August Bebel

Aus meinem Leben

Zweiter Teil


Vom Vereinigungskongreß zu Gotha bis zum Vorabend des Sozialistengesetzes

Die Reichstagswahl von 1878


Wieder nach Hause gekommen, stürzte ich mich in die Wahlagitation. Bismarck, der es auch hier wieder verstand, das Eisen zu rechter Zeit zu schmieden, und den die Attentate aus allerlei inneren Wirrnissen befreit hatten, hatte im Bundesrat den Antrag auf Auflösung des Reichstags gestellt, dem der Bundesrat am 12. Juni Folge leistete. Die Wahlen wurden auf den 30. Juli 1878 angesetzt.

Wenn es Bismarck nur um ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie zu tun gewesen wäre, so hätte er dieses auch ohne Auflösung des Reichstags bekommen. Nach dem Nobilingattentat versicherte die gesamte nationalliberale Presse und bei den verschiedensten Gelegenheiten auch die Abgeordneten der Partei, daß sie jetzt bereit seien, ein scharfes Ausnahmegesetz gegen uns zu bewilligen.

Damit war aber Bismarck allein nicht mehr gedient. Er war entschlossen, die Macht der Nationalliberalen zu brechen; ihren Ansprüchen, erklärte er, könne keine Regierung gerecht werden. Und wie bescheiden waren diese Ansprüche doch immer gewesen. Er veranlaßte die Veröffentlichung einer förmlichen Programmerklärung, in der er mit der herrschenden, angeblich dem Freihandel dienenden Wirtschaftsordnung vollständig brach. Das bisherige Vorherrschen von Juristen, Beamten und Gelehrten, von Leuten ohne produktive Beschäftigung hätten dem Parlament eine unpraktische Richtung gegeben. Der Parteihaß, der Machtstreit der Fraktionen, der Ehrgeiz ihrer Führer veranlasse, daß die Zeit mit oratorischen Schaustellungen vergeudet werde. Die Mehrzahl habe keinen produktiven Beruf, sie treibe weder ein Gewerbe noch Handel, weder Industrie noch Landwirtschaft. Die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen läge in den Händen solcher, die von Gehalt, Honorar, von Diäten (die damals der Reichstag noch nicht erhielt. A.B.), vom Preßgewerbe oder von zinstragenden Papieren lebe. Usw.

Die Philippika ließ an Deutlichkeit, aber auch an Grobheit nichts zu wünschen übrig. Die Beamten, die den Wahlkampf beeinflussen konnten, wußten nun, woran sie waren, und handelten danach.

Der Wahlkampf entbrannte mit einer bisher nicht gekannten Heftigkeit. Die Bismarcksche Wahlparole verhinderte nicht, daß alle bürgerlichen Parteien den Kampf gegen uns als ihre vornehmste Pflicht ansahen. „Die Sozialdemokratie muß aus dem Reichstag hinaus. Kein Sozialdemokrat darf mehr gewählt werden“, wurde die Losung auch in der fortschrittlichen Presse. Und obgleich für jeden sichtbar war, was Bismarck im Schilde führte, und er nicht bloß unsere Vernichtung, sondern auch die Schwächung der Liberalen erstrebte, brachte es der Führer der Fortschrittspartei, Eugen Richter, fertig, als im Erfurter Wahlkreis der sozialdemokratische mit dem konservativen Kandidaten in engerer Wahl stand, seinen Parteigenossen die Wahlparole zu telegraphieren: Lieber Lucius (konservativ) als Kapell (der Sozialdemokrat). Sein Haß gegen uns machte ihn gegen die selbstverständlichsten Regeln der Wahltaktik blind, denn der Sozialdemokrat war so gut wie die Liberalen Gegner der Bismarckschen Wirtschaftspolitik, und der Zukunftsstaat stand nicht in Frage.

Ich kandidierte wieder in Dresden und in Leipzig. Mir gegenüber standen in Dresden der Freiherr v. Friesen, Minister a.D., und ein fortschrittlicher Kandidat. Ich erhielt im ersten Wahlgang 9.855, v. Friesen 7.266, Walther (Fortschrittler) 5.410 Stimmen. Es kam zur engeren Wahl zwischen mir und v. Friesen, die der Wahlkommissär auf den 9. August, an welchem v. Friesen seinen siebzigsten Geburtstag feierte, ansetzte. Offenbar rechnete man mit meiner sicheren Niederlage. Aber ich siegte, und zwar mit 11.616 über 10.702 Stimmen. In Leipzig erhielt ich 5.822 Stimmen, 600 mehr als bei der vorhergehenden Wahl. Außer mir waren schließlich von der Partei gewählt: Bracke-Glauchau-Meerane, Fritzsche-Berlin, Hasselmann-Barmen-Elberfeld, Kayser-Öderan-Freiberg (Sachsen), Liebknecht-Stollberg-Lugau, Reinders-Breslau, Vahlteich-Mittweida-Limbach, Wiemer-Annaberg-Zschopau (Sachsen). Also neun Abgeordnete, von denen nur zwei, Bracke und Liebknecht, in der Hauptwahl gewählt worden waren.

Mit dem Hinauswurf der Sozialdemokratie aus dem Reichstag war es also nichts. Aber auch in bezug auf die Stimmenzahl schnitten wir günstiger ab, als wir nach der furchtbaren Hetze gegen uns hoffen durften, denn in einer Anzahl Wahlkreise war der gegnerische Terrorismus so stark, daß wir keine Agitation betreiben konnten. Es wurden bei der Hauptwahl für die Partei 437.158 Stimmen abgegeben, gegen 493.447 bei der Wahl im Januar 1877. Das war ein Verlust von 56.389 Stimmen und drei Mandaten. Die Gegner waren sehr unzufrieden mit diesem Resultat.

Das Gesamtresultat der Wahlen war, wie vorauszusehen, ein Sieg Bismarcks. Die Nationalliberalen sanken von 137 auf 106 Mandate, die Fortschrittspartei von 39 auf 26. Die Konservativen hatten ihre Mandate entsprechend vermehrt, das Zentrum erhielt ebenfalls einige Mandate mehr.

Bismarck hatte jetzt für seine Politik zwei Mehrheiten zur Verfügung. Eine nationalliberal-konservative Mehrheit für ein Ausnahmegesetz gegen uns und eine Mehrheit aus Konservativen und Zentrum, der sich der rechte Flügel der Nationalliberalen anschloß, für seine Zollpolitik. Die neue Ära mit der politischen Entrechtung der klassenbewußten Arbeiter und der Belastung der Massen durch die Zollpolitik konnte nunmehr in Szene gesetzt werden. Der neue Reichstag wurde zur Beschlußfassung über das Sozialistengesetz auf den 9. September nach Berlin berufen.

Das Spiel konnte seinen Anfang nehmen. Es sollte eine Tragödie werden, in der die Sozialdemokratie für die monarchisch-kapitalistischen Interessen als Opferstier bestimmt war, um den todsicheren Keulenschlag zu erhalten. Aber es kam auch diesmal, wie so oft schon, anders. Der Herkules, der uns mit seiner Keule erschlagen sollte, fiel selbst nach zwölf Jahren eines für ihn ruhmlosen Kampfes mit dem verhaßten Gegner und deckte mit seiner Leiche das Blachfeld.



Zuletzt aktualisiert am 20.7.2007