zu denken an die Millionen Volksgenossen, die ohne ihre Schuld in dieses Verhängnis hineingerissen sind. Sie werden von den Verheerungen des Krieges am schwersten getroffen. Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei.

Wir denken auch an die Mütter, die ihre Söhne hergeben müssen, an die Frauen und Kinder, die ihres Ernährers beraubt sind, denen zu der Angst um ihre Lieben die Schrecken des Hungers drohen. Zu ihnen werden sich bald Zehntausende verwundeter und verstümmelter Kämpfer gesellen. Ihnen allen beizustehen, ihr Schicksal zu erleichtern, diese unermessliche Not zu lindern, erachten wir als zwingende Pflicht.

Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Siege des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen.

Wir fordern, dass dem Kriege, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist und die Gegner zum Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird durch einen Frieden, der die Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht. Wir fordern dies nicht nur im Interesse der von uns verfochtenen internationalen Solidarität, sondern auch im Interesse des deutschen Volkes.

Wir hoffen, dass die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor dem Kriege wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird. Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kredite“

Die hier angegebenen Gründe wurden ergänzt und erweitert durch ein Schreiben, welches Philipp Scheidemann, zugleich Mitglied der Fraktion und des Parteivorstandes, am 21. August 1914 an die New Yorker Volkszeitung richtete (in dieser veröffentlicht am 19. September). Ihm seien die folgenden Sätze entnommen:

„Den Krieg hat in Deutschland niemand gewollt. Dem widerspricht auch nicht die Tatsache der deutschen Kriegserklärung an Russland und schließlich auch an Frankreich. Hätte Deutschland, das über die Vorbereitungen seiner Nachbarn genau unterrichtet war, noch einige Zeit gezögert, dann wäre Russland mit seiner längst heimlich betriebenen Mobilmachung fertig geworden und hätte unser im Osten nur mäßig geschütztes Land mit seinen Kosaken überflutet. Und dann wehe uns! ...

Auf Russland lastet die Hauptschuld an dem jetzigen Kriege. Noch während der Zar mit dem deutschen Kaiser im Depeschenwechsel stand, um scheinbar für den Frieden zu wirken, ließ er heimlich nicht nur gegen Österreich, sondern auch gegen Deutschland rüsten.

Dass Frankreich, das republikanische Frankreich, auf Tod und Verderben mit dem russischen Absolutismus verbunden ist, ist eine schier unfassbare Tatsache. Und dass England, das parlamentarisch regierte, demokratische England, Seite an Seite mit den Russen gegen Deutschland kämpft, um „für Freiheit und Kultur“ einzutreten, das ist eine Heuchelei von wahrhaft gigantischer Schamlosigkeit ...

Die Sozialdemokratie der europäischen Westmächte hat getan, was in ihren Kräften stand, um den Krieg zu verhüten. Ihre Macht reichte dazu noch nicht aus. Am 1. August 1914 sah sich die Sozialdemokratie eines jeden einzelnen Landes vor die entsetzliche Tatsache des Krieges gestellt. Was tun? ...

Wir in Deutschland hatten die Pflicht, uns gegen den Zarismus zu wehren, hatten die Aufgabe zu erfüllen, das Land der am meisten entwickelten Sozialdemokratie zu schützen vor der drohenden Knechtschaft durch Russland ... Ein von dem Zaren geknechtetes Deutschland hätte die sozialistische Bewegung der ganzen Welt, nicht nur die Deutschlands, um Jahrzehnte zurückgeworfen ...

Wir verlangten in unserem Programm das Volksheer an Stelle des stehenden Heeres. Warum verlangen wir das Volksheer? Weil wir es für den besten Schutz gegen jeden Angriff auf das Vaterland halten. Also! Auch wir wollen unser Vaterland schützen. Hätten wir nun in der Stunde der Not sagen sollen: Ja, das Vaterland wollen wir gegen das Knutenregiment des Zaren auch schützen, aber wir verlangen den Schutz durch eine Miliz! Da wir eine Miliz noch nicht haben, bedienen wir uns des stehenden Heeres nicht, da lassen wir lieber die Kosaken ins Land!! ...

Eine geradezu schändliche Rolle spielt England in diesem Kriege. Wenn Frankreich gegenüber Russland durch einen unglückseligen Vertrag gebunden ist, England war nicht gebunden! England aber, das neidisch ist auf die wirtschaftliche Entwicklung —unseres Landes, benutzte den von Deutschland an Belgien in der Not begangenen, vom Reichskanzler im Reichstag offen und ehrlich zugegebenen Neutralitätsbruch als Vorwand, um uns den Krieg zu erklären. Und England krönte sein abscheuliches Verhalten, indem es sogar ein ostasiatisches Land gegen uns mobil machte. Japan, dessen Söhne bei uns wirklich weitgehende Gastfreundschaft genossen, ihr Wissen bei uns bereichert und ihre industriellen Kenntnisse bei uns erworben haben, erweist sich nun als das wirklich widerwärtigste und verlogenste Volk der Welt ...“

Stellt man die in diesen beiden Auslassungen angegebenen Gründe sinngemäß zusammen, so ergibt sich der folgende Gedankengang:

Die Sozialdemokratie der europäischen Westmächte (darunter die deutsche Sozialdemokratie) hat getan, was in ihren Kräften stand, um den Krieg zu verhüten. Sie war zu schwach.

So hatte sie seit dem 1. August nicht zu entscheiden, ob sie zur Verhütung: des Krieges noch etwas tun könne, sondern wie sie sich in dem tatsächlich ausgebrochenen Krieg zu verhalten habe.

Hierbei war maßgebend, dass in Deutschland niemand den Krieg gewollt hat, die Hauptschuld vielmehr auf der russischen und demnächst auf der englischen Regierung lastet.

Ferner war maßgebend, dass das eigene Land vor feindlichen Invasionen geschützt werden musste; sodann, dass bei einer deutschen Niederlage das Lands zerstückelt werden und in die Knechtschaft des Zarismus geraten würde, was nicht nur die deutsche, sondern die gesamte sozialistische Bewegung der ganzen Welt um Jahrzehnte zurückwerfen würde.

Endlich galt es, die Kultur und Selbständigkeit der deutschen Nation sicherzustellen.

Hierzu kommt noch ein weiterer Grund, der zwar in beiden Erklärungen nicht angegeben wird, aber in den Sitzungen der zuständigen Parteikörperschaften tatsächlich den Ausschlag gegeben hat. Das war die Überzeugung, dass bei einem anderen Verhalten auf der Stelle eine grausame Verfolgung der Partei wie der freien Gewerkschaften eingetreten wäre, Auflösung der Vereine und Verbände, Konfiskation der Kassen, Zertrümmerung der Organisationen usw.

Bezeichnungen, wie die Japans als „wirklich widerwärtigsten und verlogensten Volkes der Welt“, oder die, dass England eine „Heuchelei von wahrhaft gigantischer Schamlosigkeit“ begehe und „neidisch sei auf die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes“, können hier füglich übergangen werden. Denn hier handelt sich's darum, die Gründe und Zusammenhänge zu verstehen. Dazu helfen aber solche Bezeichnungen, wie sie schon im Kampf um Troja die Helden des alten Homer anzuwenden pflegten, nicht im allergeringsten.



2. Was tat die Sozialdemokratie für den Frieden?

Wie man sieht, ist die Voraussetzung alles weiteren die, dass die Sozialdemokratie vor dem Ausbruch des Krieges alles getan habe, was in ihren Kräften stand, um ihn zu verhüten. Es ist nicht von ungefähr, dass Scheidemann dies mit solchem Nachdruck behauptet. Denn in der Tat hatte das Proletariat der ganzen Welt dies von der Sozialdemokratie, und zumal von der deutschen Sozialdemokratie, erwartet, weil sie sich in feierlichster Form dazu verpflichtet hatte. Das geschah auf dem Internationalen Sozialistenkongress zu Basel am 24. und 25. November 1912. In dem Protokoll jenes Kongresses kann man es (auf S. 23) nachlesen, dass das damals beschlossene Manifest mit den Worten beginnt:

„Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Bureaus, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern.“

„Die wichtigste Aufgabe innerhalb der Aktion der Internationale— so heißt es dann weiter in dem Manifest (S. 25, 26 bis 27) — „fällt aber der Arbeiterklasse Deutschlands, Frankreichs und Englands zu ... Um die Vernichtung der Blüte aller Völker zu verhindern, die von allen Gräueln des Massenmordes, der Hungersnot und Pestilenz bedroht ist, wird das Proletariat all seine Energie aufwenden.“

Der deutsche Parteivorsitzende Hugo Haase, der als Beauftragter der deutschen Delegation und damit der gesamten deutschen Partei sprach, erklärte dazu (S. 29 bis 30 des Protokolls):

„Namens der deutschen Delegation erkläre ich die Zustimmung zu dem Manifest ... Soviel an uns liegt, soll die Zukunft (der aufsteigenden Klasse) nicht aus einem Meer von Blut und Gräueltaten hervorgehen. Wir werden deshalb unter Anwendung der Methoden, die unsere Verhältnisse, unsere politischen und gewerkschaftlichen Organisationen zulassen, das Maximum unserer Kraft einsetzen, um das zu sichern, was wir alle sichern wollen, den Weltfrieden und unsere Zukunft.“

Wenn diese Reden und die ganze Veranstaltung zu Basel nicht als hohles Theaterspiel gelten sollen, so sind die Versprechungen in denkbar feierlichster Form, welche insbesondere die sozialdemokratischen Parteien Englands, Frankreichs und Deutschlands abgegeben haben. — Wie sind sie gehalten worden, als ihre Stunde schlug?

Was die Sozialdemokratie in England und Frankreich getan hat, wissen wir noch nicht. Hoffentlich erfahren wir es dereinst. Allzu viel wird’s wohl nicht sein, wenn man aus ihrer eifrigen Kriegstätigkeit, die nach Kriegsausbruch begann, schließen darf. Was aber die deutsche Sozialdemokratie getan hat, das sei an dem Beispiel Berlins illustriert.

Das österreichische Ultimatum an Serbien datiert von Donnerstag, dem 28. Juli. Am Freitag früh war es in allen Berliner Zeitungen zu lesen — ausgenommen den Vorwärts. Die Sozialdemokraten von Groß-Berlin, soweit sie auf den Vorwärts angewiesen sind, wussten am ganzen Freitag noch nichts von der drohenden Kriegsgefahr. Erst Sonnabend früh erfuhren sie davon. Inzwischen hatten schon Freitag Abend Unter den Linden die bekannten patriotischen Straßendemonstrationen begonnen. Sie wiederholten sich am Sonnabend spät und am Sonntag von Mittag an. Die Sozialdemokraten aber wurden zu Versammlungen am — folgenden — Dienstag einberufen. In der Zwischenzeit verbot der Polizeipräsident weitere Straßenumzüge. Am Dienstag in den sozialdemokratischen Versammlungen wurden weitere Veranstaltungen für den kommenden — Sonntag (2. August) angekündigt. In diesen fünf Tagen stand aber die Weltgeschichte nicht still. Am Donnerstagnachmittag stieg die Erregung aufs höchste, weil der Lokalanzeiger durch Extrablätter die (noch verfrühte) Nachricht von der Mobilmachung verbreitete. Am Freitag wurde der Kriegszustand verhängt, am Sonnabend erging der Befehl zur Mobilmachung und die Kriegserklärung. Damit hörte jede weitere sozialdemokratische Massenaktion auf.

Inzwischen aber fanden die ganze Woche hindurch Verhandlungen statt zwischen dem Parteivorstand und dem Reichskanzler, über deren Inhalt und Ergebnis bisher nichts öffentlich bekannt gemacht worden ist.

Das ist, soweit Groß-Berlin in Betracht kommt, die Tätigkeit der Sozialdemokratie gewesen, von der Scheidemann behauptet, sie habe getan, was in ihren Kräften stand, um den Krieg zu verhüten.

Aber hätte sie denn mehr tun können? Den Gedanken, etwa durch einen Generalstreik die Mobilmachung zu stören, hat sie stets klar und unumwunden abgelehnt; auch in Basel. Die Wahl der Mittel zur Kriegsverhütung hatte sie sich ausdrücklich vorbehalten. Vielleicht standen ihr keine Mittel zur Verfügung?

Wir begnügen uns mit Anführung dessen, was die maßgebenden Führer der deutschen Sozialdemokratie vor zwei Jahren zu Basel unter dem jubelnden Beifall sämtlicher Delegierten gesagt haben, wobei noch bemerkt werden mag, dass die Erörterungen in Basel gerade dem Kriege galten, der im August 1914 ausgebrochen ist, und den man damals schon befürchtete.

Der Parteivorsitzende Hugo Haase (S. 13 des Protokolls) sagte:

„Die großen Demonstrationen des Proletariats ... müssen wie ein Menetekel in Flammenschrift an den Wänden der Paläste der Könige, der Minister und Botschafter erscheinen, gerade jetzt, wo der Balkankrieg unseren Herrschenden, wenn sie nur lernen wollten, die Lehre zu Gemüte führt, dass eine Truppe keinen Sieg erringt, die nicht mit voller Begeisterung und Hingabe für eine große Sache in die Schlacht zieht, sondern lediglich gezwungen von dem eisernen Arm der militärischen Disziplin. Die Herrschenden sollen wissen, dass das internationale Proletariat aus tiefster Seele den Krieg verabscheut, und dass sie es nie dazu bringen werden, mit Begeisterung; in den Kampf zu ziehen und auf die zu schießen, die es schätzt, die es liebt, seine proletarischen Brüder.“ (Stürmischer Beifall.)

Am Ende dieser Rede Haases verzeichnet der Bericht noch einmal: „Stürmischer, lang anhaltender Beifall.“

In dem Manifest, das nachher vom Kongress einstimmig beschlossen wurde, heißt es (S. 24):

„Die Furcht der herrschenden Klassen vor einer proletarischen Revolution im Gefolge des Weltkrieges hat sich als eine wesentliche Bürgschaft des Friedens erwiesen.“

Und am Schluss (S. 27) wendet sich das Manifest an die Proletarier und Sozialisten aller Länder mit dem Ruf:

„Sorgt dafür, dass die Regierungen beständig den wachsamen und leidenschaftlichen Friedenswillen des Proletariats vor Augen haben.“

Jean Jaures aber, der hier im Namen des Internationalen Bureaus, also im Namen der gesamten Sozialdemokratie aller Länder sprach, sagte (S. 27):

„Wenn wirklich das ungeheure Verbrechen des Weltkrieges vollbracht würde, die Proletarier werden im Fühlen und Denken geeint sein, und die Regierenden müssen wissen, dass sie den Arbeitern zumuten würden, dann nicht nur ihr Leben, nein, auch ihr Gewissen preiszugeben.“

Als aber im August 1914 der Krieg wirklich ausbrach, da haben die berufenen Vertreter der deutschen Sozialdemokratie, nämlich die Reichstagsfraktion, der Parteivorstands und der allergrößte Teil ihrer Presse, alles getan, was in ihren Kräften stand um die deutsche Arbeiterschaft — mit Begeisterung für den Krieg, zu erfüllen.

Mit tiefer Verachtung sprach August Bebel am Schluss der Kongresses zu Basel (S. 41 des Protokolls) von denjenigen Pfaffen, die am Weihnachtfest Frieden predigen würden, ohne selbst zu glauben, was sie sagen:

„Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, davon werden in den nächsten Wochen wieder Hunderttausende von Kanzeln in den christlichen Kirchen widerhallen, und doch ist es in Wahrheit die größte Heuchelei. Denn dieselben Männer, die so predigen, würden vielleicht mit noch größerer Wollust auf die Kanzel steigen und das Volk zu dem männermordenden, Menschenvernichtenden, alles zerstörenden Kriege zu begeistern trachten.“

„Sehr wahr“ verzeichnet hier das Protokoll und zeigt durch diesen Zuruf, dass die Teilnehmer des Kongresses mit dieser Äußerung Bebels einverstanden waren.



3. Wer ist schuld am Kriege?

Jedoch, die in Basel abgegebenen Versprechungen galten nur einem Angriffskriege. Dieser Krieg ist aber für Deutschland eine Verteidigung, Deutschland ist von seinen Feinden überfallen worden: „auf Russland lastet die Hauptschuld“, sagt Scheidemann.

In den langen, dem Krieg vorangegangenen Jahrzehnten haben wir von der sozialdemokratischen Partei anderes über die Triebfeder geschichtlicher Entwicklung gehört. Und auch die Neue Zeit, das wissenschaftliche Organ der deutschen Sozialdemokratie, hat für Leute, die gleich Scheidemann die Ursachen der Krieges in der Bosheit einzelner Personen suchen, nur Spott und Hohn übrig. In ihrer Nr. 2 (vom 16. Oktober 1914, S. 35) schreibt Gustav Eckstein über einige bürgerliche Professoren und Dichter:

„Sie scheinen sich der landläufiges Vorstellung hinzugeben, das bürgerliche Leben Mitteleuropas, das seit 48 Jahren äußerlich so ruhig und ungestört dahin floss, hätte auch weiter noch durch Jahrhunderte so ruhig weiter fließen können, wenn nicht irgendein ruchloser Bösewicht, ein Fürst oder ein Volk, diese schöne Ruhe gestört hätte, und nun handle es sich darum, nach Art eines Sherlock Holmes den schuldigen Übeltäter zu ermitteln.“

In der Tat genügt ja einiges Nachdenken, um zu erkennen, dass das zutrifft, was die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten gelehrt hat, und dass es absurd ist, die Schuld bei einzelnen Personen zu suchen. Bekanntlich war es der deutsche Kaiser, der den Krieg zuerst an Russland, dann an Frankreich erklärte. Warum hat er ihn erklärt? Weil die russische Regierung ihre gesamte Heeresmacht sowohl gegen die österreichische wie gegen die deutsche Grenze mobil machte. Kein vernünftiger Mensch kann hieraus dem deutschen Kaiser oder seinen verantwortlichen Räten einen Vorwurf machen. War nicht in der Tat durch den Kriegszustand der gesamten russischen Armee die Sicherheit des Deutschen Reiches bedroht, und war nicht mithin die deutsche Regierung verpflichtet, den Vorsprung. auszunutzen, den die schnellere Kriegsbereitschaft des deutschen Heeres gegenüber der langsameren Mobilmachung der ungeheuren russischen Truppenmassen gewährte? Wer möchte auf gleichem Posten anders handeln? Keine Schuld trifft diese Männer, sondern sie haben einfach ihre Pflicht getan.

Also dann läge die Schuld bei der russischen Regierung? Warum machte sie gegen Deutschland mobil, dadurch dessen Sicherheit bedrohend! — Stellt man die Frage so, dann liegt darin schon das Eingeständnis, dass die russische Mobilmachung gegen Österreich gerechtfertigt war. Gibt man dies jedoch zu, dann muss man auch weiter zugeben: die russische Regierung wusste doch, dass Deutschlands leitende Männer entschlossen waren, der österreichischen Regierung zu helfen, sofern Russland sich in ihren Konflikt mit Serbien einmischte. Und sie wusste überdies, dass ihre Mobilmachung viel länger dauert, als die deutsche. Ist also die russische Mobilmachung gegen Österreich gerechtfertigt, dann ergab sich die gegen Deutschland von selbst. Kein Verschulden trifft die Männer, die sie anordneten, sondern sie haben ihre Pflicht getan.

Aber mussten sie denn gegen Österreich mobil machen? Darauf werden sie antworten: Österreich hat ja zuerst gegen Russland mobil gemacht; wir mussten unsere Grenzen sichern. Und so müssen wir weiter gehen und die Schuld bei der österreichischen Regierung suchen. Wenn sie Händel mit Serbien hatte, was brauchte sie gegen Russland das Heer auf Kriegsfuß zu stellen? — Natürlich musste sie das, denn es war seit Jahrzehnten kein Geheimnis, dass die russische Regierung sich in ihre Abrechnung mit Serbien einmischen werde.

So sitzt das Karnickel, das angefangen hat, doch wieder in der russischen Regierung? Konnte sie nicht Serbien seinem Schicksal überlassen, der gerechten Strafe für den Meuchelmord in Sarajewo? — Es ist nicht nötig und an dieser Stelle nicht möglich, den ganzen Komplex der Balkanfragen aufzurollen, welche zeigen, aus welchen tief verankerten Notwendigkeiten heraus die russische Regierung sich mit Serbiens Geschick verknüpfen musste. Mit der Mobilmachung gegen Österreich tat sie, was ihres Amtes war.

Bliebe endlich noch einmal die österreichische Regierung übrig. Konnte sie nicht dem Konflikt mit Serbien aus dem Wege gehen, da man doch seit vielen Jahren wusste, dass er den Weltkrieg entfesseln werde? [1] — Aber nein doch, sie konnte es nicht. Man lese das deutsche Weißbuch, und man wird sich schnell überzeugen, dass durch die großserbische Propaganda der österreichisch-ungarische Staat in seinem Bestände bedroht war. Dem endlos untätig zuzuschauen, wäre eine grobe Pflichtverletzung der österreichischen Staatsmänner gewesen. Und die Serben? Will man ihnen einen Vorwurf daraus machen, dass sie aus der Zerrissenheit und Zersprengtheit in drei, vier fremde Staaten zu einem unabhängigen Nationalstaat zu gelangen trachten? Dann mache man den Deutschen von 1866 und 1870 den gleichen Vorwurf.

Also wohin wir blicken, treffen wir nirgends auf Bösewichte, die das Völkermorden „anzettelten“, sondern nur auf Staatsbeamte, die die Pflichten ihres Amtes erfüllten. Nicht anders im Westen. Deutschlands konnte nicht nur gegen Russland mobil machen, sondern in Anbetracht des russisch-französischen Bündnisses musste es dasselbe zugleich gegen Frankreich tun. Damit trat für Frankreich gegenüber Deutschland genau die gleiche Situation ein, wie für Deutschland gegenüber Russland. Nicht Personen sind am Ausbruch des Krieges schuld, sondern die allgemeinen politischen Zusammenhänge.



4. Die Gründe der Diplomaten.

Nun aber steht Scheidemanns Behauptung., dass auf Russland die Hauptschuld am Kriege laste, überdies noch im Widerspruch zu dem, was die sozialdemokratische Partei bis unmittelbar vor Ausbruch des Krieges sagte, und zu dem, was berufene bürgerliche Federn bis auf den heutigen Tag verkünden. In dem erwähnten Berliner Mitteilungsblatt, das von der Leitung der Berliner Sozialdemokratie herausgegeben wird, ist die Rede von einer kleinen, aber einflussreichen Clique, die innerhalb der schwarzgelben Grenzpfähle (d. h. also in Österreich) das Kriegsfeuer schürt und vor allem gegen Serbien hetzt. In der Woche, welche der Kriegserklärung voranging, betonte der Vorwärts Tag für Tag, dass die österreichische Regierung den Konflikt mit Serbien vom Zaun gebrochen habe, und dass es Pflicht der deutschen Regierung sei, ihrer österreichischen Bundesgenossin in den Arm zu fallen; tue sie es nicht, so sei sie, das heißt die deutsche Regierung, schuld an den Folgen. Allerdings ist Scheidemann nicht Redakteur des Vorwärts, aber da in denselben Tagen eifrig zwischen Parteivorstand und Reichskanzler verhandelt wurde, darf man es als sicher annehmen, dass der Vorwärts damals über diese Dinge nicht ein Wort anders als im Einverständnis mit dem Parteivorstand geschrieben hat. Und auch der württembergische Landesvorstand schrieb in einem Flugblatt, das zur Verbreitung am 2. August bestürmt war: „Die österreichische Kriegspartei wollte den Krieg“. Und als vor 2 Jahren der erste Balkankrieg ausgebrochen war und schon damals alle Welt die österreichische Einmischung befürchtete, da sagte auf dem Internationalen Kongress zu Basel im Namen der deutschen Delegation der Parteivorsitzende Hugo Haase (S. 30 des Protokolls):

„In Übereinstimmung mit unseren Brüdern in Österreich-Ungarn halten wir es für die Pflicht der deutschen Regierung, der österreichisch-ungarischen Regierung ein entschiedenes Halt zuzurufen auf der Bahn, die sie beschritten hat“.

Natürlich ist hiermit noch nichts darüber entschieden, ob der Vorwärts, der Parteivorstand und der württembergische Landesvorstand vor dem 3. August oder Scheidemann nach dem 3. August recht hat. Nur steht fest, dass die Vertreter der deutschen Sozialdemokratie vom 3. August an (dem Tage, an welchem die Reichstagsfraktion in geschlossener Sitzung ihre Beschlüsse fasste) das Gegenteil dessen verkündeten, was ihnen bis zum 3. August als richtig gegolten hatte.

Wie es in Wirklichkeit um die Gründe bestellt war, die den Ausbruch des Krieges in jenem Augenblick veranlassten, das ist leicht zu erkennen, wenn man sich an die Schriften von Sachkennern aus den bürgerlichen Parteien hält. Der bekannte Weltpolitiker Paul Rohrbach veröffentlichte im Oktober ein Flugblatt „Warum es der deutsche Krieg ist“. Darin schildert er, wie seit 1909 in Russland wie in Frankreich in beschleunigtem Tempo gerüstet wird und wie im Jahre 1912 dem französisch-russischen Bündnis der ausgesprochene Kriegscharakter gegeben wird. Dann sagt er weiter:

„Die Antwort darauf waren unsere große Militärvorlage und die Wehrsteuer. Der Überfall auf Deutschland-Österreich wurde zwischen der französischen und der russischen Militärverwaltung, wie man annehmen darf, für den Anfang oder die erste Hälfte 1916 geplant. Wir waren davon unterrichtet ... Menschlicher Voraussicht nach waren wir nicht imstande, dem Angriff zu entgehen. Wir konnten uns rüsten, aber wir änderten damit nichts an der Tatsache, dass durch das Fortrüsten unserer Gegner die Wagschale tiefer zu ihren Gunsten sank, als wir durch unsere Vorbereitungen auszugleichen imstande waren. Noch besaß zwar Frankreich ein Gewehr, das unserem unterlegen war, aber es war drauf und dran, eine automatische Mehrladewaffe einzuführen, die möglicherweise jenen Mangel mehr als gutgemacht hätte. Noch hat die französische Artillerie keine schweren Feldgeschütze, aber bis 1916 konnte sie solche ebenso gut haben wie wir. Noch war ein großer Teil der französischen Festungen nicht modernisiert, aber sie waren im Begriff, es zu werden. Noch war die Aufstellung der ungeheuren Friedensformationen in Russland nicht vollkommen durchgeführt, aber mit jedem Vierteljahr kamen die Russen diesem Ziel näher.“

Da kam der Meuchelmord in Sarajewo, und „mit einem Schlage wurde Österreich-Ungarn vor die Frage gestellt: Sein oder Nichtsein. Damit war auch für Deutschland eine Politik ohne weitere Wahl gegeben“. Zwar habe die russische Regierung schon vorher versucht, Deutschland dem österreichischen Bündnis zu entfremden durch das Anerbieten der Eingliederung von Deutsch-Österreich. Aber das wäre ja doch nicht für lange gewesen. Ein paar Jahre später wäre dann das durch die Zertrümmerung Österreichs umso stärker gewordene Russland im Verein mit Frankreich und England doch über uns hergefallen.

„Als daher Österreich nach der serbischen Untat die Frage an uns richtete, ob wir fest an seiner Seite stehen wollten, sobald es sich entschloss, zum Gang auf Tod und Leben anzutreten, statt zu dem Selbstmord, der ihm zugemutet wurde, da konnte unsere Antwort nicht zweifelhaft sein. Indem wir sie aber gaben, mussten wir uns klar sein, und waren uns auch darüber klar, dass wir, wenn auch noch nicht ohne weiteres den Krieg, so doch die nahe Möglichkeit des Krieges wählten. In Wahrheit stand unsere Wahl ebenso wie die Österreich-Ungarns nicht zwischen Krieg und Frieden, sondern zwischen dem Krieg von heute und dem Krieg ein oder zwei Jahre später: nur dass er dann unendlich gefährlicher für uns geworden wäre.“

Genau so wie Rohrbach haben alle bürgerlichen Weltpolitiker die Lage beurteilt. Insbesondere wurde sie so auch von den leitenden Stellen der Armee beurteilt. Zum Beweise genügt es, die bekannte Broschüre des Oberstleutnants Frobenius Des Deutschen Reiches Schicksalsstunde anzuführen. Sie erregte im Frühjahr 1914 großes Aussehen, weil der deutsche Kronprinz dem Verfasser telegraphisch seine Anerkennung ausgesprochen hat. Die Broschüre ist die gründlich durchdachte, sehr sorgfältige Arbeit eines außerordentlich guten Kenners der militärischen Verhältnisse. Sie zeigt, dass sowohl Russland als auch Frankreich im Sommer 1914 sehr wenig kriegsbereit waren, dagegen mit Macht darauf hinarbeiteten, spätestens im Frühjahr 1916 kriegsbereit zu sein. Wir können hier leider aus der sehr lehrreichen Schrift keine langen Auszüge bringen und müssen auf sie selbst verweisen. Nur folgende auf Frankreich bezügliche Stellen seien wiedergegeben:

(S. 72 bis 74.) „Da sich der im zweiten Jahr dienende Jahrgang der 1890 Geborenen weigerte, noch ein Jahr länger bei der Fahne zu bleiben ..., entschloss man sich, ihn im Herbst 1913 zu entlassen und dafür zwei Rekrutenjahrgänge, nämlich die 1892 und 1893 Geborenen, gleichzeitig einzustellen. Infolgedessen sind jetzt (Frühjahr 1914) zwei Jahrgänge gleichzeitig durch den einen, schon ein Jahr dienenden auszubilden, ein Umstand, der es der französischen Armee beinahe unmöglich machen würde, sich jetzt in einen Krieg einzulassen.“

Dagegen werde im Herbst 1914 ein weiterer Jahrgang, 1894, einberufen werden, ohne dass der Jahrgangs 1891 entlassen wird.

„Die Folge wird sein, dass man nicht nur drei, sondern sogar vier Jahrgänge im nächsten Jahr (1915) in der stehenden Armee haben kann, d. h. eine größere Stärke, als für den Kriegsstand notwendig ist.“

Der gleiche Zustand werde auch 1916 wieder eintreten, dann aber nicht mehr. „Hat Frankreich bis dahin den Zweck der überstarken Rüstung nicht erreicht, hat es nicht vermocht, Russland und England mitzureißen zum Angriff auf Deutschland, so wird es voraussichtlich vorläufig auf den Rachekrieg verzichten müssen, wenn es nicht sich selbst wirtschaftlich ruinieren will. Der Zustand, den Frankreich sich durch die ausnahmslose dreijährige Dienstzeit bei der Fahne geschaffen hat, ist nichts anderes als eine andauernde Kriegsbereitschaft.“ Die aber könne es auf die Dauer nicht ertragen:

„Deshalb ist die Konsequenz der militärischen Maßnahmen Frankreichs, dass es auf den Beginn des Krieges gegen Deutschland im Jahr 1915 oder 1916 unter allen Umständen drängen muss.“

Aus diesen und vielen ähnlichen Auslassungen folgt, dass die entscheidenden Stellen in Deutschland einen Angriff von Russland und Frankreich in ein bis zwei Jahren mit Sicherheit erwarteten. Hält man sich dies vor Augen und nimmt dann das deutsche Weißbuch zur Hand, so ist jeder Zweifel ausgeschlossen.

Am 23. Juli stellte die österreichische Regierung an die serbische eine Reihe von Forderungen, die in die Selbständigkeit des serbischen Staates eingriffen. Die serbische Regierung hat mehrere dieser tief einschneidenden Forderungen bewilligt, z. B. die Auflösung eines Vereins, der gegen Österreich-Ungarn agitierte; die Umgestaltung des öffentlichen Unterrichts; die Entlassung bestimmter Offiziere und Beamten. Andere Forderungen hat sie abgelehnt. So war verlangt worden, „jede Publikation zu unterdrücken, die zum Hass und zur Verachtung gegen die (österreichisch-ungarische) Monarchie aufreizt“. Die serbische Regierung erwiderte, dass dazu erst das serbische Pressgesetz und die serbische Verfassung geändert werden müssen; sie erklärte sich bereit, die erforderlichen Änderungen bei ihrem Parlament zu beantragen. Es war verlangt worden, österreichische Beamte bei der Unterdrückung der antiösterreichischen Bewegung in Serbien mitwirken zu lassen. Die serbische Regierung erklärte sich bereit, „jede Mitwirkung anzunehmen, welche den Grundsätzen des Völkerrechts und des Strafprozesses sowie den freundnachbarlichen Beziehungen entsprechen würde“. Verlangt war, österreichische Beamte in Serbien an der polizeilichen Untersuchung gegen Teilnehmer der Verschwörung vom 28. Juni mitwirken zu lassen. Diese Forderung hat die serbische Regierung abgelehnt. Sie hat sich aber bereit erklärt, soweit die österreichische Regierung durch ihre Antwort nicht befriedigt sei, die Entscheidung dem Internationalen Schiedsgericht im Haag oder einer Konferenz der Großmächte zu überlassen.

Wer wollte sich darüber täuschen, dass die österreichische Regierung die Annahme ihrer Forderungen gar nicht erwartete, und dass umgekehrt die serbische Regierung den ihr damals unerwünschten Krieg, durch jede irgendwie mögliche Nachgiebigkeit zu vermeiden suchte? Man stelle sich vor, die englische Regierung hätte bei der deutschen die Unterdrückung jeder gegen England gerichteten Propaganda beantragt, oder sie hätte gar verlangt, bei irgendwelchen polizeilichen Amtshandlungen gegen deutsche Staatsbürger in Deutschlands sollten englische Beamte mitwirken! Hätte sie vernünftigerweise auf die Erfüllung solcher Forderungen rechnen können? Nein, wenn ein Staatsmann derartige Forderungen stellt, so weiß er, dass sie abgelehnt werden. Und wenn er für diesen Fall Krieg androht, so war Krieg seine Absicht. Nun aber gibt die deutsche Regierung — im deutschen Weißbuch — bekannt, dass sie ihrem Bundesgenossen versichert hatte „dass eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der gegen den Bestand der Monarchie gerichteten Bewegung in Serbien ein Ende zu machen, ihre Billigung finden würde“, und dass sie sich dabei „wohl bewusst war, dass ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien Russland auf den Plan bringen und uns hiermit, unserer Bundespflicht entsprechend, in einen Krieg verwickeln könnte“. Nimmt man dies hinzu, so haben wir die Tatsachen beisammen, die zur Beurteilung dieses Punktes gehören.

Darum wäre es aber doch ganz falsch, der deutschen und österreichischen Regierung aus ihrem Verhalten irgendeinen Vorwurf zu machen. Sie waren überzeugt, dass die Feinde sie in ein bis zwei Jahren überfallen würden; sie waren überzeugt, dass den Feinden der Krieg jetzt sehr uns gelegen kam; sie waren überzeugt, dass jede Verzögerung den Feinden Stärkung bringen müsse; sie waren überzeugt, dass die eigenen Armeen jetzt besser als in Zukunft kriegsbereit seien — da haben sie getan, was ihres Amtes war. Die landläufige Unterscheidung zwischen Angriffskrieg und Verteidigungskrieg ist eben hinfällig. Jeder wusste, dass der Krieg früher oder später kommen werde, so war jeder in Verteidigungsstellung. Die beste Deckung ist aber der Hieb, und man kann der deutschen wie der österreichischen Regierung das Zeugnis nicht versagen, dass sie zur Verteidigung den Hieb glänzend geführt haben.



5. Die Grundlagen des Sozialismus.

Wenn aber die Sache so lag, wenn die deutsche wie die österreichische Regierung von ihrem Standpunkt aus nur die Pflichten ihres Amtes erfüllt haben, um ihre Länder gegen feindliche Angriffe rechtzeitig zu sichern, war dann nicht auch die deutsche Sozialdemokratie verpflichtet, sie nach Kräften dabei zu unterstützen?

Dem zu widersprechen, geht in der Zeit des Burgfriedens nicht an. Nur darf ganz bescheiden daran erinnert werden, dass diese Entwicklung der Dinge die deutsche Sozialdemokratie nicht überrascht haben kann. Sie war von ihr genau so vorausgesagt worden, und es war ihr zur Zeit, als sie in Basel ihre Versprechungen abgab, schon bekannt, dass die Dinge so und nicht anders verlaufen würden.

Woher konnte die Sozialdemokratie so gut prophezeien?

Hier ist es nötig, in aller Nüchternheit auf die Grundlagen des Sozialismus einzugehen, trotzdem das vermutlich ein wenig langweilig wird. Hoffentlich wird niemand, der für Vaterland und Sozialismus so große Opfer bringen soll, das kleine Opfer ein paar langweiliger Minuten scheuen.

Die Lehre des Sozialismus beruht auf zwei tragenden Pfeilern: dem historischen Materialismus und der Werttheorie. Will man Sinn und Inhalt des historischen Materialismus ganz kurz zusammenfassen, so besagt er, dass das geschichtliche Werden der Menschheit von ihrer wirtschaftlichen Entwicklung abhängt. Folglich, um die Geschichte der Gegenwart zu verstehen, müssen wir die Wirtschaft der Gegenwart kennen. Diese wird uns durch die Werttheorie erschlossen. Deren Inhalt ist kurz und bündig der folgende: aller vorhandene Wert und Reichtum wird durch menschliche Arbeit geschaffen; ohne Arbeit, von Menschen geleistet, gibt es keinen Wert. [2] Aller durch die Arbeit geschaffene Weit geht alsdann in zwei Teile; den einen bekommen die Arbeiter als Lohn, den anderen behalten die Besitzer des Kapitals als Mehrwert.

Wir wollen hier, wohl verstanden, nicht darüber diskutieren, ob diese Lehre richtig ist; wir wollen nur zeigen, dass und wie auf ihr der Sozialismus beruht. Man mag diese Lehre für falsch halten, und niemandem, dem ihre Richtigkeit nicht bewiesen erscheint, können wir zumuten, sich zu ihr zu bekennen. Aber wer sie bestreitet, ist kein Sozialist. Nur dies zu zeigen, ist der Zweck dieser Zeilen.

Weil es nämlich eine bestimmte, gegebene Summe Wert ist, in die sich Kapitalisten und Arbeiter teilen müssen, so folgt daraus: je größer der eine Teil, desto geringer der andere. Jede Steigerung des Anteils der Arbeiter kann nirgends woher sonst genommen werden, als aus dem Anteil der Kapitalisten. Außerdem ist nichts da. Und ebenso umgekehrt. Folglich, indem die Arbeiter streben, ihre Löhne zu erhöhen, streben sie nach Verringerung der Kapitalprofite; und die Kapitalisten, wenn sie ihre Profite zu erhöhen suchen, wirken auf Verringerung des Arbeitslohnes hin. Dieser Tatbestand ist auf den ersten Blick nicht immer sichtbar. Wenn die Kapitalisten die Erhöhung ihres Profits durch Preissteigerung zu erreichen suchen, dann holen sie ihn direkt aus den Konsumenten heraus, worunter ja auch viele Kapitalisten sind. Es bedarf tieferer Einsicht in die wirtschaftlichen Zusammenhänge, um zu erkennen, dass dies nur Umwege sind, die an der Tatsache nichts ändern, dass letzten Endes doch aller Profit aus der menschlichen Arbeit gezogen wird.

Nun hat sich der Sozialismus zum Ziel gesetzt, die Arbeiter zu befreien. — Befreien wovon? Von der Ausbeutung. — Worin besteht die Ausbeutung? Eben in der Tatsache, dass der allein von der menschlichen Arbeit geschaffene Wert zu einem erheblichen Teil Profit wird. Diese rein objektive Tatsache ist es, die wissenschaftlich mit dem Ausdruck Ausbeutung bezeichnet wird. Es liegt darin kein persönlicher Vorwurf und folglich auch keine Aufreizung gegen die Personen der Kapitalisten. Im Gegenteil, der Sozialismus ist weit entfernt davon, die Kapitalisten persönlich für diejenigen Zustände verantwortlich zu machen, aus denen er die Arbeiter befreien will. Aber er lehrt, dass aus der Ausbeutung (im wissenschaftlichen Sinne des Worts) die Übelstände entspringen, unter denen die Völker der Gegenwart leiden. Und darum geht sein Streben dahin, die Ausbeutung zu beseitigen, d. h. die ganze gegenwärtige Wirtschaftsweise in eine andere umzuwandeln.

Bestimmte Gründe zwingen die Kapitalisten, auf eine beständige Vergrößerung ihres Mehrwerts bedacht zu sein. (Schon deshalb, weil er sonst, wie wir noch sehen werden, abnehmen und zuletzt verschwinden müsste.) Ihn zu steigern, gibt es zwei Möglichkeiten, die wir an einem Beispiel erläutern wollen. Man stelle sich vor, dass allgemein 10 Stunden täglich gearbeitet wird. In 8 Stunden werde der Wert erzeugt, welchen die Arbeiter als Lohn erhalten. Dann bleiben 2 Stunden übrig für die Produktion des Mehrwerts. Drückt man den Lohn der Arbeiter herunter, so dass sie nur noch das Produkt von 7 Stunden bekommen, so ist der Mehrwert um das Produkt einer Stunde vergrößert. Dieses Mittel kann aber die Bedürfnisse des Kapitals auf die Dauer nicht befriedigen, weil der Lohn doch nicht allzu tief heruntergedrückt werden kann. So hoch, dass die Arbeiter davon existieren können, muss er schon bleiben. — Ein anderes Mittel wirkt nachhaltiger.

Im obigen Beispiel war angenommen. dass der Lebensunterhalt der gesamten Arbeiter — oder dessen Wert — in 8 Stunden täglich produziert wird. Wenn es nun gelingt, die Ergiebigkeit der Arbeit so zu steigern, dass die gleichen Bedarfsgegenstände in 7 Stunden täglich erzeugt werden, dann können die Arbeiter nach wie vor auskömmlichen Lohn kriegen; dessen Wert ist aber verringert und der Mehrwert ist um das Produkt einer Stunde vergrößert.

Diesen Weg ist das Kapital vornehmlich gegangen. Er heißt Steigerung der Produktivität, Fortschritt der Technik. Auf diesem Wege stößt das Kapital auf keine Grenzen. Nichts hindert, die Ergiebigkeit der Arbeit immer weiter und immer weiter zu steigern, so dass der Lebensunterhalt der Masse mit immer weniger Arbeit produziert wird und für den Mehrwert immer mehr übrig bleibt.

Alsbald aber macht sich sein innerer Widerspruch geltend. Steigerung der Produktivität, Fortschritt der Technik, die das Kapital aus so gewichtigen Gründen unablässig betreibt, bedeutet, dass immer weniger menschliche Arbeit nötig ist, um immer größere Produktenmassen herzustellen. Es werden also Arbeiter überflüssig. Die Zahl der beschäftigten Arbeiter nimmt ab. Selbst wenn sie an und für sich noch wächst, so wächst doch das Kapital, das sie beschäftigt, weit schneller. Sie sinkt also mindestens im Verhältnis zum angewandten Kapital.

Nun aber wird Wert und folglich auch Mehrwert nur von der lebendigen menschlichen Arbeit erzeugt, nicht von den Maschinen und Werkzeugen. Indem also das Kapital das einzige Mittel anwendet, das dauernd den Profit steigern kann, schwächt es die Quelle, aus der allein sein Profit fließt. Der Profit wächst, aber die Profitrate (d. h. das Verhältnis des Profits zum angewandten Kapital) sinkt. Die Kapitalisten wissen das auch ganz gut, und dies treibt sie zu immer rapiderer Steigerung der Technik.

Und noch ein anderer Widerspruch macht sich geltend. Die unaufhörlich wachsende Produktivität liefert immer riesigere Warenmassen, vornehmlich solche für den Bedarf der Arbeiter, denn reiche Leute gibt es so wenig, dass deren Bedarf keine Rolle spielt. Sollen die Kapitalisten in den Genuss des Profits kommen, so müssen diese Warenmassen zuvor verkauft werden. Die Arbeiter sollen sie kaufen. Das aber können die Arbeiter nicht. Von vornherein betrug ja ihr Lohn nur einen Teil des Wertes der Waren, die sie produzieren. Sie können also nicht die Gesamtheit dieser Waren kaufen, ein Rest bleibt unverkäuflich. Und dieses Missverhältnis wächst gerade durch die Steigerung der Produktivität. Denn es nimmt die Zahl der Arbeitslosen zu, und auch die Beschäftigten bekommen von dem Wert der Waren, die sie produzieren, einen immer kleineren Teil. Das war ja gerade der Zweck des technischen Fortschritts, den anderen Teil, den Mehrwert zu vergrößern. Also wohlverstanden: der Lohn, den die beschäftigten Arbeiter kriegen, kann wachsen; aber der diesen Lohn übersteigende Betrag des Warenwertes wächst noch schneller. Immer gewaltigere Warenmassen bleiben unverkäuflich. Dies ist die letzte Ursache der Krisen und Zusammenbrüche.

Ein radikales Mittel dagegen wäre denkbar: nämlich eine solche Steigerung der Löhne, dass die Arbeiter die liegen gebliebenen Warenmassen wegkaufen können. Aber das würde eine entsprechende Verminderung des Profite bedeuten, also gerade den Zweck vereiteln, den das Kapital verfolgt.

In dieser Bedrängnis weiß sich das Kapital keinen anderen Rat, als für die Waren, die es im Inlande nicht loswerden kann, Absatz im Auslande zu suchen, oder auch die Produktion teilweise ins Ausland zu verlegen. Dem dient die Kolonialpolitik aller kapitalistischen Staaten, wozu nicht nur die Erwerbung von Kolonien in wilden Ländern gehört, sondern auch die Kapitalanlagen in der Türkei, in Persien, China usw. Da jedoch die Kapitalisten aller Nationen zu dem gleichen Ausdehnungsdrang gezwungen sind, so entstehen Gegensätze zwischen ihnen, die zu feindlichen Zusammenstößen führen können. Das haben sie von jeher klar erkannt, und daher ihr Streben, ihre ausländischen Kapitalunternehmungen durch Waffenrüstungen zu sichern: Weltmachtpolitik.

Diese Wirtschaftstheorie des Sozialismus lehrt uns den sozialen Ausbau der Staaten verstehen und aus ihm ihre politische Betätigung, d. h. ihre Geschichte begreifen. So geartete Wirtschaftskörper, die als selbständige Staaten nebeneinander existieren, müssen früher oder später in Konflikte geraten. Auf Grund dieser Theorie hat deshalb die Sozialdemokratie das Kommen des Weltkrieges seit vielen Jahren vorausgesagt. Dass übrigens der Krieg zwischen den Staaten entbrannt ist aus den Gegensätzen zwischen ihren Kapitalisten, und dass er um deren Anteil am Weltmarkt geführt wird, das bestätigen auch die Weltpolitiker bürgerlicher Parteien. Wir zitieren zum Beweis folgende Stellen aus einer kürzlich erschienenen Broschüre Der Weltwirtschaftskrieg von Arthur Dix (S. 4–5):

„Russland befand sich in einer großzügigen Agrarreform, die seiner landwirtschaftlichen Produktion eine wesentliche Steigerung der Erträgnisse in Aussicht stellte. Für dieses Mehr an landwirtschaftlichen Erzeugnissen sollte ein willfährigster Absatzmarkt erzwungen werden ... Dazu kam die Entwicklung der Industrie im westlichen Russland, der es an ungehemmten Zugang zum offenen Weltmarkt über das natürliche Ausfalltor der Weichselmündung gebracht. Auch diesen Zugang zu erzwingen, war ein ausgesprochenes Ziel weltpolitischen Streben in Russland...

... England neidete dem Deutschen Reich nicht nur seinen Weltmachtanteil ..., es neidete Deutschland vor allen Dingen seinen Weltmarktanteil! Für England ist der große Krieg 1914 ganz ausgesprochenermaßen ein Weltwirtschaftskrieg ... Der alte Zwischenhändler Europas wollte nicht dulden, dass im eigentlichen Herzen dieses Erdteils eine Volkswirtschaft sich entwickelte, die so mächtig hineinwuchs in die Weltwirtschaft ...“

Wenn also der Krieg geführt wird, um den Kapitalisten des einen oder des anderen Landes die Ausdehnung auf dem Weltmarkt zu sichern, so soll er an dem bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystem natürlich nichts ändern. Im Gegenteil, er soll ja gerade den Kapitalisten des einen oder des anderen Landes den Raum und die Möglichkeit zur Erhaltung ihres Wirtschaftssystems verschaffen.

Noch einmal wiederholen wir: diese Theorie kann vielleicht falsch sein. Wir haben sie hier nur dargelegt, nicht bewiesen. Und niemand ist verpflichtet, sie ohne Beweis als richtig hinzunehmen. Aber es ist die Theorie des Sozialismus. Wer die Sicherung der Ausdehnungsmöglichkeiten des Kapitals als im Interesse der Arbeiter selbst liegend bezeichnet, der setzt voraus, dass keine Ausbeutung der Arbeiter stattfindet. Er mag vielleicht recht haben. Aber wenn die Arbeiter nicht ausgebeutet werden, dann brauchen sie auch nicht von Ausbeutung befreit zu werden. Dann ist der Sozialismus falsch, und die Tätigkeit sozialdemokratischer Parteien ist dann überflüssig.



6. Zweckmäßigkeitsgründe.

Hier sieht man so recht, wie die graue Theorie so einen „gelehrten Stubenhocker“ an seinem grünen Tisch in die Irre führen kann! Bekommt es der Mensch fertig, nur weil die Konsequenzen seiner Theorie es verlangen, die praktischen Verhältnisse völlig aus dem Auge zu verlieren! Wenn also die sozialdemokratische Fraktion, um das Prinzip zu wahren, die Kredite abgelehnt hätte, wenn die sozialdemokratische Presse jener Theorie entsprechend sich verhalten hätte, was wäre die unweigerliche Folge gewesen? Auflösung der Wahlvereine und Gewerkschaften, Verbot der Zeitungen, das Standrecht gegen alle irgendwie bekannten Führer, vielleicht sogar gegen die Abgeordneten. Was aber wäre dann aus der Sozialdemokratie geworden? Völlige Vernichtung wäre ihr Los gewesen.

Wie bereits erwähnt, hat dieses Argument den eigentlichen Ausschlag gegeben. Am 28. September 1914, in einer Konferenz der sozialdemokratischen Redakteure, setzte der Kassierer des Parteivorstandes, Otto Braun, auseinander, dass in den geschäftlichen Unternehmungen der Partei 20 Millionen Mark Kapital stecken und ca. 11000 Angestellte beschäftigt werden. Als um dieselbe Zeit der Vorwärts verboten war und die zuständigen Körperschaften berieten, was zu tun sei, hieß das Losungswort: ein Kapital von einer Million Mark steht auf dem Spiel. So entschloss man sich, die Erlaubnis zum Wiedererscheinen des Vorwärts mit der bekannten Versicherung zu erkaufen, dass er während des Krieges das Thema Klassenkampf nicht behandeln werde.

Was ist hierzu zu sagen? — Nichts als dies, dass man dann aber auch ehrlich und konsequent eingestehen soll, dass man früher Falsches gelehrt, und dass die Sozialdemokratie abgedankt hat. Nichts als dies, dass eine Sache von vornherein verloren ist, sobald ihre Anhänger sich scheuen, Opfer für sie zu tragen. Es bedeutet den vollständigen Bankrott der Sozialdemokratie, dass im Momente der Gefahr die Frage überhaupt auftauchen konnte, ob wir uns, unsere Organisationen, unsere Kassen, unsere Existenzen, wenn es Not tut, dem Ideal aufzuopfern haben! Noch ist keine Sache groß geworden ohne Opfer. Wo wäre das Christentum, wo das Vaterland, ja, wie wäre der Sozialismus je zu seiner heutigen Größe angewachsen, wenn sich nicht Tausende und Zehntausende dafür geopfert hätten! Doch auch hierüber ist auf dem Baseler Kongress — und wiederum unter jubelnder Zustimmung sämtlicher Delegierten — das Notwendige gesagt worden. Wir brauchen nur zu zitieren.

Jene Rede, die Jean Jaures im Auftrage des Internationalen Bureaus hielt, schloss er mit den Worten (S. 27):

„Nicht nur leichthin gesprochen, nein, aus dem Tiefsten unseres Wesens erklären wir: wir sind zu allen Opfern bereit.“ (Große Bewegung und lang anhaltender stürmischer Beifall.)

Und aus Klara Zetkins Rede, die, von lebhaftem Beifall empfangen, im Namen der sozialistischen Frauen aller Länder sprach, seien folgende Sätze in Erinnerung gebracht:

(S. 35.) „Uns (den sozialistischen Frauen und Müttern) ist die Stärke zu Opfern gekommen, die viel schwerer fallen, als die Hingabe unseres eigenen Blutes. Darum können wir die Unserigen kämpfen und fallen sehen, wenn es die Sache der Freiheit gilt. Für diesen Kampf wollen wir dafür sorgen, dass die Frauen der Massen erfüllt werden von dem Geist jener sagenhaften antiken Mütter, die ihren Söhnen den Schild reichten mit den Worten: entweder mit ihm oder auf ihm! [3] Unsere brennende Sorge soll eine geistige Entwicklung des heranwachsenden Geschlechts sein, die unsere Söhne davor bewahrt, zum Brudermord für kapitalistische und dynastische Interessen, für die kulturwidrigen Zwecke des Profits, der Herrschsucht, des Ehrgeizes einer Minderheit gezwungen zu werden, die sie aber gleichzeitig stark und reif macht, in freiem, zielbewusstem Wollen ihre ganze Existenz im Freiheitskampfe einzusetzen.“

„Stürmischer Beifall“ verzeichnet hier wieder der Bericht. Als aber im August 1914 die große Stunde schlug, da entschied für die Reichstagsfraktion, den Parteivorstand und den größten Teil der Parteipresse — nicht für Klara Zetkin, wie eingeschaltet sein mag, um Irrtümern vorzubeugen — die Rücksicht auf 20 Millionen Mark Kapitalanlage in den Parteigeschäften.

Aber nein doch! Nicht die Rücksicht auf den schnöden Mammon war es, sondern die Sorge um die Erhaltung der Organisationen, die später, nach dem Kriege, wieder den Freiheitskampf in alter Weise aufnehmen sollen!

In alter Weise? Ebenso wie im August 1914?

„Ich flieh, um öfter noch zu streiten,
Rief Fix, der Kern von tapferen Leuten.
Das hieß (so übersetz ich ihn):
Ich flieh, um öfter noch zu flieh’n!“

So hat Lessing das schon vor rund 150 Jahren im Voraus gekennzeichnet. Wozu inzwischen, bis der spätere Freiheitskampf kommt, die sozialdemokratischen Organisationen gedient haben, das finden wir mit Klarheit von dem konservativen Professor Hans Delbrück angegeben. Er schreibt in seinen Preußischen Jahrbüchern (September 1914, S. 562 bis 563):

„Wie weggeblasen war (von der deutschen Sozialdemokratie am 4. August) der ganze Schwulst der staatsfeindlichen Redensarten; der internationale Proletarier erwies sich als eine bloße Kampfesmaske; mit einem Ruck war sie heruntergerissen, und es erschien das ehrliche Gesicht des deutschen Arbeiters, der nichts anderes begehrt, als an der Seite seiner Volksgenossen, wenn das Vaterland ruft, zu streiten ...

... Es genügt nicht, den Sozialdemokraten zu danken, dass sie ihr Parteiprogramm in die Ecke gestellt haben und unter der nationalen Fahne mitmarschieren, sondern man muss sich auch klar machen, welches Verdienst sie sich direkt durch ihre Organisationen erworben haben. Stellen wir uns vor, wir hätten diese großen Arbeitervereinigungen nicht, sondern diese Millionen ständen dem Staat nur als Individuen gegenüber, so ist es doch sehr wahrscheinlich, dass sich sehr viele unter ihnen finden würden, die, nicht von der allgemeinen Bewegung ergriffen, der Einberufung zur Armee passiven oder auch aktiven Widerstand entgegengesetzt hätten. Vor 1870 haben die Mobilmachungen an nicht wenigen Orten oft nur mit Gewalt durchgesetzt werden können. Das ist sogar hier und da 1813 vorgekommen: diesmal hat sich auch nicht das Geringste dergleichen ereignet. Das macht heute ist in Deutschland sozusagen jedermann organisiert und folgt seiner Organisation. Indem diese gesellschaftlichen Kräfte mit der staatlichen Autorität zusammenwirkten, bildete sich erst jene ungeheure Kraft, die wir in dieser Mobilmachung vor unseren Augen sich haben entfalten sehen.“



7. Sozialdemokratie und Patriotismus.

Aber — sagt die Erklärung der Fraktion vom 4. August — wir machen ja nur wahr, was wir immer betont haben. Haben wir je den Vorwurf der Vaterlandslosigkeit auf uns sitzen lassen? Haben wir nicht stets beteuert, dass wir mindestens ebenso gute Patrioten sind, wie die bürgerlichen Parteien?

In der Tat, das haben wir getan. Nur haben wir dabei stets einen sorglichen Unterschied gemacht zwischen unserem Patriotismus und dem des Kapitals. Im Jahre 1907 erschien eine Schrift von Karl Kautsky über Patriotismus und Sozialdemokratie, die auch heute noch sehr lesenswert ist. Wir lesen darin auf S. 9 bis 10:

„Wie jede Klasse, setzt auch die Kapitalistenklasse ihre Interessen gleich denen der gesamten Nation. Ihr Interesse beruht aber auf dem Mehrwert. Je größer der Mehrwert der Kapitalisten einer Nation, desto mehr gedeiht — ihrer Ansicht nach — die Nation selbst. Patriotismus bedeutet für sie die Verfechtung der Interessen des Mehrwerts, den die Ausbeuter der eigenen Nation einstecken.“

Es war wohl nicht ganz derselbe Patriotismus, den die Sozialdemokratie für sich in Anspruch nahm. — Und weiter schreibt Kautsky (an derselben Stelle) :

„Der Mehrwert, das heißt Profit, Zins, Grundrente steigt aber um so höher, je geringer die Löhne, je länger die Arbeitszeit, je mehr teure und widerstandsfähige durch billige und willige Arbeitskräfte, Frauen, Kinder und rückständige Ausländer, ersetzt werden. Die Verelendung der Masse des Volkes ... die körperliche und geistige Herabdrückung der Masse des Volkes ist nicht immer das Ergebnis, stets aber das Ziel des Strebens der Kapitalistenklasse. Die Nation dem Verkommen zu überliefern, das gehört zum Patriotismus der Kapitalistenklasse.“

War es dieser Patriotismus, den wir meinten? — Sodann schildert Kautsky, wie das Streben nach Steigerung des Mehrwerts die Kapitalisten zur Expansion über die Grenzen des eigenen Landes, zur Weltmarkt- und Weltmachtpolitik führt, wie hierbei die Kapitalisten der verschiedenen Nationen feindlich aufeinander stoßen und wie dann ihr Patriotismus auf seinen Gipfel steigt:

(S. 11:) „Dieser Patriotismus bedeutet für sie nicht Hingabe an das Vaterland, das Opfern von Gut und Blut für das Vaterland, sondern die Ausbeutung des Vaterlandes, das Gut und Blut seiner Volksmassen einsetzen soll, um den Profit seiner Kapitalisten im Ausland zu schützen. Das Vaterland ist nicht für das Volk da, sondern die Volksmassen sind für das Vaterland da, dieses aber ist für die großen Ausbeuter da: das ist die Quintessenz des kapitalistischen Patriotismus.“

War es wirklich dieser Patriotismus, den die Sozialdemokratie meinte, wenn sie früher sich patriotisch nannte? — Und immer noch deutlicher wird Kautsky. Auf S. 11 spricht er davon, wie die Volksmasse gezwungen wird,

„ihre ohnehin schon dürftige Existenz noch mehr einzuschränken, um die Kosten einer ungeheuren Wehrmacht zu bezahlen, die angeblich der Verteidigung des Vaterlandes dienen soll, unter den heutigen Verhältnissen tatsächlich nichts anderem dient, als der Verteidigung. des Profits“,

um dann auf S. 12 zu sagen:

„Daher bedeutet der kapitalistische Patriotismus nicht bloß eine wachsende Verschärfung der Gegensätze der Nationen, ein Wachstum der Gefahr eines Weltkriegs ... er bedeutet auch immer mehr das Hinarbeiten auf den Ruin der eigenen Nation.“

Dies war — nach Angabe der Sozialdemokraten — der Patriotismus ihrer Gegner. Welches war ihr eigener? Das hat gar schön einer von denen ausgedrückt, die heute mit am lautesten für Kriegsbegeisterung schwärmen.

Als am 4. August 1914 der Reichskanzler seine patriotische Rede hielt, da wurde er von brausenden Beifallsrufen und Händeklatschen vieler Abgeordneten begleitet. Einer der eifrigsten darunter war der Sozialdemokrat Eduard David. Dieser selbe Eduard David hat am 4. 1907 im Reichstage folgende Worte über den sozialdemokratischen Patriotismus gesprochen:

„Vaterlandsliebe, das ist für uns: tatkräftiges Eintreten für die Hebung der Volksmassen, und zwar von unten herauf. Dadurch hebt man das Ganze; nicht dadurch, dass man die Reichen noch reicher macht und die Untenstehenden noch tiefer sinken lässt. Unsere zweite nationale Forderung ist, dass unser Volk zur Kultur geführt werde. Wenn Sie uns antinational nennen, dann frage ich: wer hat Ihnen den Patriotismus in Alleinpacht gegeben? Die Sozialdemokratie hat für die Wohlfahrt und die Ehre des deutschen Vaterlandes mehr geleistet, als die Parteien der Rechten. Also wir verlangen als erste nationale Forderung: materielle Hebung der breiten Massen des Volkes in Stand und Land, von unten auf. Das ist der Leitstern unserer nationalen Wirtschaftspolitik, das ist unsere Heimatpolitik. Und die zweite nationale Forderung lautet: Bildung für das ganze Volk. Wer kennt denn im Volke unsere nationalen Denker und Dichter? Wer kann sie lesen, wer hat die Zeit dazu? Sind die großen Schöpfungen unserer Wissenschaft, unserer Kunst eingedrungen ins Volk? Nein, sie sind heute nur ein Besitztum einer kleinen privilegierten Klasse. 90 Proz. des Volkes sind davon ausgeschlossen. Darum fordern wir Bildung für alle! Und der dritte, ebenso wichtige Punkt der nationalen Wohlfahrt und auch für unser Ansehen nach außen ist die Forderung der Mündigkeit unseres Volkes. Es ist für die Nation der Dichter und Denker ein beschämender Zustand, dass das Volk über seine Geschicke nichts zu sagen hat. Wir verlangen die volle Mitbestimmung des Volkes, ein demokratisches System, wo der Wille des Volkes und kein anderer oberstes Gesetz ist. Dieses unser nationales Programm halte ich für größer und schöner als das Ihrige.“

Sehr treffend wurde auch von einem Anonymus 1908 das in Worte gekleidet, was die Sozialdemokratie damals unter Patriotismus verstand. V. E. Teranus schrieb in seinem Buche Hurraschreier (S. 178):

„In gewissem Sinne haben wir auch Patriotismus: wir lieben unsere heimische Kultur, die heimische Sprache, die Schätze unserer heimischen Literatur, und wir werden sie um so mehr lieben, je mehr uns die geistige Kultur erschlossen wird ... Der offizielle Patriotismus ist ein politisch-kriegerischer und stützt sich auf nationalen Dünkel und chauvinistische Überhebung und auf die Verachtung fremder Nationalitäten. Sein Gegenstand ist die zufällige jedesmalige staatsrechtliche Einheit. Solch ein Patriotismus erscheint uns unsinnig und lächerlich. So haben wir z. B. heute einen deutschen Reichspatriotismus, während wir vor 1870 nur einen preußischen, bayerischen, sächsischen und noch ungefähr einige andere 30 Patriotismusse kannten ... Diesen lächerlichen Patriotismus, der von heute auf morgen seinen Gegenstand wechselt, und heute verdammt, was ihm gestern heilig war, machen wir nicht mit ...

... Einen Patriotismus, der andere Völker mit Krieg überziehen will, um sie eines Teiles ihres Landes oder ihres Kolonialbesitzes gewalttätig zu berauben, einen solchen Patriotismus verachten wir, erklären wir für Barbarei...

... Für uns ist der wahre Patriot der, der auch seinen ärmsten Volksgenossen an dem wirtschaftlichen Aufschwung und der steigenden Kultur teilnehmen lassen will, der dahin strebt, dass auch dem Niedrigstgeborenen sein Menschenrecht, sein Recht auf Genuss und Glück zuteil wird.“



8. Nation und Klasse.

Mit einem Wort, bis zum 4. August.1914 kannte die deutsche Sozialdemokratie — ihren Worten und ihren Werken nach — nur einen Feind der eigenen Nation: nämlich die Verelendung und Ausbeutung der Volksmassen, die verursacht sei durch die kapitalistische Produktionsweise. Deshalb, so lehrte sie bis zum 4. August, gelte es, einzig und allein die kapitalistische Produktionsweise zu bekämpfen, und hierzu sei das internationale Zusammenwirken der Proletarier aller kapitalistischen Staaten unerlässlich. Wer demgegenüber verkündete, dass zuerst und vor allen Dingen alle Angehörigen derselben Nation zusammengehören, dass also die deutschen Arbeiter mit den deutschen Kapitalisten durch ein stärkeres Band vereinigt seien, als mit den Arbeitern der anderen Länder — der wurde von der deutschen Sozialdemokratie so halb und halb als ein Schwindler hingestellt, der die deutschen Arbeiter über ihre wahren Interessen zu täuschen sucht, um sie als Vorspann für die Interessen ihrer Feinde, der deutschen Kapitalisten, zu benutzen. Hören wir wieder Karl Kautsky.

In seiner Broschüre Patriotismus und Sozialdemokratie sagt er (S. 8), dass

„das Aufsteigen und Erstarken des Proletariats jeder Nation aufs engste verknüpft ist mit dem Aufsteigen der Proletarier der anderen Nationen ... Auch die kleinbürgerliche Demokratie hat den Wunsch nach allgemeiner Friedfertigkeit, aber bloß das Proletariat empfindet das Bedürfnis nach innigem Zusammenwirken aller Nationen zu gemeinsamem Wohlstande, gemeinsamer Kultur. Und bloß das Proletariat empfindet die daraus hervorgehende Pflicht, den Unterdrückten und Ausgebeuteten jeder Nation in ihrem Kampfe gegen Unterdrückung und Ausbeutung hilfreich zur Seite zu stehen. Diese Pflicht empfindet es selbst dort, wo die Unterdrücker und Ausbeuter der eigenen, Nation angehören und ihre Opfer einer fremden. Mit den letzteren fühlt es sich aufs engste verbunden, den ersteren steht es feindselig gegenüber.“

Und weiter auf S. 12:

„Das Kleinbürgertum ... mag sich durch die patriotische Phrase darüber täuschen lassen, als wären es nicht die eigenen Kapitalisten, sondern die fremden Nationen, die das Volk bedrohten. Das Klassenbewusste Proletariat weiß, was es von dieser Art Patriotismus zu halten hat, dass sie in unversöhnlichem Gegensatz steht zu seinem eigenen Patriotismus der Sicherung von Wohlstand und Kultur für die gesamte Volksmasse; einer Sicherung, die erreicht werden soll nicht durch Förderung des Profits und des Militarismus, nicht durch Entfesselung von Kolonialkriegen und Vorbereitung von Weltkriegen, sondern durch die Bekämpfung des Kapitals, des Militarismus, der Expansionspolitik im Klassenkampf des durch die internationale Solidarität aufs engste verbundenen Proletariats.“

Gegensätze zwischen den Nationen — so lehrte die deutsche Sozialdemokratie bis zum 4. August 1914 — seien nur Gegensätze zwischen ihren Kapitalisten. Diese aber verfügen über die Staatsmacht und benutzen sie, um die Arbeiter zu schwersten Opfern für den Profit zu zwingen, unter dem Vorwande, dass es fürs Vaterland geschehe. Karl Kautsky schreibt (S. 18):

„Da die Kapitalistenklasse über die Staatsmacht verfügt, nützt sie diese aus, sich die Volksmasse ... auch noch als Steuerzahler zinsbar zu machen. Fast in allen Ländern sucht sie das Staatsgebiet durch Zölle vom Ausland abzuschließen, Zölle, die angeblich Industrie und Landwirtschaft vor dem Wettbewerb des Auslandes schützen sollen, die aber nichts anderes bezwecken als eine künstliche Erhöhung der Profite und Grundrenten. Indes begnügen sich die Kapitalisten nicht mit dieser Art Staatshilfe, sie streben in fast allen Großstaaten auch noch danach, dass der Staat in überseeischen Ländern auf eigene Kosten und Gefahr sie neue Ausbeutungsgebiete erobere und so die Möglichkeit neuer und hoher Profite für sie vergrößere. Diese Politik bedeutet aber nichts anderes, als die Verschärfung der Gegensätze zwischen den Staaten, die Vermehrung der Lasten und Gefahren, die den Völkern daraus erwachsen — einzig um der Vermehrung des Profits willen.“

(S. 19/20:) „Auch wenn diese Situation nicht zum Kriege führt, so führt sie doch zu vermehrter Kriegbereitschaft, zu einer enormen Vermehrung der Militärlasten, da zu dem Wettrüsten zu Land nun ein Wettrüsten zur See getreten ist, das ein immer rasender werdende Tempo einschlägt. Sie führt dazu, dass die Völker Europas immer mehr ausgepowert werden, die Staaten alle finanzielle Kraft zu sozialen Reformen und Kulturwerken verlieren, die Verelendung immer weitere Volksschichten bedroht. Und das alles um keines anderen Zieles willen, als der Vermehrung des Profits ... Einzig und allein die Profitgier des Kapitals, sein unablässiges Ausdehnungsstreben bringt die jetzige Lage voll Lasten und Gefahren herbei.“

(S. 20:) „Der Gegensatz, der heute die auswärtigen Verhältnisse der Großmächte beherrscht ... ist nur der Gegensatz zwischen dem Profithunger der Kapitalistenklassen der verschiedenen Nationen.“

(S. 23:) „Wir haben gesehen, dass der heutige Militarismus auch nicht im Entferntesten mehr der Verfechtung wichtiger Volksinteressen, sondern nur der Verfechtung des Profits gilt; nicht der Sicherstellung der Unabhängigkeit und Unverletztheit des eigenen Volkstums, das niemand bedroht, sondern nur der Sicherstellung und Erweiterung, der überseeischen Eroberungen, die bloß der Förderung des kapitalistischen Profits dienen. Die heutigen Gegensätze der Staaten können keinen Krieg mehr bringen, dem der proletarische Patriotismus nicht aufs Entschiedenste zu widerstreben hätte.“



9. Zusammenfassung.

Kurz zusammengefasst, war also die Lehre der deutschen Sozialdemokratie bis zum 4. August 1914 die folgende:

Um seinen Profit zu sichern und zu steigern, benutzt das Kapital die Staatsmacht zur Erwerbung von Kolonien sowie zur wirtschaftlichen Unterjochung solcher Länder, wie die Türkei, Persien, China, die bisher der kapitalistischen Ausbeutung noch nicht erschlossen waren. Da hierbei feindliche Zusammenstöße mit dem Kapital anderer Länder vorauszusehen waren, so benutzte das Kapital außerdem die Staatsmacht zu kolossalen militärischen Rüstungen zu Lande, zu Wasser und neuerdings auch in der Luft. Damit das Proletariat die ungeheuren Lasten, die ihm dies auferlegt, geduldig trage, werde ihm fälschlicherweise erzählt, dies alles geschehe im Interesse des Vaterlandes, geschehe im Interesse des Proletariats selbst. Auf diese Weise muss früher oder später die Zeit kommen, wo der eine oder der andere Staat die fortgesetzten Rüstungen nicht mehr aushält. Dann wird entweder er selbst auf den günstigen Moment des Losschlagens lauern, oder die anderen werden — in der sicheren Voraussicht, sonst in Nachteil zu geraten — über ihn herfallen, und das entsetzliche Morden zwischen Millionen geht los; der Weltkrieg ist da.

So die deutsche Sozialdemokratie bis zum 4. August 1914. Seit diesem Tage sagt sie das Gegenteil, und — was wichtiger ist — seit diesem Tage handelt sie im Gegensatz zu ihrer früheren Lehre. Sie verkündet den deutschen Arbeitern, dass es jetzt keine Parteien mehr gibt; dass sie ihren Streit mit den deutschen Kapitalisten bis nach dem Kriege zurückstellen müssen; dass sie mit Begeisterung; in den Kampf für das gemeinsame Vaterland ziehen müssen; ja, manche sozialdemokratischen Blätter verkünden sogar, dass die Arbeiter noch mehr als die Kapitalisten auf den Sieg der deutschen Waffen angewiesen sind.

Offenbar kann nur eins von beiden richtig sein: entweder hat die deutsche Sozialdemokratie vor dem 4. August recht gehabt, oder nach dem 4. August.

Was sie vor dem 4. August verkündete, war die Lehre des Sozialismus. Ist diese Lehre richtig, dann ist die deutsche Sozialdemokratie an dem Tage, wo es ernst wurde, zu einer Schutztruppe des Kapitals geworden; dann sind diejenigen, die sie diesen Weg führten, genau so zu bewerten, wie ein Feldherr, der mit seiner Armee im Augenblick der Schlacht zum Feinde überläuft. Ist aber ihre jetzige Haltung richtig, dann ist der Sozialismus falsch. Dann ist nicht das deutsche Kapital der Feind, von dem allein (wie Kautsky 1907 sagte) dem deutschen Volke Gefahren drohen. Dann ist das deutsche Kapital vielmehr der Freund, von dem die deutschen Arbeiter vermittelst des Lohnes Nahrung, Kleidung, Obdach empfangen; dann sind die Feinde des deutschen Kapitals zugleich die Feinde der deutschen Arbeiter und kein Opfer kann zu groß sein, um sie abzuwehren.

Aber dann — und diese Konsequenz muss nun auch gezogen werden — dann ist alles, was die deutsche Sozialdemokratie fünfzig Jahre lang gelehrt und gearbeitet hat, falsch gewesen. Dann war es ein Verbrechen, auch nur eine einzige Militärvorlage abzulehnen, und dann hat der Reichsverband recht gehabt, als er die Sozialdemokratie deswegen vaterlandslos schalt. Eine reinliche Rechnung bitte ich mir aus, sagte Lassalle. Wenn das deutsche Kapital des deutschen Arbeiters Freund ist, dem er alles Gute verdankt, wie darf dann eine Partei, die des Arbeiters Interessen wahrnehmen will, das deutsche Kapital bekämpfen?

So bedeutet der 4. August 1914 die Abdankung der deutschen Sozialdemokratie.


Anmerkungen des Verfassers

1. Zu Dutzenden könnten die Publikationen aufgezählt werden, die das seit Jahren voraussahen. Hier sei nur verwiesen auf das Mitteilungsblatt der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins, das bereits am 11. Dezember 1912 schrieb:

„Hinter dem kleinen Serbien steht Russland. Versagt also die Rosstäuscherkunst der Diplomaten, geht der Wahnwitz der Herrschenden so weit, die Kriegsbestie zu entfesseln, dann tritt nach Herrn v. Bethmann Hollwegs Versicherung Deutschland mit „schimmernder Wehr“ an Österreichs Seite. Frankreich ist aber dank der Bündnispolitik der herrschenden Klassen Europas Russland zur Waffenhilfe verpflichtet, und auch England wird bei dem allgemeinen Kriegstanze nicht Mauerblümchen spielen wollen.“ So klar wusste man schon vor 2 Jahren, wie die Dinge sich entwickeln würden, sobald die österreichische Regierung an Serbien den Krieg erklärt.

2. Manche Kritiker des Sozialismus behaupten gern, hiermit sei nur die körperliche Arbeit gemeint. Das ist natürlich falsch. Einmal lässt sich eine strenge Grenze zwischen „körperlicher“ und „geistiger“ Arbeit überhaupt nicht ziehen; zu jeder Arbeit brauchen wir Körper und Geist. Sodann erzeugt jede Arbeit Wert, sofern sie nur nützlich und für die Gesellschaft notwendig ist.

3. Das bedeutet: entweder siegreich oder tot will ich dich wieder sehen. — In Sparta wurde der gefallene Krieger auf seinem Schild nach Hause gebracht.


Zuletzt aktualisieert am 12. März 2019